Montignoso
Februar 1905
Hofhunde, Preßköter und Polizeibullen wollen eine Frau zu Tode hetzen. Warum? Glaubt ihr, Hunde, weil sie das Unglück hatte, auf den Höhen der Menschheit geboren zu werden, ihr Geschlechtsbedürfnis sei eine durch Herrscherwillen oder Plebiszit zu lösende Frage? Es ist ein Gefühl, an einer unaussprechlichen Schmach teilzuhaben, wenn man Tag für Tag Möglichkeit und Chancen, Art und Intensität eines Liebesverhältnisses mit der Sachlichkeit einer politischen Diskussion erörtert sieht. Man weiß nicht, ob man die Zeitungsblätter, die die Wut zusammenballt, den Verbreitern oder den Urhebern des Skandals ins Gesicht werfen möchte; man weiß nicht, ob die sächsische Gemütlichkeit, mit der seit Jahr und Tag höfische Leintücher über Europa gebreitet werden, ob das Behagen, mit dem eine allerhöchste Impotenz das privateste Leben einer Frau kontrolliert, abscheulicher ist, oder die Gefälligkeit einer internationalen Presse, die jedem Gesindeklatsch, jeder Lüge, durch die sich der Geschlechtsneid geiler Hofmegären erlöst, jedem Hirngespinst einer hysterischen Bonne Unterkunft gewährt. Von den Abdrücken zweier Köpfe auf dem Polster der Gräfin Montignoso bis zu dem Mann, der mit den Schuhen in der Hand aus dem Schlafzimmer schleichend gesehen wurde, ist uns kein Detail dieser gräßlichen Affäre erspart geblieben. Und all dies nicht etwa mit dem Hohn beschämter Zeitgenossen vorgetragen, die den Ansturm offizieller Heuchelei gegen das einleuchtendste Persönlichkeitsrecht erleben müssen, sondern im respektvollen Ton jener empörenden Besonnenheit, welche die Anklage vielleicht unbegründet, aber die Moralprozedur notwendig findet und die Gebärden betschwesterlicher Bestürzung mitmacht. Keiner spricht das erlösende Wort: Und wenn die »Erhebungen« des sächsischen Bachrach in Florenz »wahr« wären, hundertmal wahr, was, zum Teufel, geht das alles uns an? Was geht es heute noch den sächsischen Thron an, auf den die Frau verzichtet hat, als sie ihren Gatten krönte? Warum intriguiert es die Hofchargen, echauffiert es diesen immer aufgeregten Herrn von Metzsch und diese ganze Sippe, die die Verbitterung der Jungfrauen Alma Muth und Prinzessin Mathilde an Europa rächen möchte? Der Entschluß der Dame, die Souveränität ihrer Geschlechtswünsche mit dem Verzicht auf einen Thron zu erkaufen, muß gar nicht heroisch sein, kann eine Prinzessin in die Untertanin eines schlechten Geschmacks verwandeln. Da der Kaufpreis erlegt war, hatte keiner das Recht, den Gebrauch zu prüfen, den sie von dem Gut der Freiheit machte.
