Katastrophen
März 1904
Der Lastzug der österreichischen Justiz schleppt wertlose Rechtsgüter mit. Wenn aber wahnsinnig gewordene Lokomotivführer das Tempo beschleunigen, dann werden die Gerechten überführt. Wir leben im Lande der unschuldig Verurteilten und der schuldig Freigesprochenen. Wenn man die Anarchisten der Gesetzlichkeit am Werke sieht, erscheinen einem die Bombenwerfer in milderem Licht. Das ist die Geschichte vom ausgeliehenen alten Regenschirm: Im August 1900 hat’s geregnet. Damals trug einer einen Schirm, der ihm nicht gehörte. Im April 1901 begegnete ihm der Eigentümer und mahnte ihn an die Rückstellung. Aber wenn’s gegen Regen einen Schutz gibt, so gibt’s keinen gegen Quartierfrauen, die wertloses Gerumpel fortschaffen. Und keinen gegen die Justiz. So wird einem denn eines Tages eröffnet, daß man eine »Veruntreuung« begangen hat. Fünf Tage Arrest. Vom Landesgericht Wien bestätigt. Im August 1901 regnet’s wieder, aber man wird nicht naß, wenn man die Tage vom 13. bis zum 18. im Arrest zubringt. Am 18. August herrscht Kaiserwetter, und man kann die Zelle verlassen. Wer sich in Österreich einen Regenschirm ausleiht, kann darauf rechnen, einige Zeit gegen alle Unbilden der Witterung geschützt, nämlich allen Unbilden der Justiz preisgegeben zu sein. Denn was nützt es, daß der Kassationshof das Urteil aufhebt und »die neuerliche Durchführung der Berufungsverhandlung« anordnet? Es hat schon geregnet, der Angeklagte wird nach verbüßter Strafe freigesprochen, und bei schönem Wetter den Regenschirm aufspannen ist eine zwecklose Demonstration, die den armen Teufel für den nassen Jammer nicht mehr entschädigt. Entschädigt wird nämlich in Österreich nicht. Man teilt hier die Menschen in solche ein, die vorbestraft sind, und solche, die es noch nicht sind, und wer zu Schaden kam, weil Frau Themis fausse couche machte, hat bloß den Vorteil, daß dies bei der nächsten »Beanständung« kein erschwerender Umstand ist Frau Therese Giezinger, das Opfer der Rieder Justizkatastrophe, verlangt jetzt 11.990 Kronen 13 Heller für Verdienstentgang, für die infolge vierjähriger Kerkerstrafe eingetretene Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit, für sonstige Verluste, Nachteile und Kosten, z.B. für das »ohne ihr Wissen und ihren Willen veräußerte Holz, für den Verlust ihrer Kleider, Einrichtungsgegenstände und sonstiger Habseligkeiten«. Frau Therese Giezinger war irrtümlich zum Tod durch den Strang verurteilt worden. Eine Entschädigung für die Todesqualen, für das seelische und körperliche Leid der Kerkerjahre gewährt ihr das österreichische Gesetz nicht. Sie ist vollkommen gebrochen, krank und gänzlich mittellos. Der österreichischen Presse, die bloß für die Unschuld auf der Teufelsinsel pathetisch wird, kann man ein werktätiges Interesse für den heimischen Fall nicht zumuten. Es wäre wünschenswert, daß man den Kaiser, den es betrüben muß, daß in seinem Namen auch das Urteil von Ried gefällt worden ist, von dem Furchtbaren verständige. Er würde wohl verfügen, daß eine Summe, wie sie kürzlich zu Ehren des Königs von Schweden für die Renovierung eines Aktes aus »Excelsior« verausgabt wurde, künftig den Opfern der österreichischen Unrechtspflege zu Gute komme.
Vgl.: Die Fackel, Nr. 156, V. Jahr
Wien, 9. März 1904.
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Oktober 1904
Eine Dienstmagd stand vor den Wiener Geschwornen, weil sie ihr körperlich verkümmertes, fast idiotisches Kind, das man im Spital nicht behalten wollte, in den Donaukanal geworfen hatte. Sie hatte 15 Kronen Monatslohn, sollte 24 Kronen Kostgeld für das Kind zahlen und mußte noch für ein zweites, jüngeres sorgen, dessen Vater nicht erreichbar war, weil er ihr »eine falsche Adresse angegeben hatte«.
Der Vorsitzende sagte: »Sehen Sie, Sie sind etwas leichtfertig!«
Der Vater des getöteten Kindes, der der Wöchnerin einen Stall als den »ihrer würdigsten Niederkunftsort« angewiesen hatte, war vom Zivilgericht für eine Summe von 440 Kronen von seinen Vaterpflichten befreit worden.
Die sich der Mutterpflichten entledigt hatte, wurde vom Strafgericht zum Tode durch den Strang verurteilt.
Die Verhandlung hat aus dem Vorleben der Angeklagten zwei Belastungsmomente an den Tag gebracht. Christine Rizek ist vorbestraft. Sie hat, als sie auf dem Lande bedienstet war, im Garten Obst gestohlen und ist dafür zu vierundzwanzig Stunden Arrest verurteilt worden. Ferner ist erwiesen, daß sie einmal auf einem Maskenball war und damals nach Torsperre heimkam.
Der Vorsitzende rief dem Mädchen zu: »Reden Sie doch lauter! Am Maskenball haben Sie gewiß besser reden können!«
Da Christine Rizek, ehe sie noch zum Tode verurteilt war, die Verhandlung durch Weinen störte, rief ihr der Vorsitzende zu: »Wollen Sie ruhig sein, sonst laß ich Sie abfuhren! Machen S’ nicht solche G’schichten!«
Der Vorsitzende ist Oberlandesgerichtsrat und heißt Granichstädten.
Vgl.: Die Fackel, Nr. 167, VI. Jahr
Wien, 26. Oktober 1904.
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März 1905
Die Herren Feigl und Pollak haben neulich einem jungen Mädchen die Unschuld geraubt. Dies Wort, mit dem die Menschheit ihren Virginitätsschacher pathetisch verkleidet, muß endlich aus dem Marktverkehr der Geschlechter auf jene sadistischen Gewaltakte übertragen werden, die heute einzig noch das Gefühl bewegen und die Tragik des Opfers begreifen lassen: auf die Strafjustiz, die sich am jungen Leben vergreift. Herr Pollak, der Staatsanwalt, hat eine neunzehnjährige Näherin angeklagt, weil ihre Schwesterliebe sich von einem Betrüger die letzten Arbeitsgroschen für ihren angeblich notleidenden Bruder, der in einer Militärstrafanstalt sitzt, hatte entlocken lassen. Hat sie wegen »Verbrechens der Verleitung und des Beistands zu einem Militärverbrechen« angeklagt. Unkenntnis des Militärstrafgesetzes schützt in Österreich ein junges Mädchen nicht vor Strafe. Herr Feigl hat sie zu vierzehn Tagen Kerker verurteilt. Eine schwere Tat, die durch Kenntnis des Gesetzes nicht entschuldigt wird!
Vgl.: Die Fackel, Nr. 177, VI. Jahr
Wien, 11. März 1905.