Zum Prozeß Rutthofer
Oktober 1906
Ich habe neulich über den Prozeß Rutthofer nicht gesprochen, sondern bloß der Sprachlosigkeit Ausdruck gegeben. Die trockene Aneinanderreihung von Zitaten ergab ein grauenhafteres Bild unserer Justizschande, als die lebhafteste Aussprache der Empörung. Heute kann man immerhin das Wort zur Feststellung finden, daß es unsagbar war. Daß jedes österreichische Kronland sein Leoben zu haben scheint. Daß der Tiroler Labres Tarter heißt und der Reimoser von Innsbruck Tschurtschenthaler. Die Affäre des getöteten Landesrats war vielleicht doch um einen Grad noch scheußlicher als der Fall Hervay. Hier wie dort wurde ein Frauenleben durchschnüffelt. Aber während in Leoben Bigamie durch Leutnantsbekanntschaften bewiesen wurde, waren in Innsbruck »gepfefferte Gedichte« ein Indizium für Mord. Freuen wir uns, daß Johann Gabriel Seidl und Johann Nepomuk Vogl, die vaterländischen Dichter, nie hätten verdächtig werden können!
In der gebirgskretinistischen Stimmung solcher Prozesse gedeiht erst die journalistische Psychologie. Typisch ist die Wendung: »Ihr Lebenswandel war nichts weniger als einwandfrei.« »Sie betrog ihren Gatten in der schamlosesten Weise und gab dies sowie auch den Umstand ohne weiteres zu, ihren Mann nur deshalb geheiratet zu haben, um auf diese Art in angenehmer Weise versorgt zu werden.« So schreibt das in deutscher Sprache erscheinende ›Deutsche Volksblatt‹. Daß ein nicht einwandfreier Lebenswandel eine Verurteilung wegen Totschlags rechtfertigt, wollen wir in Gottes Namen — wenigstens für Tirol und Vorarlberg — hinnehmen. Aber daß eine Frau einen Mann heiratet, »um auf diese Art in angenehmer Weise versorgt zu werden«, scheint doch auch in Kreisen des ›Deutschen Volksblatts‹ öfter vorzukommen und dürfte nicht einmal als Überschreitung der Notwehr gegenüber dem Leben qualifiziert werden. Allzu angenehm muß übrigens die »Weise« dieser Versorgung durch die Heirat mit einem impotenten Alkoholiker, der seine Frau Sterbegebete sprechen ließ, nicht gewesen sein. Herr Rutthofer war ein Tiroler Landesrat, der, wie der Präsident hervorhob, dennoch alle 14 Tage ein Bad nahm. Er hatte aber, schon lange bevor er in die Dienste des Landes trat, autonome Selbstbefleckung getrieben, und als er seine Hand endlich einer Frau antrug, sich von dieser eine gestempelte Urkunde ausstellen lassen, worin sie ihm auch für den Fall seines Unvermögens, die ehelichen Dienstpflichten zu erfüllen, ihre Treue garantieren mußte. Daß dieser Vertrag eine causa turpis war, nicht seine Verletzung, liegt sozusagen auf der Hand; und »schamlos« sollte der Betrug, den ein lebenslustiges Weib an ihrem morschen Gatten begeht, einem Zeitungsherausgeber nicht erscheinen, der es mit — wie sagt man doch — Obligationen selbst nicht so genau nimmt ... Bahnbrechend auf dem Gebiete der Dummheit ist aber auch die ›Deutsche Zeitung‹. Sie beweist in einem Leitartikel über den Fall Rutthofer, daß an allem die Juden schuld sind. Sie beruft sich auf das »noch immer und überall gültige Sittengesetz: Du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht töten!«, und will mit dieser sinnigen Verbindung zweier Verbote offenbar sagen, daß jedem, der das Verbrechen der Untreue begeht, auch die Unsittlichkeit des Mordes ohne weiteres zuzutrauen sei. Die Juden aber glorifizieren Verbrechen und Unmoral. Es sei bezeichnend »für den femininen Charakter ihrer Rasse«, daß die Juden in der Beurteilung des Falles Rutthofer gegen den Mann und für die Frau sind. Die »Negation aller männlichen Ideale und Gefühle bildet ja einen Grundzug ihres Wesens und Handelns, Verweiblichung und Verweichlichung nicht nur ihrer selbst, sondern auch ihrer Umgebung, den Grundzug ihres Strebens und Sehnens, das sie nicht vergessen, trotz tausendjähriger Emigration. Wir aber, die wir Arier sind, wollen nicht Verweiblichung, haben auch andere, höhere Ideale, ein ernsteres Streben«. Man muß wirklich schon alle männlichen Ideale und Gefühle negieren, wenn man im Fall Rutthofer gegen den Mann ist. Daß er, wie in der Verhandlung konstatiert wurde, »stets selbst den Kaffee gekocht« und die Wohnung aufgeräumt hat, tut gar nichts zur Sache. Er war ein Mann, nehmt alles nur in allem. Es dürfte sich durch die Innsbrucker Matrik, die schließlich rechtsgültiger ist als die spätere Urkunde, die er sich ausstellen ließ, unschwer nachweisen lassen. Oder man könnte zugeben, daß auch den Grundzug seines Wesens und Handelns Verweiblichung und Verweichlichung bildete, und da waren jedenfalls die Juden daran schuld.
Mit Unrecht hält die ›Deutsche Zeitung‹ die jüdische Journalistik für klüger als sich selbst. Auch die ›Neue Freie Presse‹ macht geltend, daß Frau Rutthofer »moralisch höchst verkommen« war. Die Hornochsen sind eben durch keine Parteifarbe unterschieden. Aber die ›Neue Freie Presse‹ behauptet auch, die Frau sei »intellektuell tief stehend« und der Mann »schon vermöge seines Berufes ihr an Bildung weit überlegen« gewesen. Daß Herr Rutthofer seiner Gattin an Bildung weit überlegen war, ist wohl für den Tatbestand des Totschlags ziemlich relevant. Sicher aber ist, daß man der Rutthofer eher die Mordabsicht als intellektuelle Minderwertigkeit bewiesen hat. Nur die intellektuelle Minderwertigkeit der Gerichtssaalberichterstattung ermöglicht eine solche Beobachtung. Frau Rutthofer war das Opfer einer beispiellosen Gerichtssaalhetze, aber ein wehrhaftes. In drangvoller Enge hat die Angeklagte Worte gefunden, die den Vorhang von ihrem ganzen Ehejammer zogen und zugleich die richterliche Preisgebung ihres Privatlebens straften. Als ein Zeuge nach dem andern aufmarschierte, um die Friedfertigkeit des toten Amtskollegen und Stammtischbruders zu bestätigen, rief die Angeklagte: »Es tut mir leid, daß ihn niemand aufgeregt gesehen hat. Bei Nacht waren wir immer ohne Zeugen.« Ein Wort, das alle weiteren Experimente der Sexualjustiz überflüssig machen könnte. Diese Frau gab ihre Sache verloren, aber sie kämpfte. Selten noch hat ein Angeklagter schlagfertiger die Zumutungen der Gerechtigkeit abgewehrt, überlegener einen pflichtvergessenen Gerichtshof in seine Schranken gewiesen. Und die Frage: »Was für Anschauungen hatten Sie von der Religion?« schien sie manchmal mit der Frage zu parieren: Was für Anschauungen haben Sie von der Strafprozeßordnung?
Vgl.: Die Fackel, Nr. 209, VIII. Jahr
Wien, 20. Oktober 1906.