Der Prozeß Odilon
Jänner 1907
Mag man sich sonst dagegen wehren, daß auch in geschlossenem Gerichtszimmer das Sexualleben einer Frau durchsucht werde, deren Geliebter wegen eines maulkorblosen Hundes angeklagt ist: das Interesse für das Privatleben einer wegen eines Gehirnleidens Entmündigten gehört zu den Befugnissen des Kurators, und in einem Prozeß, in dem er sich gegen den Vorwurfeiner Überschreitung seiner Befugnisse zu verteidigen hat, bedeutet der Wissensdrang der Justiz nicht jene erotische Neugier der alten Klatschbase, die das Schamgefühl eines Angeklagten oft so gröblich verletzt. Nicht die Stellung der Justiz zum sexuellen Tun und Lassen der Menschheit steht zur Diskussion, nicht einmal um die Frage handelt sich’s, ob das Privatleben der Frau Odilon mit Recht des behördlichen Schutzes teilhaftig wurde, sondern ausschließlich um die Untersuchung, ob ein Kurator seine Pflicht erfüllt oder verletzt hat. Die Pflichtverletzung wurde ihm von einer Presse zum Vorwurf gemacht, die die Anrüchigkeit ihrer Informationen erkennen mußte, und von einer, deren Dummheit zum »guten Glauben« verführt worden war, es handle sich um einen Kampf gegen jene »dunklen Mächte«, die im Fall Coburg ihre Hand im Spiele hatten, und gegen die Willfährigkeit einer Psychiatrie, die so oft der Habgier den wissenschaftlichen Vorwand liefert. In Wahrheit konnte kein untauglicheres Beispiel für die Untauglichkeit des Kuratelwesens aufgegriffen werden, als der Fall Odilon. Wie man mit der Fabel von dem berauschenden Vollweib der Bühne und des Lebens das Bild der interessanten Technikerin der Bühne und des Lebens übertreibend gefälscht hat, so hat man wieder in harmloseren Farben das klinische Bild gezeigt, das die Bedauernswerte allen jenen bietet, die sie nicht interviewen wollen, sich ihr nicht als Patrone aufdrängen und ihrem Reichtum nicht eine größere Freiheit als ihrer Person erkämpfen möchten. Bedauernswerter freilich ist eine öffentliche Kritik, die, vom Schlagwort gerührt, nur mehr Phrasen stammeln kann, und der Blödsinn einer Taktik, die sich auf die günstigen Zufalle des wechselvollen Befindens einer gehirnkranken Person wirft, ist in höherem Maße als diese selbst kuratelbedürftig. Vollends wenn sie mit einem Gutachten der Berliner Privatärzte renommiert, das jenen Wechsel für ein Symptom der Krankheit erklärt, indem es die günstige Wendung in der Beobachtungszeit zugibt. Und schwachsinniger als Frau Odilon ist eine publizistische Methode, die sich im Ernstfall auf die Informationen einer wegen Schwachsinns unter Kuratel gestellten Frau beruft. Wenn Frau Odilon einem Advokaten — beim besten Willen des Advokaten — keine Vollmacht ausstellen kann, so kann sie noch weniger strafgerichtlich verantwortlich sein, und darum weiß man nicht, ob Feigheit oder Dummheit im Spiele ist, wenn ein Interview voll der schwersten Anwürfe gegen den Kurator mit der Bemerkung geschlossen wird, daß der Kurandin »die Verantwortung für das Gesagte überlassen bleiben muß«.
Das publizistische Interesse an dem Fall Odilon durfte bis zur Frage an die Gesetzgeber gehen, ob die ungeheure Anspannung des behördlichen Apparates ausschließlich der Beruhigung zu dienen habe, daß eine Privatperson, der nicht die wirtschaftliche Sorge für andere obliegt, ihr Vermögen »zweckmäßig« verwende. Und ob die Willensschwäche einer kranken Frau in anderem Maße zu schützen sei, als die Willensschwäche der gesunden. Ob nicht jedes Weib des Kurators bedürftig wäre und ein künftiges Gesetz dieser Erkenntnis wenigstens so weit Rechnung tragen könnte, daß es mit dem Wahn der gleichen sozialen Verantwortlichkeit aufräumt. Wenn es aber noch immer begreiflich wäre, daß eine Kuratel das Genußrecht einer gesunden Frau wahrt, indem sie es vor Vergeudung schützt, so ist es eigentlich absurd, einer Kranken das letzte Recht zu nehmen, das Genußrecht der Vergeudung. Und der Staat spielt wie immer den unerwünschten Kiebitz, wenn er sich mit seinem Rat in das geheimnisvolle Spiel der Naturkräfte mischt; bringt unerbetene Opfer an Zeit, Kraft, Geld und Schreibpapier, wenn er nicht einsehen will, daß der solide Beschützer, den er einer Frau an die Seite gibt, ihr unter Umständen viel weniger passen mag als der Kurator ihrer Nervenwünsche, der sie ausbeutet.
