Zum Prozeß Klein
Mai 1905
Und siehe, der Mangel an Beweisen dafür, daß Frau Klein gemordet hat, ward reichlich wettgemacht durch den Überfluß an Beweisen für ihren unsittlichen Lebenswandel. Auch daß eine Frau »Hang zur Lüge« betätigt, scheint in der Wiener Kriminalistik noch immer als ein den Mordverdacht bestärkendes Moment zu gelten. Wie sollte man aber eine Sensationsverhandlung über einen Raubmord, dessen Arrangement das Geheimnis der beiden Beschuldigten ist, durch vier Tage hinausziehen, wenn man den Zuschauern die Zeit nicht mit pikanten Illustrationen des Vorlebens der angeklagten Frau vertreiben könnte, und des Privatlebens von Zeugen, die Vorjahren einmal, ohne Rücksicht auf die spätere Ermordung des Herrn Sikora, mit ihr geschlechtlichen Verkehr gepflogen hatten? Man muß es nur wissen, es ist ein Mordprozeß, über den der Vertreter des größten Blattes wie folgt berichten kann: »Eine hübsche, für einen Zeugen unbequeme Episode amüsierte heute einigermaßen das Publikum. Da hatte vor einigen Jahren ein Privatier, während seine Frau auf dem Lande lebte, mit der damaligen ›Ilonka‹ einige angenehme Stunden verlebt. Nur einige Stunden. Dann hatte er ihrer ganz vergessen. Allein sie vergaß seiner nicht. Als Franziska Klein schickte sie ihm einen pneumatischen Brief mit der zärtlichen Bitte, sie zu besuchen. Dieses Billett ignorierte er allerdings. Aufweiche Weise mochte wohl die Behörde hievon Kenntnis erlangt haben? Genug, er mußte in diesem Sensationsprozeß vor Gericht erscheinen, um als Illustrationszeuge für das Bedürfnis der Frau Klein nach Liebhabern und Geld zu fungieren. Obwohl er vor der Zeugenbarre einen viel günstigeren Platz hatte, als die hunderte von Zuhörern, die ihre Eintrittskarten nur mühsam erlangen konnten, mochte ihm doch der Boden unter den Füßen heiß sein. Sein Erinnerungsvermögen war geschwunden; er kannte Frau Klein nicht und wußte auch von ihrem pneumatischen Billett nichts mehr. Es war ihm nicht unlieb, daß er sehr bald den Saal verlassen durfte«. Herr Pollak, der Staatsanwalt, fand solche Feststellungen nicht unwichtig. Sie fundierten den Kernsatz seines Plaidoyers, in dem er die Meinung aussprach, diese Mörderin sei »ebenso verkommen wie die Dirne, die auf der Straße dem ersten Besten gegen einen Schandlohn sich hingibt«. Schade, daß es auf der Stufenleiter weiblicher Verkommenheit keine so fest markierten Rangsklassen gibt wie auf der Stufenleiter männlicher Strebsamkeit. Es ist das Los der Frauen zu »fallen«, und das Los der Staatsanwälte, Karriere zu machen. Da aber die individuellen Werte nicht von den sozialen bedingt sind, könnte ich mir den Fall ganz gut denken, daß eine »Dirne« für ihren »Schandlohn« mehr leistet als für seinen Gehalt ein Staatsanwalt, der nicht imstande ist, die Fäden eines verbrecherischen Planes zu entwirren, und der die Lücken seiner kriminalistischen Einsicht mit sittlicher Entrüstung verstopfen muß.
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Daß unsere Preßleute trockenen Fußes durch das rote Meer dieses Blutprozesses hindurchkommen würden, war nicht zu erwarten. Aber die Art, wie zum Bespiel das ›Extrablatt‹ seine Leser verwöhnte, ist doch verblüffend. Gleich am ersten Tage des Prozesses ein Extra-Extrablatt! Wahrlich, die Raubmörder der Zukunft haben es besser als die früherer Generationen. Die Anleitungen werden ihnen mit einer Promptheit ins Haus geliefert, die mit dem schwerfälligen Apparat der alten Publizistik nicht zu erzielen war. Herr Wilhelm Singer wieder, in dessen Hand bekanntlich die Würde der Presse gegeben ist, bringt die Absätze des Kriminalromans unter den folgenden Spitzmarken: »Wie sie ihn erwürgte; Wie sie ihm die Beine abhackte; Die Hände des Herrn Klein; Die Armmuskeln des Herrn Klein; Der blutige Sack; Die leuchtenden Augen; Die Toilette am Morgen des 4. Oktober; Die Ruhe der Sphinx; Der Herr in Hemdärmeln; Die schreckliche Nacht; Die verräterische Wäsche; Die Entdeckung.« Und in dieser Fülle anschaulicher Darstellung hat man nicht vergessen, die Knöpfe an der Jacke des Fräuleins Navratil zu beschreiben.
