Mai 1912
Nestroy und die Nachwelt
Zum 50. Todestage
Wir können sein Andenken nicht feiern, indem wir uns, wie’s einer Nachwelt ziemt, zu einer Schuld bekennen, die wir abzutragen haben. So wollen wir sein Andenken feiern, indem wir uns zu einer Schuld bekennen, die wir zu tragen haben, wir Insassen einer Zeit, welche die Fähigkeit verloren hat, Nachwelt zu sein ... Wie sollte der ewige Bauherr nicht von den Erfahrungen dieses Jahrhunderts lernen? Seitdem es Genies gibt, wurden sie als Trockenwohner in die Zeit gesetzt; sie zogen aus und die Menschheit hatte es wärmer. Seitdem es aber Ingenieure gibt, wird das Haus unwohnlicher. Gott erbarme sich der Entwicklung! Er lasse die Künstler lieber nicht geboren werden, als mit dem Trost, wenn sie auf die Nachwelt kommen, würde diese es besser haben. Diese! Versuche sie es nur, sich als Nachwelt zu fühlen, und sie wird über die Zumutung, ihren Fortschritt dem Umweg des Geistes zu verdanken, eine Lache anschlagen, die zu besagen scheint: Kalodont ist das Beste. Eine Lache, nach einer Idee des Roosevelt, instrumentiert von Bernhard Shaw. Es ist die Lache, die mit allem fertig und zu allem fähig ist. Denn die Techniker haben die Brücke abgebrochen, und Zukunft ist, was sich automatisch anschließt. Diese Geschwindigkeit weiß nicht, daß ihre Leistung nur wichtig ist, ihr selbst zu entrinnen. Leibesgegenwärtig, geisteswiderwärtig, vollkommen wie sie ist, diese Zeit, hofft sie, werde die nächste sie übernehmen, und die Kinder, die der Sport mit der Maschine gezeugt hat und die Zeitung genährt, würden dann noch besser lachen können. Bange machen gilt nicht; meldet sich ein Geist, so heißt es: wir sind komplett. Die Wissenschaft ist aufgestellt, ihnen die hermetische Abschließung von allem Jenseitigen zu garantieren. Die Kunst verjage ihnen die Sorge, welchem Planeten soeben die Gedanken ihrer Vorwelt zugutekommen. Was sich da Welt nennt, weil es in fünfzig Tagen sich selbst bereisen kann, ist fertig, wenn es sich berechnen kann. Um der Frage: Was dann? getrost ins Auge zu sehen, bleibt ihr noch die Zuversicht, mit dem Unberechenbaren fertig zu werden. Sie dankt den Autoren, die ihr das Problem, sei es durch Zeitvertreib abnehmen, sei’s durch Bestreitung. Aber sie muß jenem fluchen, dem sie — tot oder lebendig — als Mahner oder Spielverderber zwischen Geschäft und Erfolg begegnet. Und wenns zum Fluch nicht mehr langt — denn zum Fluchen gehört Andacht —, so langt’s zum Vergessen. Und kaum besinnt sich einmal das Gehirn, daß der Tag der großen Dürre angebrochen ist. Dann verstummt die letzte Orgel, aber noch saust die letzte Maschine, bis auch sie stille steht, weil der Lenker das Wort vergessen hat. Denn der Verstand verstand nicht, daß er mit der Entfernung vom Geist zwar innerhalb der Generation wachsen konnte, aber die Fähigkeit verlor, sich fortzupflanzen. Wenn zweimal zwei wirklich vier ist, wie sie behaupten, so verdankt es dieses Resultat der Tatsache, daß Goethe das Gedicht »Meeresstille« geschrieben hat. Nun aber weiß man so genau, wieviel zweimal zwei ist, daß man es in hundert Jahren nicht mehr wird ausrechnen können. Es muß etwas in die Welt gekommen sein, was es nie früher gegeben hat. Ein Teufelswerk der Humanität. Eine Erfindung, den Kohinoor zu zerschlagen, um sein Licht allen, die es nicht haben, zugänglich zu machen. Fünfzig Jahre läuft schon die Maschine, in die vorn der Geist hineingetan wird, um hinten als Druck herauszukommen, verdünnend, verbreitend, vernichtend. Der Geber verliert, die Beschenkten verarmen, und die Vermittler haben zu leben. Ein Zwischending hat sich eingebürgert, um die Lebenswerte gegeneinander zu Falle zu bringen. Unter dem Pesthauch der Intelligenz schließen Kunst und Menschheit ihren Frieden ... Ein Geist, der heute fünfzig Jahre tot ist und noch immer nicht lebt, ist das erste Opfer dieses Freudenfestes, über das seit damals spaltenlange Berichte erscheinen. Wie es kam, daß solch ein Geist begraben wurde: es müßte der große Inhalt seines satirischen Denkens sein, und ich glaube, er dichtet weiter. Er, Johann Nestroy, kann es sich nicht gefallen lassen, daß alles blieb, wie es ihm mißfallen hat. Die Nachwelt wiederholt seinen Text und kennt ihn nicht; sie lacht nicht mit ihm, sondern gegen ihn, sie widerlegt und bestätigt die Satire durch die Unvergänglichkeit dessen, was Stoff ist. Nicht wie Heine, dessen Witz mit der Welt läuft, der sie dort traf, wo sie gekitzelt sein wollte, und dem sie immer gewachsen war, nicht