Die Art, wie die »Verteidigung« der Gräfin Montignoso von den publizistischen Nutznießern ihrer Kränkung geführt wird, ist anmutig, wie der Plan, den August der Schwache gegen die einst geliebte Frau ins Werk setzt, ihr ein Kind zu entreißen, um dessen Erziehung er sich heftiger bemühen will als um dessen Erzeugung. Es ist eine Geheimsprache, die unsere Zeitungen seit acht Tagen in spaltenlangen Telegrammen und Stimmungsberichten führen, unverständlich für uns, die wir das sexuelle Tun einer Frau für so gar nicht wertmindernd halten. Mir war schon die schöne Menschlichkeit jenes »Situationsbildes« unfaßbar, das aus der Dresdner Presse in die unsere übergegangen ist: »Die zahlreich in Florenz angekommenen Neugierigen, deren Zuzug überaus stark ist, bekunden ein lebhaftes Interesse für den Wohnsitz der Gräfin Montignoso. Sie beschäftigen sich viel mit den durch die Zeitungen bekannt gewordenen Mitteilungen, welche in ihnen die Vorstellung erweckt haben, daß die hohe Frau leidet. Leider stehen die Tatsachen in grellem Widerspruche mit dem aussöhnenden Bilde reuiger Einkehr Wenn der neugierige Fremde am Nachmittage die sonnige Straße nach Fiesole wandelt, begegnet er der Gräfin im munteren Gespräche mit ihrem jetzigen Gesellschafter, und der Blick der Dame wird auch den mildesten Beurteiler über ihre vermuteten Seelenqualen beruhigen.« Sie leidet leider nicht. Die sächsischen »Neugierigen«, die die italienische Landschaft verschandeln, diese Wein- und Hochzeitsreisenden, diese widerwärtigste Menschengattung, deren barchentselige Vertreterinnen im Anblick der toskanischen Gefilde die Frage stellen: »Männe, biste glicklich?«, waren enttäuscht, weil Luise Montignoso nicht unglücklich war. Der Philister sieht die Trauer ein für allemal in jener tiefgebeugten Plakatdame einer Grabsteinfirma verkörpert; weh dem, der an seinen Schablonen rüttelt! »Reuige Einkehr« muß Luisens Antlitz offenbaren, Seelenqualen muß sie spazierenführen; sonst sind die schweißfüßigen Herrschaften nicht »ausgesöhnt«. Sonst freut sie das ganze Familienleben des Königs von Sachsen nicht mehr. Und diese Schäbigkeit gibt die Wiener Presse, mit dem Bewußtsein, einer guten Sache zu dienen, weiter. Weitergegeben wird auch das »Ärgernis«, das die vornehmen florentinischen Familien an dem Verkehr der Gräfin mit dem Grafen angeblich nahmen, und das gewiß schon deshalb berechtigt wäre, weil erwiesenermaßen noch nie eine italienische Aristokratin die Ehe gebrochen hat und weil überhaupt eine Paarung von Mann und Weib, sobald sie mit einem Vergnügen verbunden ist, zu den unbeliebtesten Dingen dieser Welt gehört. Weitergegeben wird die famose »Überzeugung« der Salzburger Verwandten, »daß die Gräfin nicht normal sei«, und der am Anfang des 20. Jahrhunderts noch aussprechbare Gedanke, eine Irrenanstalt zur Beruhigung aller Lebenswünsche auszuwählen. Dem Anschlag des Kindesraubs aber scheinen die publizistischen Hüter des fremden Familienlebens mit einem bedauernden Achselzucken zuzustimmen: »Wenn zur Kenntnis des sächsischen Hofes Details gelangt sind, welche es nicht bloß wünschenswert, sondern dringend geboten erscheinen lassen, die Prinzessin Monika der Obhut der Mutter zu entziehen, so ist begreiflich u.s.w.