Zum Hauptinhalt springen

Ein Unhold

März 1904

»Des Himmels Antlitz glüht, ja diese Feste,
Dies Weltgebäu, mit trauerndem Gesicht,
Als nahte sich der jüngste Tag, gedenkt
Trübsinnig dieser Tat ...«

Johann Feigl, Hofrat und Vizepräsident des Wiener Landesgerichts, hat als Vorsitzender einer Schwurgerichtsverhandlung am 10. März 1904 einen dreiundzwanzigjährigen Burschen, der in Not und Trunkenheit eine Frau auf der Ringstraße attackiert und ihr die Handtasche zu entreißen versucht hatte, zu lebenslänglichem schweren Kerker verurteilt.

Das Datum wird aus der Geschichte der österreichischen Rechtspflege, der märzgefallenen, nicht mehr verschwinden. Wenn wir die Reihe der Sünder im Talar passierten, die in nüchternem Zustand die leibhaftige Gerechtigkeit attackiert, vergewaltigt, geschändet haben, nur Einem konnten wir keinen Milderungsgrund zubilligen: Herrn Johann Feigl. Er ist der persönlichen Freiheit der Staatsbürger am gefährlichsten geworden, er, der einzige, der dem Wahnwitz jenes hundertjährigen Gesetzes buchstäblich gerecht ward. Die grauenvollsten Strafgebote hat man, da ein delirantes Parlament die gesetzgeberische Arbeit hindert, auf alle Art zu dämpfen gesucht. Oft gelang’s durch einen verzweifelten Freispruch der Geschwornen, der dem Freunde der Rechtssicherheit einen nicht gelindern Schrecken einflößte, als das Wüten des Paragraphenrichters, und auch dem liberalsten Verteidiger des Unfugs »Volksjustiz« zu denken gab. Aber hinter dem Berufsrichter steht jetzt eine von ihrer Modernität begeisterte Regierung und beschwört ihn in allwöchentlichen Erlässen und Festreden, nicht die Strafmaße des unmenschlichen Gesetzes, sondern die seines humanen Fühlens anzuwenden. Ach, man könnte, wenn man diesen Johann Feigl den Wunsch des Ministers in Tat umsetzen sieht, beinah sich zum Glauben bekehren, die alte List österreichischer Staatskunst sei auch hier am Werke und »Küsse auf den Lippen, Schwerter im Busen« der Wahlspruch modernster Justizpolitik. Und der Räuber Karl Moor handelt ethischer als die Heuchlerwelt, die ihn richten wird ...