wie Heine wird sie Nestroy überwinden. Sondern wie der Feige den Starken überwindet, indem er ihm davonläuft und ihn durch einen Literarhistoriker anspucken läßt. Gegen Heine wird man undankbar sein, man wird die Rechte der Mode gegen ihn geltend machen, man wird ihn nicht mehr tragen. Aber immer wird man sagen, daß er den Horizont hatte, daß er ein Befreier war, daß er sich mit Ministern abgegeben hat und zwischendurch noch die Geistesgegenwart hatte, Liebesgedichte zu machen. Anders Nestroy. Keinen Kadosch wird man sagen. Keinem Friedjung wird es gelingen, nachzuweisen, daß Der eine politische Gesinnung hatte, geschweige denn jene, die die politische Gesinnung erst zur Gesinnung macht. Was lag ihm am Herzen? So viel, und darum nichts vom Freisinn. Während draußen die Schuster für die idealsten Güter kämpften, hat er die Schneider Couplets singen lassen. Er hat die Welt nur in Kleingewerbetreibende und Hausherren eingeteilt, in Heraufgekommene und Heruntergekommene, in vazierende Hausknechte und Partikuliers. Daß es aber nicht der Leitartikel, sondern die Welt war, die er so eingeteilt hat, daß sein Witz immer den Weg nahm vom Stand in die Menschheit: solch unverständliches Kapitel überblättert der Hausverstand. Blitze am engen Horizont, so daß sich der Himmel über einem Gewürzgewölbe öffnet, leuchten nicht ein. Nestroy hat aus dem Stand in die Welt gedacht, Heine von der Welt in den Staat. Und das ist mehr. Nestroy bleibt der Spaßmacher, denn sein Spaß, der von der Hobelbank zu den Sternen schlug, kam von der Hobelbank, und von den Sternen wissen wir nichts. Ein irdischer Politiker sagt uns mehr als ein kosmischer Hanswurst. Und da uns die Vermehrung unserer intellektuellen Hausmacht am Herzen liegt, haben wir nichts dagegen, daß die irdischen Hanswurste Nestroy gelegentlich zum Politiker machen und ihn zwingen, das Bekenntnis jener liberalen Bezirksanschauung nachzutragen, ohne die wir uns einen toten Satiriker nicht mehr denken können. Die Phraseure und Riseure geben dann gern zu, daß er ein Spottvogel war oder daß ihm der Schalk im Nacken saß. Und dennoch saß er nur ihnen im Nacken und blies ihre Kalabreser um. Und dennoch sei jenen, die sich zur Kunst herablassen und ihr den Spielraum zwischen den Horizonten gönnen, so von der individuellen Nullität bis zur sozialen Quantität, mit ziemlicher Gewißheit gesagt: Wenn Kunst nicht das ist, was sie glauben und erlauben, sondern die Wegweite ist zwischen einem Geschauten und einem Gedachten, von einem Rinnsal zur Milchstraße die kürzeste Verbindung, so hat es nie unter deutschem Himmel einen Läufer gegeben wie Nestroy. Versteht sich, nie unter denen, die mit lachendem Gesicht zu melden hatten, daß es im Leben häßlich eingerichtet sei. Wir werden seiner Botschaft den Glauben nicht deshalb versagen, weil sie ein Couplet war. Nicht einmal deshalb, weil er in der Geschwindigkeit auch dem Hörer etwas zuliebe gesungen, weil er mit Verachtung der Bedürfnisse des Publikums sie befriedigt hat, um ungehindert empordenken zu können. Oder weil er sein Dynamit in Watte wickelte und seine Welt erst sprengte, nachdem er sie in der Überzeugung befestigt hatte, daß sie die beste der Welten sei, und weil er die Gemütlichkeit zuerst einseifte, wenn’s ans Halsabschneiden ging, und sonst nicht weiter inkommodieren wollte. Auch werden wir, die nicht darauf aus sind, der Wahrheit die Ehre vor dem Geist zu geben, von ihm nicht deshalb geringer denken, weil er oft mit der Unbedenklichkeit des Originals, das Wichtigeres vorhat, sich das Stichwort von Theaterwerkern bringen ließ. Der Vorwurf, der Nestroy gemacht wurde, ist alberner als so manche Fabel, die er einem französischen Handlanger abnahm, alberner als sich irgendeines der Quodlibets im Druck liest, die er dem Volk hinwarf, das zu allen Zeiten den Humor erst ungeschoren läßt, wenn es auch den Hamur bekommt, und damals sich erst entschädigt wußte, wenn es mit einem Vivat der versammelten Hochzeitsgäste nach Hause ging. Er nahm die Schablone, die als Schablone geboren war, um seinen Inhalt zu verstecken, der nicht Schablone werden konnte. Daß auch die niedrige Theaterwirkung hier irgendwie der tieferen Bedeutung zugute kam, indem sie das Publikum von ihr separierte, und daß es selbst wieder tiefere Bedeutung hat, wenn das Orchester die Philosophie mit Tusch verabschiedet, spüren die Literarhistoriker nicht, die wohl fähig sind, Nestroy zu einer politischen Überzeugung, aber nicht, ihm zu dem Text zu verhelfen, der