« Warum, ihr Herren? Warum sollte eine Frau, die einen Geliebten hat, nicht ihr Kind betreuen können? Nicht so gut betreuen können wie ein Mann, der keine Frau hat, das Kind eines Andern? Ein sächsischer Offiziosus, der vielleicht in seinem Eheleben Entbehrung nicht als das schwerste Opfer kennen gelernt hat, schleudert Blitze gegen die Begehrlichkeit der Sinne und verkündet eifernd, daß die Bestätigung der Florentiner Nachrichten Aufklärung über den »wahren Charakter der Gräfin« bringen müsse und daß sich dann die Parteinahme für sie »mit keinerlei sittlichen Begriffen vereinbaren lassen würde«. Diese armen Menschen halten sich für entehrt, wenn sie geliebt haben, und ein Lippowitz ist berufen, den Geist dieser Zeit zu vertreten, die sich die Maxime zurechtgelegt hat: So etwas sagt, aber tut man nicht. Jetzt erst erfahren wir, daß das abscheulichste Sudelblatt Europas seit jeher bloß aus sittlicher Entrüstung, nicht aus Neugierde, die Plumeaus aller besseren Schlafzimmer gelüftet hat: »Gräfin Montignoso«, ruft es bekümmert, »hat sich wieder in ein Liebesverhältnis eingelassen! Ihr Lebenswandel gibt zu ernstestem Tadel Anlaß. Beruhen diese Meldungen auf Wahrheit, so werden wohl die Sympathien, deren die Gräfin in so reichem Maße teilhaft geworden, wesentlich abgeschwächt werden, und der Enthusiasmus, der für die ›unglückliche, unschuldig verfolgte Frau‹ sich kundgibt, wird sich stark abkühlen.« Besonders anstößig findet es Herr Lippowitz, daß die Gräfin »ihre Gunst dem Grafen Guicciardini geschenkt« habe; nie würde die Redaktion des ›Neuen Wiener Journals‹ einem Mann, der sie etwa für die Sache Montignoso günstig stimmen wollte, ihre Gunst schenken. Ganz geheimnisvoll klang die Meldung der ›Neuen Freien Presse‹, am großherzoglich toskanischen Hofe sei man der Ansicht, daß, »sollte sich die Nachricht bestätigen« — die stereotype Einleitung aller dieser Gemeinheiten — »Gräfin Montignoso vom Anfang an in die Behandlung tüchtiger Ärzte gehörte, statt von Juristen behandelt zu werden«. Hier scheint entweder die tiefe Erkenntnis, daß Lieben Leiden ist, oder ein tiefer Verdacht gegen den Grafen Guicciardini mitzusprechen, den er ebenso entschieden zurückweisen müßte, wie die andere Beleidigung, die ein paar Tage später in der ›Neuen Freien Presse‹ Platz gefunden hat. Man halte, schrieb der brieflich ordinierende Korrespondent wörtlich, den Grafen »wegen seiner harmlosen Gutmütigkeit eines solchen Abenteuers nicht für fähig«. »Der?«, rief der Gesandte von Argentinien, »keine Spur! Ich glaube es nicht, und wenn ich es sähe!« Da aber jeder Tag neue Schreckensnachrichten brachte, mußten auch Blätter, die sie anderen stahlen, bald aus schmerzlicher Überzeugung ihr Resumé mit den Worten beginnen: »Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die Beziehungen, welche die ehemalige Kronprinzessin von Sachsen zu dem jungen Grafen Carlo Guicciardini unterhält, intimer sind, als man ursprünglich anzunehmen bereit war.« Hatte doch Fräulein Muth ihrem gepreßten Herzen in dem Ausruf Luft gemacht: »Hier gehen schauderhafte Dinge vor sich!«. Herr Justizrat Körner kam, sah und sagte zu seiner ehemaligen Kronprinzessin: »Ihr Anblick verursacht mir Brechreiz!«
Dennoch wollten’s die guten Seelen nicht glauben. Die Gräfin Montignoso mag ja eine Verworfene sein, die in ihrem Florentiner Exil nicht bloß der Erinnerung an die Zeit lebt, da sie neben Friedrich August so gut geschlafen hat. Aber der Graf? Nimmermehr! Nicht Mißtrauen gegen seine körperliche, aber Vertrauen zu seiner moralischen Stärke war es jetzt, was die Zweifler hinderte, den furchtbaren Gedanken an ein Verhältnis mit einer Frau auszudenken. Er selbst habe ja erklärt, daß er »als Edelmann die Pflichten und Rücksichten, die