II. [Gelegentliches Übergewicht der ersteren]
Dies ist also ungefähr der Umkreis, in dem Arbeitsteilung und Spezialisation, persönlichen wie sachlichen Sinnes, den großen Objektivationsprozeß der modernsten Kultur tragen. Aus all diesen Erscheinungen setzt sich das Gesamtbild zusammen, in dem der Kulturinhalt immer mehr und immer gewußter objektiver Geist wird, gegenüber nicht nur denen, die ihn aufnehmen, sondern auch denen, die ihn produzieren. In dem Maß, in dem diese Objektivation vorschreitet, wird die wunderliche Erscheinung begreiflicher, von der wir ausgingen: daß die kulturelle Steigerung der Individuen hinter der der Dinge - greifbarer wie funktioneller wie geistiger - merkbar zurückbleiben kann.
Daß gelegentlich auch das Umgekehrte stattfindet, beweist die gleiche gegenseitige Verselbständigung beider Formen des Geistes. In etwas versteckter und umgebildeter Art liegt dies etwa in folgender Erscheinung. Die bäuerliche Wirtschaft scheint in Norddeutschland nur bei einer Art Anerbenrecht auf die Dauer erhaltbar, d.h. nur dann, wenn einer der Erben den Hof übernimmt und die Miterben mit geringeren Quoten abfindet, als sie nach dem Verkaufswert desselben bekommen würden. Bei der Berechnung nach dem letzteren - der momentan den Ertragswert weit übersteigt - wird der Hof bei der Abfindung derart mit Hypotheken überlastet, daß nur ein ganz minderwertiger Betrieb möglich bleibt. Dennoch fordert das moderne, individualistische Rechtsbewußtsein diese mechanische, geldmäßige Gleichberechtigung aller Erben und gibt nicht einem einzelnen Kinde den Vorteil, der doch zugleich die Bedingung für den objektiv vollkommenen Betrieb wäre. Zweifellos sind hierdurch oft Kulturerhöhungen einzelner Subjekte erreicht worden, um den Preis, daß die Kultur des Objekts relativ zurückgeblieben ist. Mit großer Entschiedenheit tritt eine derartige Diskrepanz an eigentlichen sozialen Institutionen auf, deren Evolution ein schwerfälligeres und konservativeres Tempo zeigt, als die der Individuen. Unter dieses Schema gehören die Fälle, die dahin zusammengefaßt worden sind, daß die Produktionsverhältnisse, nachdem sie eine bestimmte Epoche über bestanden haben, von den Produktionskräften, die sie selbst entwickelten, überflügelt werden, so daß sie den letzteren keinen adäquaten Ausdruck und Verwendung mehr gestatten. Diese Kräfte sind zum großen Teil personalen Wesens: was die Persönlichkeiten zu leisten fähig oder zu wollen berechtigt sind, findet keinen Platz mehr in den objektiven Formen der Betriebe. Die erforderliche Umänderung dieser erfolgt immer erst, wenn die dahin drängenden Momente sich zu Massen angehäuft haben; bis dahin bleibt die sachliche Organisierung der Produktion hinter der Entwicklung der individuellen wirtschaftlichen Energien zurück. Nach diesem Schema verlaufen viele Veranlassungen zur Frauenbewegung. Die Fortschritte der modernen industriellen Technik haben außerordentlich viele hauswirtschaftliche Tätigkeiten, die früher den Frauen oblagen, außerhalb des Hauses verlegt, wo ihre Objekte billiger und zweckmäßiger hergestellt werden. Dadurch ist nun sehr vielen Frauen der bürgerlichen Klasse der aktive Lebensinhalt genommen, ohne daß so rasch sich andere Tätigkeiten und Ziele an die leergewordene Stelle eingeschoben hätten; die vielfache »Unbefriedigtheit« der modernen Frauen, die Unverbrauchtheit ihrer Kräfte, die zurückschlagend jede mögliche Störung oder Zerstörung bewirken, ihr teils gesundes, teils krankhaftes Suchen nach Bewährungen außerhalb des Hauses - ist der Erfolg davon, daß die Technik in ihrer Objektivität einen eigenen und schnelleren Gang genommen hat, als die Entwicklungsmöglichkeiten der Personen. Aus einem entsprechenden Verhältnis soll der vielfach unbefriedigende Charakter moderner Ehen folgen. Die festgewordenen, die Individuen zwingenden Formen und Lebensgewohnheiten der Ehe stünden einer persönlichen Entwicklung der Kontrahenten, insbesondere der der Frau gegenüber, die weit über jene hinausgewachsen sei. Die Individuen wären jetzt auf eine Freiheit, ein Verständnis, eine Gleichheit der Rechte und Ausbildungen angelegt, für die das eheliche Leben, wie es nun einmal traditionell und objektiv gefestigt ist, keinen rechten Raum gäbe. Der objektive Geist der Ehe, so könnte man dies formulieren, sei hinter den subjektiven Geistern an Entwicklung zurückgeblieben. Nicht anders das Recht: von gewissen Grundtatsachen aus logisch entwickelt, in einem Kodex fester Gesetze niedergelegt, von einem besonderen Stande getragen, gewinnt es den anderweitigen, von den Personen empfundenen Verhältnissen und Bedürfnissen des Lebens gegenüber jene Starrheit, durch die es sich schließlich wie eine ewige Krankheit forterbt, Vernunft zum Unsinn, Wohltat zur Plage wird. Sobald die religiösen Impulse sich zu einem Schatz bestimmter Dogmen kristallisiert haben und diese arbeitsteilig durch eine, von den Gläubigen gesonderte, Körperschaft getragen werden, geht es der Religion nicht besser. Behält man diese relative Selbständigkeit des Lebens im Auge, mit der die objektiv gewordenen Kulturgebilde, der Niederschlag der geschichtlichen Elementarbewegungen, den Subjekten gegenüberstehen, so dürfte die Frage nach dem Fortschritt in der Geschichte viel von ihrer Ratlosigkeit verlieren. Daß sich Beweis und Gegenbeweis mit gleicher Plausibilität an jede Beantwortung derselben knüpfen läßt, liegt vielleicht oft daran, daß beide gar nicht denselben Gegenstand haben. So kann man z.B. mit demselben Recht den Fortschritt wie die Unveränderlichkeit in der sittlichen Verfassung behaupten, wenn man einmal auf die festgewordenen Prinzipien, die Organisationen, die in das Bewußtsein der Gesamtheit aufgestiegenen Imperative hinsieht, das andere Mal auf das Verhältnis der Einzelpersonen zu diesen objektiven Idealen, die Zulänglichkeit oder Unzulänglichkeit, mit der sich das Subjekt in sittlicher Hinsicht benimmt. Fortschritte und Stagnation können so unmittelbar nebeneinander liegen, und zwar nicht nur in verschiedenen Provinzen des geschichtlichen Lebens, sondern in einer und derselben, je nachdem man die Evolution der Subjekte oder die der Gebilde ins Auge faßt, die zwar aus den Beiträgen der Individuen entstanden sind, aber ein eigenes, objektiv geistiges Leben gewonnen haben.