sein unsterblich Teil deckt. Er selbst hatte es nicht vorgesehen. Er schrieb im Stegreif, aber er wußte nicht, daß der Ritt übers Repertoire hinausgehen werde. Er mußte nicht, wiewohl jede Nestroysche Zeile davon zeugt, daß er es gekonnt hätte, sich in künstlerische Selbstzucht vor jenen zurückziehen, die ihn nur für einen Lustigmacher hielten, und der mildere Stoß der Zeit versagte der Antwort noch das Bewußtsein ihrer Endgültigkeit, jenen seligen Anreiz, die Rache am Stoff im Genuß der Form zu besiegeln. Er hätte, wäre er später geboren, wäre er in die Zeit des journalistischen Sprachbetrugs hineingeboren worden, der Sprache gewissenhaft erstattet, was er ihr zu verdanken hatte. Die Zeit, die das geistige Tempo der Masse verlangsamt, hetzt ihren satirischen Widerpart. Die Zeit hätte ihm keine Zeit mehr zu einer so beiläufigen Austragung blutiger Fehde gelassen, wie sie die Bühne erlaubt und verlangt, und kein Orchester wäre melodisch genug gewesen, den Mißton zwischen seiner Natur und der nachgewachsenen Welt zu versöhnen. Sein Eigentlichstes war der Witz, der der Bühnenwirkung widerstrebt, dieser planen Einmaligkeit, der es genügen muß, das Stoffliche des Witzes an den Mann zu bringen, und die im rhythmischen Wurf das Ziel vor dem Gedanken trifft. Auf der Bühne, wo die Höflichkeit gegen das Publikum im Negligé der Sprache einhergeht, war Nestroys Witz nur zu einer Sprechwirkung auszumünzen, die, weitab von den Mitteln einer schauspielerischen Gestaltung, wieder nur ihm selbst gelingen konnte. Sein Eigentlichstes hätte eine zersplitterte Zeit zur stärkeren Konzentrierung im Aphorismus und in der Glosse getrieben, und das vielfältigere Gekreische der Welt hätte seiner ins Innerste des Apparats dringenden Dialektik neue Tonfälle zugeführt. Seiner Satire genügte vorwiegend ein bestimmter Rhythmus, um daran die Fäden einer wahrhaft geistigen Betrachtung aufzuspulen. Manchmal aber sieht sich die Nestroysche Klimax an, als hätten sich die Termini des jeweils perorierenden Standesbewußtseins zu einer Himmelsleiter gestuft. Immer stehen diese vifen Vertreter ihrer Berufsanschauung mit einem Fuß in der Profession, mit dem andern in der Philosophie, und wenn sie auch stets ein anderes Gesicht haben, so ist es doch nur Maske, denn sie haben die eine und einzige Zunge Nestroys, die diesen weisen Wortschwall entfesselt hat. Was sie sonst immer sein mögen, sie sind vor allem Denker und Sprecher und immer in Gefahr, coram publico den Gedanken über dem Atem zu kurz kommen zu lassen. Dieser völlig sprachverbuhlte Humor, bei dem Sinn und Wort sich fangen, umfangen und bis zur Untrennbarkeit, ja bis zur Unkenntlichkeit umschlungen halten, steht über aller szenischen Verständigung und fällt darum in den Souffleurkasten, so nur Shakespeare vergleichbar, von dem auch erst Shakespeare abgezogen werden muß, um die Theaterwirkung zu ergeben. Es wäre denn, daß die Mission einer Bühnenfigur, die ohne Rücksicht auf alles, was hinter ihr vorgeht, zu schnurren und zu schwärmen anhebt, vermöge der Sonderbarkeit dieses Auftretens ihres Beifalls sicher wäre. Noch sonderbarer, daß der in die Dialoge getragene Sprach- und Sprechwitz Nestroys die Gestaltungskraft nicht hemmt, von der genug übrig ist, um ein ganzes Personenverzeichnis auszustatten und neben der Wendung ins Geistige den Schauplatz mit gegenständlicher Laune, Plastik, Spannung und Bewegung zu füllen. Er nimmt fremde Stoffe. Wo aber ist der deutsche Lustspieldichter, der ihm die Kraft abgenommen hätte, aus drei Worten eine Figur zu machen und aus drei Sätzen ein Milieu? Er ist umso schöpferischer, wo er den fremden Stoff zum eigenen Werk erhebt. Er verfährt anders als der bekanntere zeitgenössische Umdichter Hofmannsthal, der ehrwürdigen Kadavern das Fell abzieht, um fragwürdige Leichen darin zu bestatten, und der sich in seinem ernsten Berufe gegen einen Vergleich mit einem Possendichter wohl verwahren würde. Wie alle besseren Leser reduziert Herr v. Hofmannsthal das Werk auf den Stoff. Nestroy bezieht den Stoff von dort, wo er kaum mehr als Stoff war, erfindet das Gefundene, und seine Leistung wäre auch dann noch erheblich, wenn sie nur im Neubau der Handlung und im Wirbel der nachgeschaffenen Situationen bestünde, also nur in der willkommenen Gelegenheit, die Welt zu unterhalten, und nicht auch im freiwilligen Zwang, die Welt zu betrachten. Der höhere Nestroy aber, jener, der keiner fremden Idee etwas verdankt, ist einer, der nur Kopf hat und nicht Gestalt, dem