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II. [Die Vergegenständlichung des Geistes]

 

Dieses allgemeine und grundlegende Verhältnis findet nun in dem zwischen dem vergegenständlichten Geist und Kultur und dem individuellen Subjekt eine Analogie in engeren Maßen. Wie wir unsere Lebensinhalte, erkenntnistheoretisch betrachtet, einem Reiche des sachlich Geltenden entnehmen, so beziehen wir, historisch angesehen, ihren überwiegenden Teil aus jenem Vorrat aufgespeicherter Geistesarbeit der Gattung; auch hier liegen präformierte Inhalte vor, der Verwirklichung in individuellen Geistern sich darbietend, aber auch jenseits solcher ihre Bestimmtheit festhaltend, die doch auch hier keineswegs die eines materiellen Gegenstandes ist; denn selbst wenn der Geist an Materien gebunden ist, wie in Geräten, Kunstwerken, Büchern, so fällt er doch nie mit dem zusammen, was an diesen Dingen, sinnlich wahrnehmbar ist. Er wohnt Ihnen in einer nicht weiter definierbaren potenziellen Form ein, aus der heraus ihn das individuelle Bewußtsein aktualisieren kann. Die objektive Kultur ist die historische Darstellung oder - vollkommenere oder unvollkommenere - Verdichtung jener sachlich gültigen Wahrheit, von der unsere Erkenntnis eine Nachzeichnung ist. Wenn wir sagen dürfen, das Gravitationsgesetz habe gegolten, bevor Newton es aussprach, so ruht das Gesetz als solches doch nicht in den realen Materienmassen, da es nur die Art bedeutet, in der sich deren Verhältnisse in einem bestimmt organisierten Geist darstellen, und da die Gültigkeit dieses Gesetzes gar nicht davon abhängt, daß es in der Wirklichkeit Materie gibt. Insofern also liegt es weder in den objektiven Dingen selbst, noch in den subjektiven Geistern, sondern in jener Sphäre des objektiven Geistes, von der unser Wahrheitsbewußtsein einen Abschnitt nach dem ändern zur Wirklichkeit in ihm verdichtet. Wenn dies nun aber an dem fraglichen Gesetze durch Newton vollbracht ist, so ist es in den objektiven historischen Geist eingerückt und seine ideelle Bedeutung innerhalb dieses ist nun wieder von seiner Wiederholung in einzelnen Individuen prinzipiell unabhängig.

Indem wir diese Kategorie des objektiven Geistes als der historischen Darstellung des gültigen Geistesgehaltes der Dinge überhaupt gewinnen, zeigt sich, wieso der Kulturprozeß, den wir als eine subjektive Entwicklung erkannten - die Kultur der Dinge als eine Kultur der Menschen -, sich von seinem Inhalt trennen kann; dieser Inhalt nimmt, in jene Kategorie tretend, gleichsam einen anderen Aggregatzustand an, und damit ist die prinzipielle Grundlage für die Erscheinung geschaffen, die uns als gesonderte Entwicklung der sachlichen und der personalen Kultur entgegentrat. Mit der Vergegenständlichung des Geistes ist die Form gewonnen, die ein Konservieren und Aufhäufen der Bewußtseinsarbeit gestattet; sie ist die bedeutsamste und folgenreichste unter den historischen Kategorien der Menschheit. Denn sie macht zur geschichtlichen Tatsache, was als biologische so zweifelhaft ist: die Vererbung des Erworbenen. Wenn man es als den Vorzug des Menschen den Tieren gegenüber bezeichnet hat, daß er Erbe und nicht bloß Nachkomme wäre, so ist die Vergegenständlichung des Geistes in Worten und Werken, Organisationen und Traditionen der Träger dieser Unterscheidung, die dem Menschen erst seine Welt, ja: eine Welt schenkt.

Ist dieser objektive Geist der geschichtlichen Gesellschaft nun ihr Kulturinhalt im weitesten Sinne, so mißt sich die praktische Kulturbedeutung seiner einzelnen Bestandteile dennoch an dem Umfang, in dem sie zu Entwicklungsmomenten der Individuen werden. Denn angenommen, jene Entdeckung Newtons stünde nur in einem Buch, von dem niemand weiß, so wäre sie zwar immer noch objektiv gewordener Geist und ein potenzieller Besitz der Gesellschaft, aber kein Kulturwert mehr. Da dieser extreme Fall in unzähligen Abstufungen auftreten kann, so ergibt sich unmittelbar, daß in einer größeren Gesellschaft immer nur ein gewisser Teil der objektiven Kulturwerte zu subjektiven werden wird. Betrachtet man die Gesellschaft als ein Ganzes, das heißt, ordnet man die in ihr überhaupt objektiv werdende Geistigkeit in einen zeitlich- sachlichen Komplex, so ist die gesamte Kulturentwicklung, für die man so einen einheitlichen Träger fingiert hat, reicher an Inhalten, als die jedes ihrer Elemente. Denn die Leistung jedes Elementes steigt in jenen Gesamtbesitz auf, aber dieser nicht zu jedem Element hinab. Der ganze Stil des Lebens einer Gemeinschaft hängt von dem Verhältnis ab, in dem die objektiv gewordene Kultur zu der Kultur der Subjekte steht. Auf die Bedeutung der numerischen Bestimmtheiten habe ich schon hingedeutet. In einem kleinen Kreise von niedriger Kultur wird jenes Verhältnis nahezu eines der Deckung sein, die objektiven Kulturmöglichkeiten werden die subjektiven Kulturwirklichkeiten nicht weit überragen. Eine Steigerung des Kulturniveaus - insbesondere, wenn es mit einer Vergrößerung des Kreises gleichzeitig ist - wird das Auseinanderfallen beider begünstigen: es war die unvergleichliche Situation Athens in seiner Blütezeit, daß es bei all seiner Kulturhöhe gerade dies - außer etwa in bezug auf die höchsten philosophischen Bewegungen - zu vermeiden wußte. Aber die Größe des Kreises macht an und für sich das Auseinandertreten des subjektiven und des objektiven Faktors noch nicht verständlich. Es gilt vielmehr jetzt, die konkreten, wirkenden Ursachen der letzteren Erscheinung aufzusuchen.

 


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