2. Das Zusammenstimmen des konkreten Ideals mit seiner äußerlichen Realität

 

β) Der Mensch nun aber hat sich selbst und die Umgebung, in welcher er lebt, nicht nur auszuschmücken, sondern er muß die Außendinge auch praktisch zu seinen praktischen Bedürfnissen und Zwecken verwenden. In diesem Gebiete geht erst die volle Arbeit, Plage und Abhängigkeit des Menschen von der Prosa des Lebens an, und es fragt sich daher hier vor allem, inwieweit auch dieser Kreis den Forderungen der Kunst gemäß könne dargestellt werden.

αα) Die nächste Weise, in welcher die Kunst diese ganze Sphäre zu beseitigen versucht hat, ist die Vorstellung eines sogenannten Goldenen Zeitalters oder auch eines idyllischen Zustandes. Von der einen Seite her befriedigt dann dem Menschen die Natur mühelos jedes Bedürfnis, das sich in ihm regen mag, von der anderen her begnügt er sich in seiner Unschuld mit dem, was Wiese, Wald, Herden, ein Gärtchen, eine Hütte ihm an Nahrung, Wohnung und sonstigen Annehmlichkeiten bieten können, indem alle Leidenschaften des Ehrgeizes oder der Habsucht, Neigungen, welche dem höheren Adel der menschlichen Natur zuwider erscheinen, noch durchweg schweigen. Auf den ersten Blick hat ein solcher Zustand allerdings einen idealen Anstrich, und gewisse beschränkte Gebiete der Kunst können sich mit dieser Darstellungsweise begnügen. Gehen wir aber tiefer ein, so wird uns solches Leben bald langweilen. Die Geßnerschen Schriften z. B. werden wenig mehr gelesen, und liest man sie, so kann man nicht darin zu Hause sein. Denn eine in dieser Weise beschränkte Lebensart setzt auch einen Mangel der Entwicklung des Geistes voraus. Für einen vollen, ganzen Menschen gehört es sich, daß er höhere Triebe habe, daß ihn dies nächste Mitleben mit der Natur und ihren unmittelbaren Erzeugnissen nicht mehr befriedige. Der Mensch darf nicht in solcher idyllischen Geistesarmut hinleben, er muß arbeiten. Wozu er den Trieb hat, das muß er durch seine eigene Tätigkeit zu erlangen streben. In diesem Sinne regen schon die physischen Bedürfnisse einen weiten und verschiedenartigen Kreis der Tätigkeiten auf und geben dem Menschen das Gefühl der innerlichen Kraft, aus dem sich sodann auch die tieferen Interessen und Kräfte entwickeln können. Zugleich aber muß dann auch hier noch das Zusammenstimmen des Äußeren und Inneren die Grundbestimmung bleiben, und nichts ist widriger, als wenn in der Kunst die physische Not bis zum Extrem gesteigert dargestellt wird. Dante z. B. führt uns nur in ein paar Zügen den Hungertod des Ugolino ergreifend vorüber. Wenn dagegen Gerstenberg in seiner Tragödie gleichen Namens22) weitläufig durch alle Grade des Schrecklichen hindurch schildert, wie erst seine drei Söhne und zuletzt Ugolino selber vor Hunger umkommen, so ist dies ein Stoff, welcher der Kunstdarstellung von dieser Seite her gänzlich widerstrebt. ßß) Ebensosehr hat jedoch der dem idyllischen entgegengesetzte Zustand der allgemeinen Bildung nach der umgekehrten Richtung viel Hinderliches. Der lange weitläufige Zusammenhang der Bedürfnisse und Arbeit, der Interessen und deren Befriedigung ist seiner ganzen Breite nach vollständig entwickelt und jedes Individuum aus seiner Selbständigkeit heraus in eine unendliche  Reihe der Abhängigkeiten von anderen verschränkt. Was es für sich selber braucht, ist entweder gar nicht oder nur einem sehr geringen Teile nach seine eigene Arbeit, und außerdem geht jede dieser Tätigkeiten statt in individuell lebendiger Weise mehr und mehr nur maschinenmäßig nach allgemeinen Normen vor sich. Da tritt nun mitten in dieser industriellen Bildung und dem wechselseitigen Benutzen und Verdrängen der übrigen teils die härteste Grausamkeit der Armut hervor, teils, wenn die Not soll entfernt werden, müssen die Individuen als reich erscheinen, so daß sie von der Arbeit für ihre Bedürfnisse befreit sind und sich nun höheren Interessen hingeben können. In diesem Überfluß ist dann allerdings der stete Widerschein einer endlosen Abhängigkeit beseitigt und der Mensch um so mehr allen Zufälligkeiten des Erwerbs entnommen, als er nicht mehr in dem Schmutz des Gewinnes steckt. Dafür ist er nun aber auch in seiner nächsten Umgebung nicht in der Weise heimisch, daß sie als sein eigenes Werk erscheint. Was er sich um sich her stellt, ist nicht durch ihn hervorgebracht, sondern aus dem Vorrat des sonst schon Vorhandenen genommen, durch andere, und zwar in meist mechanischer und dadurch formeller Weise produziert und an ihn erst durch eine lange Kette fremder Anstrengungen und Bedürfnisse gelangt.

 


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