die Rolle nur eine Ausrede ist, um sich auszureden, und dem jedes Wort zu einer Fülle erwächst, die die Gestalten schlägt und selbst jene, die in der Breite des Scholzischen Humors als Grundtype des Wiener Vorstadttheaters vorbildlich dasteht. Nicht der Schauspieler Nestroy, sondern der kostümierte Anwalt seiner satirischen Berechtigung, der Exekutor seiner Anschläge, der Wortführer seiner eigenen Beredsamkeit, mag jene geheimnisvolle und gewiß nicht in ihrem künstlerischen Ursprung erfaßte Wirkung ausgeübt haben, die uns als der Mittelpunkt einer heroischen Theaterzeit überliefert ist. Mit Nestroys Leib mußte die Theaterform seines Geistes absterben, und die Schablone seiner Beweglichkeit, die wir noch da und dort in virtuoser Haltung auftauchen sehen, ist ein angemaßtes Kostüm. In seinen Possen bleibt die Hauptrolle unbesetzt, solange nicht dem Adepten seiner Schminke auch das Erbe seines satirischen Geistes zufällt. Nur die fruchtbare Komik seiner volleren Nebengestalten hat originale Fortsetzer gefunden, wie etwa den Schauspieler Oskar Sachs, dessen Art in ihrer lebendigen Ruhe dem klassischen Carltheater zu entstammen scheint. Aber als Ursprung und Vollendung eines volkstümlichen Typus dürfte ein Girardi, der, ein schauspielerischer Schöpfer, neben der leeren Szene steht, die ihm das Bühnenhandwerk der letzten Jahrzehnte bietet, über den theatralischen Wert der Nestroyschen Kunst hinausragen, welche ihre eigene Geistesfülle nur zu bekleiden hatte. Darum konnte auch ein Bühnenlaie wie Herr Reinhardt einem Girardi einen Nestroy-Zyklus vorschlagen. In Girardi wächst die Gestalt an der Armut der textlichen Unterstützung, bei Nestroy schrumpft sie am Reichtum des Wortes zusammen. In Nestroy ist so viel Literatur, daß sich das Theater sträubt, und er muß für den Schauspieler einspringen. Er kann es, denn es ist geschriebene Schauspielkunst. In dieser Stellvertretung für den Schauspieler, in dieser Verkörperung dessen, was sich den eigentlichen Ansprüchen des Theaters leicht entzieht, lebt ihm heute eine Verwandtschaft, die schon in den geistigen Umrissen der Persönlichkeit hin und wieder erkennbar wird: Frank Wedekind. Auch hier ist ein Überproduktives, das dem organischen Mangel der Figur durch die Identität nachhilft und zwischen Bekenntnis und Glaubhaftigkeit persönlich vermittelt. Der Schauspieler hat eine Rolle für einen Dichter geschrieben, die der Dichter einem Schauspieler nicht anvertrauen würde. In Wedekind stellt sich — wenn ich von einem mir näher liegenden Beispiel sprachsatirischer Nachkommenschaft absehe — ein Monologist vor uns, dem gleichfalls eine scheinbare Herkömmlichkeit und Beiläufigkeit der szenischen Form genügt, um das wahrhaft Neue und Wesentliche an ihr vorbeizusprechen und vorbeizusingen. Auf die Analogie im Tonfall witzig eingestellter Erkenntnisse hat einmal der verstorbene Kritiker Wilheim hingewiesen. Der Tonfall ist jene Äußerlichkeit, auf die es dem Gedanken hauptsächlich ankommt, und es muß irgendwo einen gemeinsamen Standpunkt der Weltbetrachtung geben, wenn Sätze gesprochen werden, die Nestroy so gut gesprochen haben konnte wie Wedekind.
»Sie steht jetzt im zwanzigsten Jahr, war dreimal verheiratet, hat eine kolossale Menge Liebhaber befriedigt, da melden sich auch schließlich die Herzensbedürfnisse.«
Eine solche biographische Anmerkung würde, wie sie ist, auch von einem der Nestroyschen Gedankenträger gemacht werden, wenn er sich mit dem gleichen Schwung der Antithese über das Vorleben seiner Geliebten hinwegsetzen könnte. Und im »Erdgeist« könnte einer ungefähr wieder den wundervollen Satz sprechen, der bei Nestroy vorkommt:
»Ich hab’ einmal einen alten Isabellenschimmel an ein’ Ziegelwagen g’seh’n. Seitdem bring’ ich die Zukunft gar nicht mehr aus’m Sinn.«
Vielleicht aber ist hier das absolut Shakespearische solch blitzhafter Erhellung einer seelischen Landschaft über jeden modernen Vergleich erhaben. Es ist ein Satz, an dem man dem verirrten Auge des neuen Lesers wieder vorstellen möchte, was Lyrik ist: ein Drinnen von einem Draußen geholt, eine volle Einheit. Die angeschaute Realität ins Gefühl aufgenommen, nicht befühlt, bis sie zum Gefühl passe. Man könnte daran die Methode aller Poeterei, aller Feuilletonlyrik nachweisen, die ein passendes Stück Außenwelt sucht, um eine vorrätige Stimmung abzugeben. An solchem Satz bricht der Fall Heine auf und zusammen, denn es bietet sich die tote Gewißheit, daß ein alter Isabellenschimmel zu sinnen anfinge: Wie schön