Hat Herr v. Koerber den Mut, das Urteil vom 10. März ungesühnt zu lassen? Wird man aus plötzlichem Respekt vor einem Staatsgrundgesetz, aus einer neuen Rücksicht auf die richterliche Unabhängigkeit, Herrn Johann Feigl seine Attacken auf Menschengefühl und Gerechtigkeit weiter verüben lassen? Weg mit dem österreichischen »Justament nöt«! Weg mit dem törichten Beamtenhochmut, der sich entgegen aller bessern Einsicht nur deshalb sträubt, ein Übel zu beseitigen, weil dessen Beseitigung auch in ein paar »Druckschriften« verlangt wurde! Die Wiener Bevölkerung will Herrn Johann Feigl nicht, und wenn ihre Vertreter in Staat, Land und Gemeinde ihren Wünschen zu horchen verständen, dann würde jetzt in einer Sache, die hundertmal wichtiger ist als der ganze nationale Trödel, ein parlamentarisches Bombardement losgehen, dem die Justizverwaltung nicht lange trotzen dürfte. Nicht der Räuber von der Ringstraße, Herr Feigl werde unschädlich gemacht! Für jenen ein paar Monate Gefängnis, für diesen ein Zivilgericht — damit wäre der Gerechtigkeit Genüge geschehen, der Wiener Menschheit künftig ein Erstarren des Blutes erspart. Wenn man bedenkt, ein wie wertvolles Gefühl der Rechtssicherheit Millionen durch die Kaltstellung eines einzigen Hofrats wiedergegeben werden kann, dann muß man eigentlich staunen, daß eine auf populäre Wirkungen bedachte Regierung nicht öfter die Gelegenheit nützt. Der Papst hat der Unzufriedenheit des kleinen Klerus einen Fürsterzbischof geopfert: kann der österreichische Ministerpräsident auch nur einen Augenblick zögern, für weit ernstere und viel schwerer verletzte Interessen einzutreten? Wir haben es satt, dem Spiel mit Menschenleben und Menschenwürde länger zuzusehen. Und wenn wir ihm — gemäß dem neuesten Erlaß zur Hebung des Ansehens der Justiz — nicht mehr mit Opernguckern zusehen dürfen, so wollen wir es überhaupt nicht mehr sehen. Wir haben es satt, diesen Räuschen des Blutdurstes beizuwohnen, in die eine nüchterne Verhöhnung des Angeklagten am Schlüsse des Schauspiels verfällt. Wir haben das Walten einer Wiener Kriminalistik satt, die ihren Namen nicht vom »crimen«, sondern vom Kriminal ableitet, und die sich in selbstgefälligem Stumpfsinn als die Wissenschaft vom »Einspirrn« definiert. Wir haben Holzingers Ende nicht vergessen. Und wir ertragen an dürftigen Epigonen nicht, was uns an der stilvollen Persönlichkeit eines großzügigen Sünders entsetzt, nie abgestoßen hat. Holzinger war mehr als ein österreichischer Kerkermeister; jedes seiner Urteile schien eine Schuld der Menschheit zu rächen. Eigene Rache befriedigt, eigener Bosheit frönt Herr Johann Feigl. Ihn erfüllt bloß die Spielerfreude seiner Machtvollkommenheit, das widerliche Behagen an dem Mißverhältnis zwischen einem kleinen Menschen und einem großen Amt. Er ist ganz und gar Shakespeares »winz’ger Richter«, der mit Jovis Himmel donnern möchte, »nichts als donnern«, ganz der »in kurze Majestät gekleidete Mensch«, der, sein gläsern Element vergessend, »wie zorn’ge Affen spielt solchen Wahnsinn gaukelnd vor dem Himmel, daß Engel weinen, die, gelaunt wie wir, sich sterblich lachen würden«. Darum »weckt er die längst verjährten Strafgesetze, die gleich bestäubter Wehr im Winkel hingen«, darum höhnt er den Delinquenten, bevor sein Urteil die Gerechtigkeit höhnt ... Ein norwegischer Strafrechtslehrer, der einmal in Wien einer Verhandlung unter dem Vorsitz des Herrn Feigl beigewohnt hat, versicherte, daß in seiner Heimat kein Staatsanwalt so viel nörgelnde Gehässigkeit gegen den Angeklagten aufbrächte wie hier der über den Parteien stehende Verhandlungsleiter. Und der Wiener Staatsanwalt hat — ein Fall, der, soweit das Gedächtnis der ältesten Juristen reicht, nicht vorgekommen ist — zum Schutze des letzten Opfers Feigl’scher Judikatur Berufung angemeldet. Ich weiß, und bin in der Lage es zu beweisen, wie Richter mit fünf Sinnen, wie hochgestellte Funktionäre über die Tätigkeit Johann Feigls denken. Ist es wirklich unumgänglich, mit verschränkten Armen auch vor der strafgerichtlichen Abteilung des österreichischen Chaos zu stehen? Könntet ihr hier nicht Wandel wirken, wo die Lösung einer Personenfrage beinahe die Reform eines Gesetzes erspart?