Aber es wäre töricht, ein Vormundschaftsgericht dafür verantwortlich zu machen, daß die Menschheit in der Erkenntnis ihrer Naturnotwendigkeiten nicht weiter vorgeschritten ist. Und eine Presse, deren sexualpsychologisches Denken den Ansprüchen der Zeitgenossen nicht vorauseilt und deren Auffassung höchstens von vagen Freiheitsvorstellungen getrübt ist, hat nicht das Recht, einem höheren Prinzip zuliebe Unrecht zu tun. Dem Kurator der Frau Odilon ist durch den Vorwurf des Amtsmißbrauchs Unrecht getan worden; denn er war de lege lata verpflichtet, seine Obsorge schon von dem bloßen Verdacht einer unwirtschaftlichen Lebensführung bestimmen zu lassen, mag auch deren Beweis de lege ferenda den Staat nichts anzugehen haben. Und ihn dafür zu beschimpfen, daß das österreichische Gesetz die Befreiung von der Kuratel sich langsamer vollziehen läßt, als die Entmündigung, entsprach bloß jener advokatorischen Erpressertaktik, die die Lücken juristischen Wissens mit Druckerschwärze verpicht und dem Obersten Gerichtshof mit jenem allerobersten Gerichtshof droht, dessen Urteile im Namen Seiner Majestät des Skandals gefällt werden. Diese Taktik ist in dem Beleidigungsprozeß des Kurators mit schmerzhafter Klarheit enthüllt und in aller Ruhe sind die Vorwürfe, die mit den Gebärden eines heiligen Krieges für Recht und Wahrheit in die Welt gebrüllt wurden, in den Schreihals zurückgegeben worden, aus dem sie gekommen waren. Wieder einmal hatte sich jenes antikorruptionistische Temperament bewährt, das in der Korruption des Andern ein Hindernis für den eigenen Ehrgeiz erblickt. Die Vorstellung von dem Gewinn, den der Kurator mit unlauteren Mitteln erzielt haben sollte, wurde als eine übertriebene enthüllt: man hatte ihn nach der Größe des Verlustes beurteilt, den andere dadurch erlitten haben, daß die Kuratel über Frau Odilon schon vergeben war ...
Die Abwicklung dieses Gerichtsverfahrens brachte nur eine Überraschung: daß die Furcht vor der Presse doch wenigstens bei der unbedingten Überzeugung von Recht und Unrecht Halt macht. Daß die publizistische Bedrohung zwar manchmal ein geeignetes Mittel ist, um die Behörden von Schlechtigkeiten abzuhalten, aber nicht immer auch eines, um sie zur Duldung von Schlechtigkeiten zu zwingen. So viel Urteilsfähigkeit hat sich die arme Helene Odilon gewiß noch bewahrt, um heute die Verläßlichkeit des Schutzes zu erkennen, in den sie sich begeben hat, als sie die Interviewer herbeiwinkte, und um die peinlichste Erörterung ihres Nervenlebens, mit der sie die journalistische Hilfe bezahlen mußte, als zu hohen Preis zu empfinden. Und man muß leider der Frage, wozu ein solcher Prozeß nütze, auch eine andere schmerzliche Antwort widerfahren lassen: Zur Stärkung des Ansehens der Justiz! Zur Bekräftigung einer Lebensfeindlichkeit, die sich in künftigen Fällen wieder gegen eine gerechte Sache kehren wird. Aber ein Konservatismus, der das Glück aller raubt, ist ein würdigerer Feind als ein Liberalismus, der dem Glück der Räuber dient.
Vgl.: Die Fackel, Nr. 217, VIII. Jahr
Wien, 23. Jänner 1907.