war mein Leben früher — Heut’ muß ich den Wagen zieh’n — O alter Zeiten Gewieher — Dahin bist du, dahin! — Der Wagen aber sprach munter — Das ist der Welten Lauf — Geht der Weg einmal hinunter — so geht er nicht wieder hinauf ... Und wir wären über die Stimmung des Dichters inklusive der ironischen Resignation vollständig informiert. Bei Nestroy, der nur holperige Coupletstrophen gemacht hat, lassen sich in jeder Posse Stellen nachweisen, wo die rein dichterische Führung des Gedankens durch den dicksten Stoff, wo mehr als der Geist: die Vergeistigung sichtbar wird. Es ist der Vorzug, den vor der Schönheit jenes Gesicht hat, das veränderlich ist bis zur Schönheit. Je gröber die Materie, umso eindringlicher der Prozeß. An der Satire ist der sprachliche Anspruch unverdächtiger zu erweisen, an ihr ist der Betrug schwerer als an jener Lyrik, die sich die Sterne nicht erst erwirbt und der die Ferne kein Weg ist, sondern ein Reim. Die Satire ist so recht die Lyrik des Hindernisses, reich entschädigt dafür, daß sie das Hindernis der Lyrik ist. Und wie hat sie beides zusammen: vom Ideal das ganze Ideal und dazu die Ferne! Sie ist nie polemisch, immer schöpferisch, während die falsche Lyrik nur Jasagerei ist, schnöde Berufung der schon vorhandenen Welt. Wie ist sie die wahre Symbolik, die aus den Zeichen einer gefundenen Häßlichkeit auf eine verlorene Schönheit schließt und kleine Sinnbilder für den Begriff der Welt setzt! Die falsche Lyrik, welche die großen Dinge voraussetzt, und die falsche Ironie, welche die großen Dinge negiert, haben nur ein Gesicht, und von der einsamen Träne Heines zum gemeinsamen Lachen des Herrn Shaw führt nur eine Falte. Aber der Witz lästert die Schornsteine, weil er die Sonne bejaht. Und die Säure will den Glanz und der Rost sagt, sie sei nur zersetzend. Die Satire kann eine Religionsstörung begehen, um zur Andacht zu kommen. Sie wird leicht pathetisch. Auch dort, wo sie ein gegebenes Pathos nicht anders einstellt als ein Ding der Außenwelt, damit ihr Widerspruch hindurchspiele. Ja und Nein vermischen sich, vermehren sich, und es entspringt der Gedanke. Ein Spiel, gesinnungslos wie die Liebe. Das Ergebnis dieser vollkommenen Durchdringung, Erhaltung und Verstärkung polarer Strömungen: eine Nestroysche Tirade, eine Offenbachsche Melodie. Hier unterstreicht der Witz, der es auslacht, das Entzücken an einem Schäferspiel; dort schlägt die Verzerrung einer schmachtenden Mondscheinliebe über die Stränge der Parodie ins Transzendente. Das ist der wahre Übermut, dem nichts unheilig ist.
»Mich hat ein echt praktischer Schwärmer versichert, das Reizendste is das, wenn von zwei Liebenden eins früher stirbt und erscheint dem andern als Geist. Ich kann mich in das hineindenken, wenn sie so dasitzet in einer Blumennacht am Gartenfenster, die Tränenperlen vom Mondstrahl überspiegelt, und es wurd’ hinter der Hollerstauden immer weißer und weißer und das Weiße wär’ ich — gänzlich Geist, kein Stückerl Körper, aber dennoch anstandshalber das Leintuch der Ewigkeit über’n Kopf — ich strecket die Arme nach ihr aus, zeiget nach oben auf ein’ Stern, Gotigkeit, ›dort werden wir vereinigt‹ — sie kriegt a Schneid’ auf das Himmelsrendezvous, hast es net g’sehn streift die irdischen Bande ab, und wir verschwebeten, verschmelzeten und verschwingeten uns ins Azurblaue des Nachthimmels ...«
Gewendetes Pathos setzt Pathos voraus, und Nestroys Witz hat immer die Gravität, die noch die besseren Zeiten des Pathos gekannt hat. Er rollt wie der jedes wahren Satirikers die lange Bahn entlang, dorthin wo die Musen stehen, um alle neun zu treffen. Der Raisonneur Nestroy ist der raisonnierende Katalog aller Weltgefühle. Der vertriebene Hanswurst, der im Abschied von der Bühne noch hinter der tragischen Figur seine Spaße machte, scheint für ein Zeitalter mit ihr verschmolzen, und lebt sich in einem Stil aus, der sich ins eigene Herz greift und in einem eigentümlichen Schwebeton, fast auf Jean Paulisch, den Scherz hält, der da mit Entsetzen getrieben wird.
Frau von Zypressenburg: Ist sein Vater auch Jäger? — Titus: Nein, er betreibt ein stilles, abgeschiedenes Geschäft, bei dem die Ruhe seine einzige Arbeit ist; er liegt von höherer Macht gefesselt, und doch ist er frei und unabhängig, denn er ist Verweser seiner selbst; — er ist tot. — Frau von Zypressenburg (für sich): Wie verschwenderisch er mit zwanzig erhabenen Worten das sagt, was man mit einer Silbe sagen kann. Der Mensch hat offenbare Anlagen zum Literaten.
