III. [Die Rhythmik oder Symmetrie der Lebensinhalte und ihr Gegenteil]
Man kann den Rhythmus als die auf die Zeit übertragene Symmetrie bezeichnen, wie die Symmetrie als Rhythmus im Raum. Wenn man rhythmische Bewegungen in Linien zeichnet, so werden diese symmetrisch; und umgekehrt: die Betrachtung des Symmetrischen ist ein rhythmisches Vorstellen. Beides sind nur verschiedene Formen desselben Grundmotives. Wie in den Künsten des Ohres der Rhythmus, so ist in denen des Auges die Symmetrie der Anfang aller Gestaltung des Materiales. Um überhaupt in die Dinge Idee, Sinn, Harmonie zu bringen, muß man sie zunächst symmetrisch gestalten, die Teile des Ganzen untereinander ausgleichen, sie ebenmäßig um einen Mittelpunkt herum ordnen. Die formgebende Macht des Menschen gegenüber der Zufälligkeit und Wirrnis der bloß natürlichen Gestaltung wird damit auf die schnellste, sichtbarste und unmittelbarste Art versinnlicht. Die Symmetrie ist der erste Kraftbeweis des Rationalismus, mit dem er uns von der Sinnlosigkeit der Dinge und ihrem einfachen Hinnehmen erlöst. Deshalb sind auch die Sprachen unkultivierter Völker oft viel symmetrischer gebaut, als die Kultursprachen, und sogar die soziale Struktur zeigt z.B. in den » Hundertschaften«, die das Organisationsprinzip der verschiedensten Völker niederer Stufe bilden, die symmetrische Einteilung als einen ersten Versuch der Intelligenz, die Massen in eine überschaubare und lenkbare Form zu bringen. Die symmetrische Anordnung ist, wie gesagt, durchaus rationalistischen Wesens, sie erleichtert die Beherrschung des Vielen und der Vielen von einem Punkte aus. Die Anstöße setzen sich länger, widerstandsloser, berechenbarer durch ein symmetrisch angeordnetes Medium fort, als wenn der innere Bau und die Grenzen der Teile unregelmäßig und fluktuierend sind. Wenn Dinge und Menschen unter das Joch des Systems gebeugt - d.h. symmetrisch angeordnet - sind, so wird der Verstand am schnellsten mit ihnen fertig. Daher hat sowohl der Despotismus wie der Sozialismus besonders starke Neigungen zu symmetrischen Konstruktionen der Gesellschaft, beide, weil es sich für sie um eine starke Zentralisierung der letzteren handelt, um derentwillen die Individualität der Elemente, die Ungleichmäßigkeit ihrer Formen und Verhältnisse zur Symmetrie nivelliert werden muß. In äußerlichem Symbol: Ludwig XIV. soll seine Gesundheit aufs Spiel gesetzt haben, um Türen und Fenster symmetrisch zu haben. Und ebenso konstruieren sozialistische Utopien die lokalen Einzelheiten ihrer Idealstädte oder -staaten immer nach dem Prinzip der Symmetrie: entweder in Kreisform oder in quadratischer Form werden die Ortschaften oder Gebäude angeordnet. In Campanellas Sonnenstaat ist der Plan der Reichshauptstadt mathematisch abgezirkelt, ebenso wie die Tageseinteilung der Bürger und die Abstufung ihrer Rechte und Pflichten. Rabelais Orden der Thelemiten lehrt, in Opposition zu Morus, einen so absoluten Individualismus, daß es in diesem Utopien keine Uhr geben darf, sondern alles nach Bedürfnis und Gelegenheit geschehen soll; aber der Stil der unbedingten Ausgerechnetheit und Rationalisierung des Lebens verlockt ihn doch, die Gebäulichkeiten seines Idealstaates genau symmetrisch anzuordnen: ein Riesenbau in Form eines Sechsecks, in jeder Ecke ein Turm, sechzig Schritt im Durchmesser. Die »Bauhütte« der mittelalterlichen Baugenossenschaften mit ihrer strengen, abgezirkelten, Alles normierenden Lebensweise und Verfassung war möglichst in quadratischer Form gebaut. Dieser allgemeine Zug sozialistischer Pläne zeugt nur in roher Form für die tiefe Anziehungskraft, die der Gedanke der harmonischen, innerlich ausgeglichenen, allen Widerstand der irrationalen Individualität überwindenden Organisation des menschlichen Tuns ausübt. Die symmetrisch-rhythmische Gestaltung bietet sich so als die erste und