Die Verurteilung des Dreiundzwanzigjährigen bis zum Tode, die furchtbarer als die zum Tode ist, wollte man selbst Herrn Feigls bewährter Kerkermeisterschaft nicht glauben. Nur genaueste Lektüre des Verhandlungsberichtes bietet die Möglichkeit, dem Wahnwitz psychologisch beizukommen. Durch Jahrzehnte hat Härte des Urteils den Hohn des Verhörs gekrönt. Aber sie war auch gemildert durch den starken Verbrauch seiner Natur, den eine lange Verhandlung Herrn Feigl erlaubte. Das fühlte er selbst: ein gut Teil der Strafe hat ein Angeklagter überstanden, der eine Verhandlung unter seinem Vorsitz über sich hatte ergehen lassen müssen; wie eine Erlösung wirkte das Urteil. Wie würde es, so hätte man sich längst fragen können, wirken, wie würde es ausfallen, wenn Herrn Feigl einmal die Gelegenheit genommen wäre, mit dem Angeklagten wie die Katze mit der Maus zu spielen? Wenn ihm ein Verzweifelter gegenüberstände, der in Lebensnot sein Selbstbewußtsein nicht verloren hat, den Richter nicht als sein Schicksal betrachtet, nach dessen Mienenspiel nicht ängstlich forscht, sich nicht duckt, dem Spott nicht mit Erröten, dem Schimpf mit Trotz antwortet? Herr Johann Feigl hat seinen Meister gefunden. »Das mag Ihre Ansicht sein, Herr Präsident! Ich teile diese Ansicht nicht« — ruft ihm der Bursche zu, der wegen eines Raubanfalls vor seinem Richtstuhl steht. Einmal, wieder, immer wieder. Herr Feigl stutzt. »Man kommt nach Ihrem Auftreten nahezu auf den Gedanken, daß Sie unverbesserlich sind ... Ihre ungehörige Verantwortung muß ich rügen«. Der Angeklagte verwahrt sich gegen »die spitzen Redensarten des Gerichtshofes«. Das ward in diesem Hause und von Herrn Feigl noch nicht erlebt. Der Kerl kanzelt seinen Anwalt herunter und hält ein Plaidoyer, das als ein hochdeutsches Sammelsurium der bekanntesten Verteidigerphrasen, in dem selbst zum Schluß der Hinweis auf die eigene psychische Minderwertigkeit nicht fehlt, ein parodistisches Meisterstück genannt werden muß. Mit Hohn war diesem Angeklagten nicht beizukommen, diesem nicht. Also blieb nichts übrig, als ein Urteil zu fällen, das weithin wirke als Exempel — zur Verhütung künftiger Raubanfälle? Nein, zur Verhütung unbotmäßigen Betragens vor Gericht. War gestern in demselben Hause ein Mann, der einem andern ein Messer in den Bauch gerannt hatte, zu fünf Tagen Arrest verurteilt worden, hier mußte mit anderm Strafmaß gemessen werden. In diesem Dreiundzwanzigjährigen war ja noch Leben! Ein Kerl, stark genug, um ein paar Monate Gefängnis, die er redlich verdient hat, zu übertauchen, noch nicht völlig verkommen, der Besserungsfähigkeit dringend verdächtig, und möglicherweise imstande, sich mit seinem Witz noch ehrlich durchs Leben zu schlagen. Vor allem aber — sympathischer als Herr Johann Feigl, der seinerseits mit der Karriere abgeschlossen hat und, wenn er aus dem Landesgerichte herauskäme, nichts Rechtes mehr anzufangen wüßte ... So ward denn Anton Krafft zu lebenslänglichem schweren Kerker verurteilt. »Er war allerdings auch«, bemerkt das ›Deutsche Volksblatt‹ wörtlich, »während der Verhandlung ungemein keck und trat sogar dem Vorsitzenden Dr. Feigl entgegen, wo er nur konnte« ... Am 10. März 1904 wurde in Wien lebenslänglicher schwerer Kerker wegen kecken Benehmens im Gerichtssaal diktiert.

Wird Herrn Johann Feigl nicht bang? Es soll irgendwo im Paragraphendickicht eine Möglichkeit verborgen sein, aus der sich die Verhängung der grauenvollsten Pein für den Trunkenheitsexzeß des Minderjährigen, der seiner Not keinen Heller erbeutet hat, formell rechtfertigen läßt, eine Bestimmung, die Herr Feigl bei einigem guten Willen »anwenden« konnte. Wenn Herr Feigl einst sein tatenreiches Leben endet, das etwa zehntausend Jahre, die andere im Kerker verbrachten, umfaßt hat, so mag sich ihm in schwerer Stunde, vor der Entscheidung einer höhern Instanz, die Beichte seiner schwersten Sünde entringen: »Ich habe mein ganzes Leben hindurch das österreichische Strafgesetz angewendet!«

Vgl.: Die Fackel, Nr. 157, V. Jahr
Wien, 19. März 1904.