Und es ist die erhabenste und noch immer knappste Paraphrase für einen einsilbigen Zustand, wie hier das Wort um den Tod spielt. Dieses verflossene Pathos, das in die unscheinbarste Zwischenbemerkung einer Nestroyschen Person einfließt, hat die Literarhistoriker glauben machen, dieser Witz habe es auf ihre edlen Regungen abgesehen. In Wahrheit hat er es nur auf ihre Phrasen abgesehen. Nestroy ist der erste deutsche Satiriker, in dem sich die Sprache Gedanken macht über die Dinge. Er erlöst die Sprache vom Starrkrampf, und sie wirft ihm für jede Redensart einen Gedanken ab. Bezeichnend dafür sind Wendungen wie:
»Wann ich mir meinen Verdruß net versaufet, ich müßt’ mich g’rad aus Verzweiflung dem Trünke ergeben.«
Oder:
»Da g’hören die Rüben her! An keine Ordnung g’wöhnt sich das Volk. Kraut und Rüben werfeten s’ untereinand’, als wie Kraut und Rüben.«
Hier lacht sich die Sprache selbst aus. Die Phrase wird bis in die heuchlerische Konvention zurückgetrieben, die sie erschaffen hat:
»Also heraus mit dem Entschluß, meine Holde!« »Aber Herr v. Lips, ich muß ja doch erst ...« »Ich versteh’, vom Neinsagen keine Rede, aber zum Jasagen finden Sie eine Bedenkzeit schicklich.«
Die Phrase dreht sich zur Wahrheit um:
»Ich hab die Not mit Ihnen geteilt, es ist jetzt meine heiligste Pflicht, auch in die guten Tag’ Sie nicht zu verlassen!«
Oder entartet zu Neubildungen, durch die im Munde der Ungebildeten die Sprache der höheren Stände karikiert wird:
»Da kommt auf einmal eine verspätete Sternin erster Größe zur Gesellschaft als glanzpunktischer Umundauf der ambulanten Entreprise ...«
Wie für solche Absicht die bloße Veränderung des Tempus genügt, zeigt ein geniales Beispiel, wo das »sprechen wie einem der Schnabel gewachsen ist« sich selbst berichtigt. Ein Ineinander von Problem und Inhalt:
»Fordere kühn, sprich ohne Scheu, wie dir der Schnabel wuchs!«
Nestroys Leute reden geschwollen, wenn der Witz das Klischee zersetzen oder das demagogische Pathos widerrufen will:
»O, ich will euch ein furchtbarer Hausknecht sein!«
Jeden Domestiken läßt er Schillersätze sprechen, um das Gefühlsleben der Prinzipale zu ernüchtern. Oft aber ist es, als wäre einmal die tragische Figur hinter dem Hanswurst gestanden, denn das Pathos scheint dem Witz beizustehen. Echte Herzenssachen werden abgehandelt, wenn ein Diurnist zu einer Marschandmod’ wie in das Zimmer der Eboli tritt:
»Ihr Dienstbot’ durchbohrt mich — weiß er um unsere ehemalige Liebe?«
Witz und Pathos begleiten sich und wenn sie, von der Zeit noch nicht gereizt, einander auch nicht erzeugen können, so werden sie doch nie aneinander hinfällig. Der Dichter hebt zwar nicht den eigenen Witz unverändert in das eigene Pathos, aber er verstärkt ihn durch das fremde. Sie spielen und entlassen sich gegenseitig unversehrt. Wenn sich Nestroy über das Gefühl hinwegsetzt, so können wir uns darauf verlassen, und wenn sein Witz eine Liebesszene verkürzt, so erledigt er und ersetzt er sämtliche Liebesszenen, die sich in ähnlichen Fällen abspielen könnten. Wo in einer deutschen Posse ist je nach der Verlobung der Herrschaften das Nötige zwischen der Dienerschaft mit weniger Worten veranlaßt worden:
»Was schaut er mich denn gar so an?« »Sie ist in Diensten meiner künftigen Gebieterin, ich bin in Diensten ihres künftigen Gebieters, ich werfe das bloß so hin, weil sich daraus verschiedene Entspinnungen gestalten könnten.« »Kommt Zeit, kommt Rat!«
Und wenn es gilt, an Nestroyschen Dialogstellen sein Abkürzungsverfahren für Psychologie zu zeigen, wo steht eine Szene wie diese zwischen einem Schuster und einem Bedienten:
»Ich gratuliere zum heimlichen Terno, oder was es gewesen und, aber auf Ehr’, ich war ganz paff.« »Der Wirt gar! Der hat noch ein dümmeres Gesicht gemacht als Sie. Wetten S’ ’was, daß ich ihm jetzt zehn Frank’ schuldig bleib’, und er traut sich nix zu sagen ... Ja, einen Dukaten wechseln lassen, das erweckt Respekt.« »Kurios! (Beiseite.) Aber auch Verdacht ... Unser Herr ist verschwunden. Bei dem Proletarier kommt ein Dukaten zum Vorschein ... Hm ... Sie sind Schuster?« »So sagt die Welt.« »Haben vermutlich einen unverhofften Engländer gedoppelt?« »Ach, Sie möchten gern wissen, wie ein ehrlicher Schuster zu ei’m Dukaten kommt?« »Na ja ... auffallend is es ... Das heißt, interessant nämlich ...« »Als fremder Mensch geht’s Ihnen eigentlich nix an ... aber nein, ich betrachte jeden, den ich im Wirtshaus find’, als eine verwandte Seele. (Ihm die Hand drückend.) Sie sollen alles wissen.« (In neugieriger Spannung.) »Na, also?« »Seh’n Sie, die Sach’ ist die. Es liegt hier eine Begebenheit zu Grunde ... eine im Grunde fürchterliche Begebenheit, die kein Mensch auf Erden je erfahren darf, folglich auch Sie nicht.« »Ja, aber ...« »Drum zeigen Sie sich meines Vertrauens würdig und forschen Sie nicht weiter.«