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Schon im Dezember des vorigen Jahres hatte es Sensationen gegeben: Die »Auslieferung des Ehepaars Klein«, die »Reise des Ehepaars Klein« und die »Ankunft des Ehepaars Klein«. Feste des Wiener Kulturbewußtseins! So elastischen Schrittes kann kein Potentat einem Eisenbahnwaggon entsteigen, daß er in der Popularität bei Schmock und Spießer mit einem reisenden Mörder konkurrieren könnte. Herr Frischauer in Paris wußte, was man in Wien braucht, und so depeschierte er zehntausend Worte, um die Stimmung wiederzugeben, da »ein grauer, frischer Wintermorgen auf das Ehepaar Klein herniedersah«, das auf dem Pariser Ostbahnhof einwaggoniert wurde. »Frau Klein stieg, von dem Amtsdiener unterstützt, das Trittbrett hinab. Sie blieb einen Augenblick lang stehen, sah in die Straße hinauf, welche auf den Boulevard Sebastopol sehen läßt. Ihr Blick flog nach Paris. Sie sah die hohen Häuser hinauf, sie betrachtete die Kirche St. Laurent, deren herrliche Konturen sich am Firmament abzeichneten.« »Man konnte die Mörderin des alten Sykora genau betrachten. Sie trug eine nicht zu schwere und nicht zu warme dunkelfarbige Herbstjacke, um den Hals einen Pelzkragen, halb aus falschem Hermelin und halb aus einer Luterimitation, auf dem Kopfe einen licht aufgeputzten dunklen Filzhut, von welchem ein sehr leichter, hellgrauer Schleier herabfiel.« »Der Teint ist grünlich, man würde sagen olivengrün, wenn man ihr ein Kompliment machen wollte.« Nachbarin, — Sie wissen schon, was ich von Ihnen will. Würde das Geld, das diese Bande für die Toilettenbeschreibung von Mördern verdepeschiert, gemeinnützigen Zwecken zugewendet, manch einer würde nicht zum Mörder werden! »Frau Klein zeigte nicht die mindeste Verlegenheit. Unbefangen warf sie ihre Blicke um sich, und als sie die zwei Wiener Journalisten, welche trotz der frühen Morgenstunde auf den Bahnhof zu ihrer Abreise gekommen waren, sah, schien sie dieselben als Wiener zu erkennen.«
Ja, in der Fremde findet man sich! Herr Klein aber — auch dies muß der Telegraph verraten — »dankte den Wächtern mit einem ›Merci!‹«. Was Herr Frischauer, trotzdem er erst sechs Jahre in Paris wirkt, ganz gut verstanden hat. Zum Schluß, nachdem seine Phantasie dem Mörderpaar schon bis Buchs vorausgeeilt war, rasch noch ein wichtiger Nachtrag: »Der Klein trug einen dunklen Winterüberzieher und runden, steifen schwarzen Hut« ... Was sich dann bei der Ankunft in Wien begeben hat, die abgehärtetsten Leser des ›Extrablatts‹ und die gewiegtesten Kenner der Wichtigtuerei österreichischer Behörden haben es schaudernd erlebt. Und nun gar die Verhandlung!
Die Blätter, die in ihrem Leitartikel die Sensationslust der Zuschauer geißelten, bemühten sich in ihrer Gerichtssaalrubrik, jene ihrer Leser schadlos zu halten, die nicht das Glück gehabt hatten, der Verhandlung beizuwohnen. Das Tribunal wird zur Szene; das ist empörend. Aber die Heuchelei jener Empörten ist empörender, die über eine Gerichtsverhandlung Theaterreferate schreiben, alle Heiterkeitsausbrüche während eines Blutgerichts verzeichnen und die »u.a.« Anwesenden ganz so aufzählen, als wäre das Fest von der Fürstin Metternich veranstaltet worden. Angesichts der großen Revue sämtlicher Wiener Jours, die da am Saisonschluß im Schwurgerichtssaal abgehalten wurde, und weil sich das ekle Schauspiel in den Schiller-Tagen begab, könnte man gestimmt werden, die Mahnung: »Wahnsinn’ge Weiber, habt ihr kein Gefühl, daß ihr den Blick an diesem Schrecknis weidet!« anzuwenden. Aber vor weiblicher Neugier, die vergossenes Blut lorgnettiert, graut uns weniger, als vor journalistischer Sensationslust, die es auf Flaschen zieht.
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Die Frauen haben die Würde des Schwurgerichtssaals nicht zu wahren verstanden. Dafür haben sich die Geschworenen korporativ photographieren und das Bild im ›Extrablatt‹ erscheinen lassen.
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Was einem Schwerhörigen nicht alles durch ein Hörrohr mitgeteilt werden kann! »Frau Klein«, rief der Auskultant, »der Gerichtshof hat Sie zum Tode durch den Strang verurteilt!«
Vgl.: Die Fackel, Nr. 180-181, VII. Jahr
Wien, 6. Mai 1905.