* * *

Ende März 1904

Das Urteil über die Tat des Johann Feigl ist vom Oberlandesgericht augenblicklich gefällt worden. Die Justiz hat mit standgerichtlicher Promptheit gearbeitet. Leider ist die Differenz zwischen »lebenslänglich« und zwölf Jahren, zu der Herr Feigl verurteilt wurde, eine viel zu geringe, und zwölf Jahre für den Streich, den ein halbverhungerter Bursche auf der Ringstraße verübt hat, noch immer zu viel. Wiewohl Herrn Feigl kein mildernder Umstand zugebilligt werden kann, wiewohl er weder minderjährig ist noch in Volltrunkenheit gehandelt hat, wiewohl er sich der Folgen seiner Handlungsweise — Erschütterung des Vertrauens in die Strafjustiz, dauernde Berufsstörung bei Anton Krafft u.s.w. — bewußt sein mußte, hat das Oberlandesgericht sich für bemüßigt gehalten, ihn mit mehr Rücksicht zu behandeln als den andern Angeklagten. Warum, Ihr Herren? Warum wird denn mit den »Jahrln« nur so herumgeschmissen? Es ist ja sehr selbstlos, wenn ein Berufungsgericht einen Teil des Entsetzens, das ein Urteil erregt hat, auf sich nehmen will. Aber schließlich ist doch die Gerechtigkeit auch ein Faktor, auf den in der Judikatur Rücksicht genommen werden sollte, obgleich ich gern einsehe, daß die Kollegialität voranzugehen hat. Das Schicksal eines Angeklagten müßte doch nicht so ganz apathisch zwischen den Höflichkeitsbezeugungen der Instanzen zerrieben werden. »Sollte nicht selbst die Umwandlung des lebenslangen in zwölfjährigen Kerker durch das Oberlandesgericht der gewiß schwer ins Gewicht fallenden Absicht, die Richter der ersten Instanz nicht allzu schroff ins Unrecht zu setzen, entsprungen sein? Dann würde der Fehler, den diese begangen haben, zum Nachteile eines Unglücklichen fortgewirkt haben. Uns scheint, daß der Fall Krafft sich eher zu einer Annäherung an die unterste Grenze der drei Jahre schweren Kerkers empfohlen hätte.« So schreibt Dr. Edmund Benedikt, ein Jurist, dem man die Kompetenz so wenig wie die Sachlichkeit absprechen wird, in den ›Juristischen Blättern‹. Wenn die Empörung fühlender Laien die Maßgebenden nicht aufgerüttelt hat, vielleicht macht sie die Tatsache stutzig, daß dem Fall Feigl gegenüber ein juristisches Fachblatt zum erstenmal aus seiner wissenschaftlichen Reserve heraustritt. Dr. Benedikt schreibt: »Nach der letzten veröffentlichten Statistik wurde in ganz Österreich im Laufe des Jahres 1897 über 28 Personen lebenslänglicher Kerker verhängt, darunter über 21 infolge gnadenweiser Umwandlung der gesetzlichen Todesstrafe. Wenn man die Seltenheit der Hinrichtungen bedenkt, deren Zahl im Jahre 1897 nicht mehr als 5 betrug, so daß die vielleicht ebenso fürchterliche Strafe des ewigen Kerkers bei den verworfensten Mördern an deren Stelle gesetzt wird, während in 41 von im ganzen 67 Fällen todeswürdig erkannter Mordtaten 8- bis 20jähriger Kerker als angemessene Sühne erkannt wurde, so muß die ungeheure Aufregung, welche die Verurteilung des Krafft durch einen Wiener Schwurgerichtssenat hervorgerufen hat, selbst vom trockensten Zahlenmenschen geteilt werden.« Nach Benedikts Ansicht hat Herr Feigl nicht einmal die Berufung auf den traurigen Buchstaben des österreichischen Strafgesetzes für sich: »Die Überfallene hatte infolge des Schreckens einen Nervenchok erlitten, der sie durch mehr als zwanzig Tage arbeitsunfähig machte. Es ist bei diesem Tatbestande zweifelhaft, ob überhaupt die Sanktion des lebenslänglichen Kerkers zutrifft, ob nicht vielmehr das Gesetz im § 195 eine unmittelbare schwere Verwundung oder Verletzung fordert, so daß der Eintritt eines Nervenchoks, dem sonst die Gerichte nicht allzu freundlich zu sein pflegen, außerhalb dieses Rahmens fällt.