Solche Werte sind versunken und vergessen. Zeitmangel hat wie überall in der Kunst so vor allem im Theater das Publikum zur Umständlichkeit gewöhnt. Nur diese ermöglichte dem von den Geschäften ermüdeten Verstand, sich auch die Genüsse zu verschaffen, deren Vermittlung er so lange für die Aufgabe der höheren Dramatik hielt: die Fortschritte der neueren Seelenkunde kennen zu lernen, einer Psychologie, die nur Psychrologie ist, die Lehre, sich auf rationelle Art mit den Geheimnissen auseinanderzusetzen, in Spannung gelangweilt von Instruktoren, in Schönheit sterbend vor Langweile, von der französischen Regel de Tri bis zum nordischen Integral. Kein Theaterbesucher, der es über sich gebracht hätte, ohne die nötige Problemschwere zu Bett zu gehen. Dazwischen der Naturalismus, der außer den psychologischen Vorschriften noch andere Forderungen für den Hausgebrauch erfüllte, indem er die Dinge beim rechten Namen nannte, aber vollzählig, daß ihm auch nicht eines fehle, während das Schicksal als richtig gehende Pendeluhr an der Wand hing. Und all dies so lange und so gründlich, bis sich die Rache der gefesselten Bürgerphantasie ein Ventil schuf in der psychologischen Operette. Im abseitigsten Winkel einer Nestroyschen Posse ist mehr Lebenskennerschaft für die Szene und mehr Ausblick in die Soffitte höherer Welten als im Repertoire eines deutschen Jahrzehnts. Hauptmann und Wedekind stehen wie der vornestroysche Raimund als Dichter über den Erwägungen der theatralischen Nützlichkeit. Anzengrubers und seiner Nachkommen Wirkung ist von der Gnade des Dialekts ohne Gefahr nicht loszulösen. Nestroys Dialekt ist Kunstmittel, nicht Krücke. Man kann seine Sprache nicht übersetzen, aber man könnte die Volksstückdichter auf einen hochdeutschen Kulissenwert reduzieren. Nur Literarhistoriker sind imstande, hier einen Aufstieg über Nestroy zu erkennen. Aber daß dieser, selbst wenn seine Ausbeutung für die niedrigen Zwecke des Theatervergnügens auf Undank stieße, als geistige Persönlichkeit mit allem, was auf der Bühne eben noch Hand und Herz oder Glaube und Heimat hat, auch nur genannt werden darf, wäre doch ein Witz, den die Humorlosigkeit sich nicht ungestraft erlauben sollte. Auf jeder Seite Nestroys stehen Worte, die das Grab sprengen, in das ihn die Kunstfremdheit geworfen hat, und den Totengräbern an die Gurgel fahren. Voller Inaktualität, ein fortwirkender Einspruch gegen die Zeitgemäßen. Wortbarrikaden eines Achtundvierzigers gegen die Herrschaft der Banalität; Gedankengänge, in denen die Tat wortspielend sich dem Ernst des Lebens harmlos macht, um ihm desto besser beizukommen. Ein niedriges Genre, so tief unter der Würde eines Historikers wie ein Erdbeben. Aber wie wenn der Witz spürte, daß ihn die Würde nicht ausstehen kann, stellt er sie schon im Voraus so her, daß sie sich mit Recht beleidigt fühlt. Könnte man sich vorstellen, daß die Professionisten des Ideals eine Erscheinung wie Nestroy vorüberziehen ließen, ohne einen sichtbaren Ausdruck ihres Schreckens zu hinterlassen? Die Selbstanzeigen der Theodor Vischer, Laube, Kuh und jener andern besorgten Dignitäre, die sich noch zum hundertsten Geburtstag Nestroys gemeldet haben, sind so verständlich, wie die Urteilspolitik Hebbels, der Nestroy ablehnt, nachdem Nestroys Witz ihm an die tragische Wurzel gegriffen hat, Herrn Saphir lobpreist, von dem weniger schmerzliche Angriffe zu erwarten waren, freilich auch Jean Paul haßt und Heine liebt. Speidels mutige Einsicht unterbricht die Reihe jener, die Nestroy aus Neigung oder anstandshalber verkennen mußten. Was wäre natürlicher als der Widerstand jener, die das heilige Feuer hüten, gegen den Geist, der es überall entzündet? So einer mußte alle Würde und allen Wind der Zeit gegen sich haben. Er stieß oben an die Bildung an und unten an die Banalität. Ein Schriftsteller, der in hochpolitischer Zeit sich mit menschlichen Niedrigkeiten abgibt, und ein Carltheaterschauspieler mit Reflexionen, die vom Besuch des Concordiaballs ausschließen. Er hat die Katzbalgereien der Geschlechter mit Erkenntnissen und Gebärden begleitet, welche die Güterverwalter des Lebens ihm als Zoten anstreichen mußten, und er hat im sozialen Punkt nie Farbe bekannt, immer nur Persönlichkeit. Ja, er hat den politischen Beruf ergriffen — wie ein Wächter den Taschendieb. Und nicht die Lächerlichkeiten innerhalb der Politik lockten seine Aufmerksamkeit, sondern die Lächerlichkeit der Politik. Er war Denker, und konnte darum weder liberal noch antiliberal denken. Und wohl mag sich dort eher der Verdacht antiliberaler Gesinnung einstellen, wo der Gedanke sich über die Region erhebt, in der das Seelenheil von solcher Entscheidung abhängt, und wo er zum Witz wird, weil er sie passieren mußte. Wie verwirrend