I. [Das rechnende Wesen der Neuzeit]
Ich komme in dem Stilbilde der Gegenwart auf einen letzten Zug, dessen Rationalistik den Einfluß des Geldwesens sichtbar macht. Die geistigen Funktionen, mit deren Hilfe sich die Neuzeit der Welt gegenüber abfindet und ihre inneren - individuellen und sozialen - Beziehungen regelt, kann man großenteils als rechnende bezeichnen. Ihr Erkenntnisideal ist, die Welt als ein großes Rechenexempel zu begreifen, die Vorgänge und qualitativen Bestimmtheiten der Dinge in einem System von Zahlen aufzufangen, und Kant glaubt in der Naturlehre nur soviel eigentliche Wissenschaft zu finden, wie in ihr Mathematik angewandt werden kann. Aber nicht nur die körperliche Welt gilt es mit Wägen und Messen geistig zu bezwingen; den Wert des Lebens selbst wollen Pessimismus wie Optimismus durch ein gegenseitiges Aufrechnen von Lust und Leid festsetzen, der zahlenmäßigen Fixierung beider Faktoren mindestens als ihrem Ideal zustrebend. In derselben Richtung liegt die vielfache Bestimmung des öffentlichen Lebens durch Majoritätsbeschlüsse. Die Majorisierung des Einzelnen durch die Tatsache, daß andere, von vornherein doch nur gleichberechtigte, anderer Meinung sind, ist keineswegs so selbstverständlich, wie sie uns heute erscheint; alte germanische Rechte kennen sie nicht: wer dem Beschluß der Gemeinde nicht zustimmt, ist auch nicht durch ihn gebunden; im Stammesrat der Irokesen, in den aragonesischen Cortes bis ins 16. Jahrhundert hinein, im polnischen Reichstag und anderen Gemeinschaften gab es keine Überstimmung; der nicht einstimmige Beschluß war ungültig. Das Prinzip, daß die Minorität sich zu fügen hat, bedeutet, daß der absolute oder qualitative Wert der individuellen Stimme auf eine Einheit von rein quantitativer Bedeutung reduziert ist. Die demokratische Nivellierung, der jeder für einen und keiner für mehr als einen gilt, ist das Korrelat oder die Voraussetzung dieses rechnenden Verfahrens, in dem das arithmetische Mehr oder Weniger unbenannter Einheiten die innere Wirklichkeit einer Gruppe ausdrückt und ihre äußere lenkt. Dieses messende, wägende, rechnerisch exakte Wesen der Neuzeit ist die reinste Ausgestaltung ihres Intellektualismus, der freilich auch hier über der abstrakten Gleichheit die selbstsüchtigste Besonderung der Elemente wachsen läßt: denn mit feiner instinktiver Einsicht versteht die Sprache unter einem » berechneten« Menschen schlechthin einen, der im egoistischen Sinne berechnet ist. Gerade wie bei der Verwendung von »verständig« oder »vernünftig«, wird hier der scheinbar ganz unparteiische Formalismus des Begriffes in seiner Disposition, sich gerade mit einem bestimmten einseitigen Inhalt zu erfüllen, durchschaut.