einfachste dar, mit der der Verstand den Stoff des Lebens gleichsam stilisiert, beherrschbar und assimilierbar macht, als das erste Schema, vermöge dessen er sich in die Dinge hineinbilden kann. Aber eben damit ist auch die Grenze für Sinn und Recht dieses Lebensstiles angedeutet. Denn nach zwei Seiten hin wirkt er vergewaltigend: einmal auf das Subjekt, dessen Impulse und Bedürfnisse doch nicht in prästabilierter, sondern jedesmal nur glücklich-zufälliger Harmonie mit jenem feststehenden Schema auftreten; und nicht weniger der äußeren Wirklichkeit gegenüber, deren Kräfte und Verhältnisse zu uns sich nur gewaltsam in einen so einfachen Rahmen fassen lassen. Unter richtiger Verteilung auf die verschiedenen Geltungsgebiete kann man dies, mit nur scheinbarer Paradoxie, so aussprechen: die Natur ist nicht so symmetrisch wie die Seele es fordert, und die Seele nicht so symmetrisch, wie die Natur es fordert. Alle Gewalttätigkeiten und Inadäquatheiten, die die Systematik gegenüber der Wirklichkeit mit sich bringt, kommen auch der Rhythmisierung und Symmetrie in der Gestaltung der Lebensinhalte zu. Wie es am Einzelmenschen zwar eine erhebliche Kraft verrät, wenn er Personen und Dinge sich assimiliert, indem er ihnen die Form und das Gesetz seines Wesens aufzwingt, wie aber der noch größere Mensch den Dingen in ihrer Eigenart gerecht wird und sie gerade mit dieser und gemäß ihrer in den Kreis seiner Zwecke und seiner Macht hineinzieht - so ist es zwar schon eine Höhe des Menschlichen, die theoretische und praktische Welt in ein Schema von uns aus zu zwingen; größer aber ist es, die eigenen Gesetze und Forderungen der Dinge anerkennend und ihnen folgsam, sie erst so in unser Wesen und Wirken einzubauen. Denn das beweist nicht nur eine sehr viel größere Expansionsfähigkeit und Bildsamkeit des letzteren, sondern es kann auch den Reichtum und die Möglichkeiten der Dinge viel gründlicher ausschöpfen. Deshalb sehen wir zwar auf manchen Gebieten den Rhythmus als das spätere, das rationalistisch- systematische Prinzip als die nicht zu überwindende Entwicklungsstufe, andere aber lassen diese der Gestaltung von Fall zu Fall Platz machen und lösen die Vorbestimmtheit des mitgebrachten Schemas in die wechselnden Ansprüche der Sache selbst auf. So sehen wir z.B. daß erst in höheren Kulturverhältnissen die Einrichtung regelmäßiger Mahlzeiten den Tag im allgemeinen rhythmisch gliedert; eine Mehrzahl fester täglicher Mahlzeiten scheint bei keinem Naturvolk vorzukommen. Im Gegensatz dazu haben wir freilich schon oben bemerkt, daß in bezug auf das Ganze der Ernährung Naturvölker oft einen regelmäßigen Rhythmus von Entbehrungsperioden und Zeiten schwelgerischen Verjubelns haben, den die höhere Wirtschaftstechnik völlig beseitigt hat. Allein jene Gleichmäßigkeit täglicher Mahlzeiten erreicht ihre große Stabilität zwar auf sehr hohen, vielleicht aber doch nicht auf den allerhöchsten Stufen der sozialen und geistigen Skala. In der obersten Gesellschaftsschicht erleidet dieselbe durch den Beruf, die Geselligkeit und komplizierte Rücksichten vielerlei Art wieder manchen Abbruch, und zu eben demselben werden den Künstler und den Gelehrten die wechselnden Anforderungen der Sache wie der Stimmungen des Tages veranlassen. Dies weist schon darauf hin, wie sehr der Rhythmus der Mahlzeiten - und sein Gegenteil - dem der Arbeit entspricht. Auch hier lassen verschiedene Reihen ganz verschiedene Verhältnisse erkennen. Der Naturmensch arbeitet genau so unregelmäßig, wie er ißt. Auf gewaltige Kraftanstrengungen, zu denen die Not oder Laune ihn treibt, folgen Zeiten absoluter Faulheit, beides ganz zufällig und prinziplos abwechselnd. Wahrscheinlich mit Recht hat man, wenigstens für die nördlicheren Länder, mit dem pflugmäßigen Ackerbau erst eine feste Ordnung der Tätigkeiten, einen sinnvollen Rhythmus von Anspannung und