« »Aber sei dem wie immer«, fährt der Jurist fort, »die Tatsache, daß die unmittelbar zugefügten Verletzungen ganz leichter Art waren, ist ein höchst wichtiger Milderungsumstand. Dazu kommt die Nichtvollbringung des Raubes, dessen Begehung am hellen Tage in sehr belebter Gegend, also unter möglichst ungefährlichen Umständen, in subjektiver Hinsicht das jugendliche Alter, die Angetrunkenheit und die Not. Und dieses Verbrechen, das, verglichen mit den übrigen schweren Straftaten in der Monarchie, kaum in deren oberen Hälfte zu stehen kommen dürfte, wurde mit der fürchterlichsten Strafen belegt, deren Schwere desto größer ist, einen je jüngeren Delinquenten sie trifft. Unter allen begnadigten Mördern des Jahres 1897 war nur ein Minderjähriger, dem Kerker auf Lebenszeit zuerkannt wurde, und dieser hatte ein achtjähriges Kind getötet, das er mißbrauchen wollte. In wie beispielloser Weise das Urteil des Wiener Schwurgerichtshofes die seit so vielen Jahrzehnten in so vielen tausenden von Fällen hergestellte Verhältnismäßigkeit zwischen Strafe und Verbrechen gestört hat, sagt jedem die Erfahrung und bestätigen die Zahlen. Wie immer man über Grund und Zweck der Strafe denken mag, wie sehr man davon überzeugt sein mag, daß eine absolute Gerechtigkeit schon wegen der Inkommensurabilität von Schuld und Strafe niemals erreicht werden kann, man muß daran festhalten, daß jene Proportion, die sich auf Grund der Gesetze durch die Übung der Spruchpraxis herausgebildet hat, nicht verletzt werden darf, wenn man nicht aus der Strafjustiz eine willkürliche und sinnlose Straferei machen will.« Und nun werden die Folgen der Feigl’schen Tat erörtert. Das Urteil habe nicht nur die heilsame Assoziation der Vorstellungen von Verbrechen und Strafübel, in der allein die Rechtfertigung der Strafe liege, erschüttert; es »scheint noch eine weitere verwerfliche Wirkung in der kurz darauf unter demselben Vorsitz erfolgten Freisprechung von Funddieben durch die Geschwornen hervorgerufen zu haben. Daß die Jury, wenn ihr Verdikt in einer unerwartet harten Strafbemessung Geltung erhalten hat, durch Absolvierung anderer Angeklagter sich zu salvieren glaubt, ist eine jedem Praktiker bekannte Sache. Aber es irren diejenigen, die sich in gutherziger Weise über solche Geschenke des Schicksals an Schuldige freuen; denn in solchen Freisprüchen liegt eine tiefe Grausamkeit, weil sie die Wurzel des Strafrechtes angreifen und Willkür an Stelle des Urteils setzen.« ... Am schärfsten treffen Herrn Feigl die folgenden Worte: »So traurig uns die Überschreitung des Strafmaßes berührt, so können wir doch nicht glauben, daß das Benehmen des Beschuldigten bei der Verhandlung dabei in Betracht gekommen sei. Leider ist ja die Tradition noch nicht bei allen Vorsitzenden verschwunden, daß es richtig sei, zu dem Angeklagten in die Arena hinabzusteigen, und ihn im Ringkampf die geistige Überlegenheit fühlen zu lassen und jede Auflehnung des Delinquenten oder auch manchmal der Entlastungszeugen gegen dieses oft grausame Spiel als Rebellion zu empfinden. Daß Richter eine solche Auflehnung den Verurteilten im Spruche entgelten lassen sollten, können wir nicht glauben. Daß aber der Vorsitzende den minderjährigen Angeklagten, der soeben zu lebenslänglichem Kerker verurteilt worden war, zu einer Strafe, die vielen härter dünkt als der Tod, sofort mit der Frage übereilte, ob er berufen wolle, statt ihn ausdrücklich zu warnen, die Erklärung nicht früher abzugeben, bevor er sich nicht mit seinem Verteidiger besprochen und sich die Sache genau überlegt habe, daß er dann die in verbissenem Trotz hervorgestoßene Erklärung, auf die Berufung zu verzichten, als eine unwiderrufliche statuierte, ist ein Vorgang, den man nicht begreifen kann. Die Rechtsmittelbelehrung hat den Zweck, den Inkulpaten auf die ihm zustehenden Rechte aufmerksam zu machen und ihm Zeit und auch womöglich die Sammlung zur Überlegung zu gewähren, nicht aber ihn in der Schlinge der unvermittelt hervorgestoßenen Erklärung zu fangen.« »Wer in solcher Weise«, schließt Benedikt, »an dem Verhältnis zwischen Strafe und Tat rüttelt, zerbricht einen der stärksten Pfeiler unserer ohnehin unvollkommenen Gerechtigkeit und lädt eine schwere Schuld auf sich.«

