III. [Moderne Tendenzen auf Distanz-Vergrößerung und -Verkleinerung]
Diese Tendenz würde vielleicht nicht so wirksam und merkbar sein, wenn ihr nicht die entgegengesetzte zur Seite ginge. Das geistige Verhältnis zur Welt, das die moderne Wissenschaft stiftet, ist tatsächlich nach beiden Seiten hin auszudeuten. Gewiß sind schon allein durch Mikroskop und Teleskop unendliche Distanzen zwischen uns und den Dingen überwunden worden; aber sie sind doch für das Bewußtsein erst in dem Augenblick entstanden, in dem es sie auch überwand. Nimmt man hinzu, daß jedes gelöste Rätsel mehr als ein neues aufgibt und das Näher-Herankommen an die Dinge uns sehr oft erst zeigt, wie fern sie uns noch sind - so muß man sagen: die Zeiten der Mythologie, der ganz allgemeinen und oberflächlichen Kenntnisse, der Anthropomorphisierung der Natur lassen in subjektiver Hinsicht, nach der Seite des Gefühls und des, wie immer irrigen, Glaubens, eine geringere Distanz zwischen Menschen und Dingen bestehen, als die jetzige. Alle raffinierten Methoden, durch die wir in das Innere der Natur eindringen, ersetzen doch nur sehr langsam und stückweise ihre innig vertraute Nähe, die die Götter Griechenlands, die Deutung der Welt nach menschlichen Impulsen und Gefühlen, die Lenkung ihrer durch einen persönlich eingreifenden Gott, ihre teleologische Einstellung auf das Wohl des Menschen, der Seele gewährt haben. Wir können das also zunächst so bezeichnen, daß die Entwicklung auf eine Überwindung der Distanz in relativ äußerlicher Hinsicht, auf eine Vergrößerung derselben in innerlicher Hinsicht ginge. Hier kann das Recht dieses symbolischen Ausdrucks sich wieder an seiner Anwendbarkeit auf einen ganz anderen Inhalt zeigen. Die Verhältnisse des modernen Menschen zu seinen Umgebungen entwickeln sich im ganzen so, daß er seinen nächsten Kreisen ferner rückt, um sich den ferneren mehr zu nähern. Die wachsende Lockerung des Familienzusammenhanges, das Gefühl unerträglicher Enge im Gebundensein an den nächsten Kreis, dem gegenüber Hingebung oft ebenso tragisch verläuft wie Befreiung, die steigende Betonung der Individualität, die sich gerade von der unmittelbaren Umgebung am schärfsten abhebt - diese ganze Distanzierung geht Hand in Hand mit der Knüpfung von Beziehungen zu dem Fernsten, mit dem Interessiert-sein für weit Entlegenes, mit der Gedankengemeinschaft mit Kreisen, deren Verbindungen alle räumliche Nähe ersetzen. Das Gesamtbild aus alledem bedeutet doch ein Distanznehmen in den eigentlich innerlichen Beziehungen, ein Distanzverringern in den mehr äußerlichen. Wie die kulturelle Entwicklung bewirkt, daß das früher unbewußt und instinktiv Geschehende später mit klarer Rechenschaft und zerlegendem Bewußtsein geschieht, während andrerseits vieles, wozu es sonst angespannter Aufmerksamkeit und bewußter Mühe bedurfte, zu mechanischer Gewöhnung und instinktmäßiger Selbstverständlichkeit wird - so wird hier, entsprechend, das Entfernteste näher, um den Preis, die Distanz zum Näheren zu erweitern.