Abspannung der Kräfte beginnen lassen. Diese Rhythmik erreicht ihren äußersten Grad etwa bei der höheren Fabrikarbeit und bei der Arbeit in Bureaus jeder Art. Auf den Gipfeln der kulturellen Tätigkeit, der wissenschaftlichen, politischen, künstlerischen, kommerziellen, pflegt sie wieder stark herabzusinken; so daß sogar, wenn wir etwa von einem Schriftsteller hören, daß er täglich zu gleicher Minute die Feder in die Hand nimmt und sie zu gleicher wieder fortlegt, dieser stationäre Rhythmus der Produktion uns gegen ihre Inspiration und innere Bedeutung mißtrauisch macht. Aber auch innerhalb des Lohnarbeitertums führt die Entwicklung, wenn auch aus ganz anderen Motiven, zu Ungleichmäßigkeit und Unberechenbarkeit als der späteren Stufe. Bei dem Aufkommen der englischen Großindustrie litten die Arbeiter außerordentlich darunter, daß jede Absatzstockung den Betrieb eines Großunternehmens viel mehr störte, als sie den vieler kleiner gestört hatte, schon weil die Zunft die Verluste zu teilen pflegte. Früher hatten die Meister in schlechten Zeiten auf Vorrat gearbeitet, jetzt wurden die Arbeiter einfach entlassen; früher waren die Löhne jahrweise durch die Obrigkeit fixiert worden, jetzt führte jeder Preisabschlag zu ihrer Herabsetzung. Unter diesen Umständen, so wird berichtet, zogen viele Arbeiter vor, unter dem alten System weiterzuarbeiten, statt die höheren Löhne des neuen mit der größeren Unregelmäßigkeit der Beschäftigung überhaupt zu bezahlen. So hat der Kapitalismus und die entsprechende wirtschaftliche Individualisierung, mindestens strichweise, die Arbeit als Ganzes - darum auch meist ihre Inhalte! - zu etwas viel Unsichrerem gemacht, viel zufälligeren Konstellationen unterworfen, als sie zur Zeit der Zünfte bestanden, wo die größere Stabilität der Arbeitsbedingungen doch auch den sonstigen Lebensinhalten des Tages und Jahres einen viel festeren Rhythmus verlieh. Und was die Gestaltung des Arbeitsinhaltes betrifft, so haben neuere Untersuchungen nachgewiesen, daß derselbe früher, insbesondere bei dem primitiven Zusammenarbeiten und der allenthalben vorkommenden Gesangbegleitung, einen überwiegend rhythmischen Charakter besessen, denselben aber nachher, mit der Vervollkommnung der Werkzeuge und der Individualisierung der Arbeit, wieder eingebüßt habe. Nun enthält zwar gerade der moderne Fabrikbetrieb wieder stark rhythmische Elemente; allein soweit sie den Arbeiter an die Strenge gleichmäßig wiederholter Bewegungen binden, haben sie eine ganz andere subjektive Bedeutung, als jene alte Arbeitsrhythmik. Denn diese folgte den inneren Forderungen physiologisch-psychologischer Energetik, die jetzige aber entweder unmittelbar der rücksichtslos objektiven Maschinenbewegung oder dem Zwange für den einzelnen Arbeiter, als Glied einer Gruppe von Arbeitern, deren jeder nur einen kleinen Teilprozeß verrichtet, mit den anderen Schritt zu halten. Vielleicht erzeugte dies eine Abstumpfung des Gefühls für den Rhythmus überhaupt, die die folgende Erscheinung deuten könnte. Die alten Gesellenschaften kämpften wie die heutigen Gewerkvereine um kürzere Arbeitszeit. Aber während die Gesellenschaften die Arbeit von 5 oder 6 Uhr morgens bis 7 Uhr abends akzeptierten, also eigentlich für den ganzen Tag bis zur Schlafenszeit und dafür energisch auf einen ganz freien Tag drangen - kommt es heute auf Kürzung der täglichen Arbeitszeit an. Die Periode, in der der regelmäßige Wechsel von Arbeit und Erholung stattfindet, ist also für den modernen Arbeiter kürzer geworden. Bei den älteren Arbeitern war das rhythmische Gefühl weit und ausdauernd genug, um sich an der Wochenperiode zu befriedigen. Jetzt aber bedarf dieses - was vielleicht Folge, vielleicht Ausdruck gesunkener Nervenkraft ist - häufigerer Reizung, die Alternierung muß rascher erfolgen, um zu jenem subjektiv erwünschten Erfolge zu kommen.