er der Gräfin Montignoso schuldig sei, keinen Augenblick vergessen« habe. Wer die Geheimsprache der guten Gesellschaft nicht versteht, glaubt in der Regel, daß nicht der geschlechtliche Umgang, sondern im Gegenteil die Vernachlässigung einer liebebedürftigen Frau Pflichtvergessenheit und Rücksichtslosigkeit gegen sie bedeute. Aber jetzt wissen wir wenigstens, daß Luise von Sachsen ihrem Gatten wegen seines lebhaften Pflichtgefühls davongelaufen ist. In dieser Geheimsprache hat der Deputierte Rosadi erklärt, Graf G. »sei der letzte, der einer gemeinen Handlung fähig wäre«. Deputierte, Gesandte, Reporter, alle Welt hält jetzt auch den außerehelichen Beischlaf des Mannes für eine Gemeinheit. Und gar dieser Graf G.! Er ist »ein blonder, harmloser Mann, der nie einen Schritt über die Grenzen des Anstandes unternehmen würde«. Es wäre ja unanständig, die Gunst einer Frau zu erwidern, und erwiesenermaßen kommt bei blonden Männern solch seltene Verirrung überhaupt nicht vor. Und Graf G. selbst hat doch, so versichert der Florentiner Spezialist der ›Neuen Freien Presse‹, »erklärt, zur Gräfin niemals in anderen Beziehungen gestanden zu sein als in jenen eines Mannes von Ehre zu einer Frau, die auf das allgemeine Mitgefühl Anspruch hat« ... Mehr als eine Ehrloserklärung sämtlicher Männer, die je zu Frauen in außerehelichem Verhältnis gestanden sind, können wir von der liberalen Ethik nicht verlangen. Die Heuchelei einer europäischen Gesittung, die den Sexus mit der Ehre paart, die immer, was sie bei Nacht geliebt hat, am Tag verachten muß, aber die Ausübung der natürlichsten Funktionen bisher bloß an den Frauen gerächt hat, ist glücklich bei der Kreierung des »gefallenen Mannes« angelangt.
Dürfen wir uns mit den Erklärungen des Grafen zufrieden geben? Gelinde Zweifel steigen auf, es möchte am Ende nicht das Bewußtsein der Unschuld, sondern anmaßende Diskretion sein, was ihn bewogen hat, die Fragen der Interviewer zu verneinen. Daß er »als Edelmann die Pflichten und Rücksichten, die er der Gräfin Montignoso schuldig sei, nicht vergessen« hat, brauchte sich nicht als eine Widerlegung des Gerüchtes, sondern bloß als die Weigerung deuten zu lassen, den Vertretern der Presse Rede und Antwort zu stehen, und alles wäre gut! Immerhin, die schreckliche Ungewißheit dauert fort, so lange die Erhebungen über das Liebesleben der Gräfin Montignoso nicht abgeschlossen sind. Und was sich im Schlafzimmer der Villa Papiniano begeben hat, ist noch immer nicht enthüllt. Der Justizrat ist am Ende seiner Büttelweisheit. Noch erhebt er durch Fräulein Muth, daß die Gräfin einmal abends ein ausgeschnittenes Kleid getragen hat. »Wie tief konnte man in den Brusteinschnitt hineinschauen?« fragt er. Das Fräulein kann nur immer wieder versichern, daß das Bett »deutliche Eindrücke zweier Gestalten gezeigt« habe. Und sie hat doch »das Schlafzimmer der Gräfin in allen Teilen, Ecken und Enden täglich auf das gründlichste durchsucht«. Nichts Gewisses weiß man nicht. »Kleinigkeiten«, sagt die Kammerfrau Chiarina, »wird’s gegeben haben, aber Böses nicht.« ... Man sieht, die Wahrheit ist noch auf dem Marsche. Aber eines Tages wird sie vom Bett der Gräfin den Weg zu den Schreibtischen der Redaktionen finden, und Europa, das aufhorchende, von den Gewalten der Heuchelei und Lüge regierte Europa, wird sie gierig aufnehmen, und wird sich darüber entsetzen, daß es »wahr«, nicht darüber, daß es eine Wahrheit ist.
Vgl.: Die Fackel, Nr. 175, VI. Jahr
Wien, 17. Februar 1905.