Und Herr Feigl hat — nachträglich wird es bekannt — über den Wahnsinn des österreichischen Gesetzes hinaus die lebenslängliche Strafe mit einem jährlichen Fasttage verschärft.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 158, V. Jahr
Wien, 30. März 1904.

* * *

Nach vier Jahren

Prozeß Blecha. Vorsitzender: Hofrat Feigl. Vorgeführt wird der Zeuge Anton Krafft. »Während der Einvernahme des Zeugen Krafft bemerkt der Verteidiger zu ihm: Warum sehen Sie so blaß aus? Sind Sie krank? — Zeuge (zögernd): Ich war lange Zeit im Spital. — Verteidiger: Wann werden Sie denn frei? — Zeuge: Im Jahre 1916. — Verteidiger: Lassen Sie sich draußen meine Adresse geben und schicken Sie mir einen Brief aus Stein. Vielleicht kann ich etwas für Sie tun. Ich werde um Ihre Begnadigung einkommen.« Der Gerichtssaalbericht fügt trocken hinzu, Krafft büße eine zwölfjährige Kerkerstrafe wegen Raubes ab. Die Begnadigung durch Tuberkulose scheint gesichert.

Welch ein Wiedersehen! Wer mag blässer gewesen sein? Der Blasse oder der Erblaßte?

Vgl.: Die Fackel, Nr. 232-233, IX. Jahr
Wien, 16. Oktober 1907.

*

Am Tage, nachdem ich dieses Wiedersehen geschildert hatte, erhielt ich die folgende Zuschrift:

17. Oktober 1907

Ihre Notiz in der letzten ’Fackel’ über die Geschichte Krafft-Feigl macht mir diese Episode wieder schmerzlich lebendig. Ich war damals unter den Geschwornen, und ich kann Ihnen bestimmt sagen, daß eine Voreingenommenheit gegen den Angeklagten sich bei uns nicht eingenistet hat — trotz Feigl. Im Gegenteil, es blieb nicht ohne Eindruck auf uns, daß der Krafft einen jämmerlichen alten ex offo-Schwätzer zum Verteidiger hatte, der sich vor dem »Hohen Gerichtshof« in tausend devoten Verbeugungen erging und seinen Schutzbefohlenen, der just nicht das Gleiche tat, indigniert preisgab. Wir standen also dem Krafft ziemlich unbefangen gegenüber. Leider aber auch dem Feigl. Denn wenn wir geahnt hätten — nun, Sie erinnern sich gewiß, wie wir einige Tage später angesichts des abermaligen Feigl uns durch einen Freispruch Luft gemacht haben. Allein vorher kannten wir unseren Feigl noch nicht ganz; und da die Ergebnisse der Verhandlung sich mit den Schuldfragen glatt deckten, konnten wir nichts anderes tun, als diese bejahen. Wie dann aber das Wort »lebenslänglich« gefallen ist, sind wir dagestanden, wie vom Donner gerührt und haben einer den andern angestarrt — völlig entgeistert. Ich bin aus dem Saale getaumelt, buchstäblich betäubt und: »Barmherziger Himmel, das haben wir nicht gewollt, nein, das haben wir nicht gewollt« mußte ich fort und fort murmeln. Als nachträglich die Änderung des Urteils bekannt wurde, die über Berufung nicht des Verteidigers, sondern des Staatsanwaltes erfolgte, haben wir die Strafmilderung wie eine Befreiung von eigener Schuld empfunden. Und nunmehr muß ich lesen, daß der arme Teufel unheilbarem Siechtum verfallen ist!

Ich weiß, ich kann nichts dafür, und übermäßig sentimental bin ich kaum. Wie denn auch? Mich hat das Leben genau so derb herumgestoßen, wie jeden von uns, bei dem die Druckstellen hart geworden sind. Aber ich erbitte mir von einem gütigen Schicksal, daß es mich vor neuerlicher Auslosung zum Geschwornen bewahre. Für dieses Amt tauge ich seither nicht, wenigstens so lange, als noch der Feigl im Landesgericht haust ....

Mein lieber Freund, wenn es nicht ein bloßer Gelegenheitswitz war — blaß wird der nicht, da irren Sie sehr! Wenigstens nicht aus solchen Anlässen. Blaß wurde er nur damals — beim Freispruch.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 236, IX. Jahr
Wien, 18. November 1907.

* * *

Epilog

»Der mit dem Titel und Charakter eines Hofrates bekleidete Vizepräsident des Landesgerichtes in Strafsachen Dr. Johann Feigl ist zum Hofrat ad personam unter Belassung auf seinem gegenwärtigen Dienstposten ernannt worden.«