gesinnungslos die Kunst ist, zeigte der Satiriker durch die Fähigkeit, Worte zu setzen, die die scheinbare Tendenz seiner Handlung sprengen, so daß der Historiker nicht weiß, ob er sich an die gelobte Revolution halten soll oder an die verhöhnten Krähwinkler, an die Verspottung der Teufelsfurcht oder an ein fanatisches Glaubensbekenntnis. Selbst der Historiker aber spürt den Widerspruch des Satirikers gegen die Behaftung der Menschlichkeit mit intellektuellen Scheinwerten und hat kein anderes Schutzmittel der Erklärung als Nestroys Furcht vor der Polizei. Der Liberale ruft immer nach der Polizei, um den Künstler der Feigheit zu beschuldigen. Der Künstler aber nimmt so wenig Partei, daß er Partei nimmt für die Lüge der Tradition gegen die Wahrheit des Schwindels. Nestroy weiß, wo Gefahr ist. Er erkennt, daß wissen nichts glauben heißt. Er hört bereits die Raben der Freiheit, die schwarz sind von Druckerschwärze. Schon schnarrt ihm die Bildung ihren imponierenden Tonfall ins Gebet. Wie erlauscht er das Rotwelsch, womit die Jurisprudenz das Recht überredet! Wie holt er die terminologische Anmaßung heraus, mit der sich leere Fächer vor der wissensgläubigen Menschheit füllen. Und statt der Religion die Pfaffen, wirft er der Aufklärung lieber die Journalisten vor und dem Fortschritt die Wissenschaftlhuber. Man höre heute den Gallimathias, den der Kometenschuster im Lumpazivagabundus erzeugt. Nach einem unvergleichlichen Aufblick, mit dem er einer skeptischen Tischlerin nachsieht:
Die glaubt net an den Kometen, die wird Augen machen ...
fährt er fort:
Ich hab’ die Sach’ schon lang heraus. Das Astralfeuer des Sonnenzirkels ist in der goldenen Zahl des Urions von dem Sternbild des Planetensystems in das Universum der Parallaxe mittelst des Fixstern-Quadranten in die Ellipse der Ekliptik geraten; folglich muß durch die Diagonale der Approximation der perpendikulären Zirkeln der nächste Komet die Welt zusammenstoßen. Diese Berechnung is so klar wie Schuhwix ...
Und klingt so glaublich, als ob Nestroy das Problem des »Grubenhundes« an der journalistischen Quelle studiert hätte. Der Satz hätte, wie er ist, achtzig Jahre später, als wieder statt eines Kometen die Astronomen sich persönlich bemühten, in der Neuen Freien Presse gedruckt werden können. Ich behalte mir auch vor, ihn gelegentlich einzuschicken. Aber noch jenseits solcher Anwendbarkeit in dringenden Fällen will Nestroy nicht veralten. Denn er hat die Hinfälligkeit der Menschennatur so sicher vorgemerkt, daß sich auch die Nachwelt von ihm beobachtet fühlen könnte, wenn ihr nicht eine dicke Haut nachgewachsen wäre. Keine Weisheit dringt bei ihr ein, aber mit der Aufklärung läßt sie sich tätowieren. So hält sie sich für schöner als den Vormärz. Da aber die Aufklärung mit der Seife heruntergeht, so muß die Lüge helfen. Diese Gegenwart geht nie ohne eine Schutztruppe von Historikern aus, die ihr die Erinnerung niederknüppeln. Sie hätte es am liebsten, wenn man ihr sagte, der Vormärz verhalte sich zu ihr wie ein Kerzelweib zu einer Elektrizitätsgesellschaft. Der wissenschaftlichen Wahrheit würde es aber besser anstehen, wenn man ihr sagte, der Vormärz sei das Licht und sie sei die Aufklärung. Zu den Dogmen ihrer Voraussetzungslosigkeit gehört der Glaube, daß zwar früher die Kunst heiter war, aber jetzt das Leben ernst ist. Und auch daraufscheint sich die Zeit etwas einzubilden. Denn in der Spielsaison, die die erste Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ausfüllt, habe man sich ausschließlich für die Affäre der Demoiselle Palpiti vulgo Tichatschek interessiert, während man jetzt im allgemeinen für die Affäre des Professors Wahrmund schwärmt und nur gelegentlich für die Affäre Treumann. Wenn es sich so verhält, wohl dem Vormärz! Aber der Unterschied ist noch anders zu fassen. Im Zeitalter des Absolutismus war das Theaterinteresse ein Auswuchs des vom politischen Druck aufgetriebenen Kunstgefühls. In der Zeit des allgemeinen Wahlrechts ist der Theatertratsch der Rest der von der politischen Freiheit ausgepowerten Kultur. Unser notorisches Geistesleben mit dem des Vormärz zu vergleichen, ist eine so beispiellose Gemeinheit gegen den Vormärz, daß nur die sittliche Verwahrlosung, die fünfzigtausend Vorstellungen der »Lustigen Witwe« hinterlassen haben, den Exzeß entschuldigen kann. Die große Presse allein hat das Recht, mit Verachtung auf das kleine Kaffeehaus herunterzusehen, das einst mit lächerlich unzulänglichen Mitteln den Personenklatsch verbreitete, ohne den man damals nicht leben konnte, weil die Politik verboten war, während man heute ohne ihn nicht leben kann, weil die Politik erlaubt ist. Ein Jahrzehnt phraseologischer Knechtung hat der Volksphantasie mehr Kulissenmist zugeführt als ein Jahrhundert absolutistischer Herrschaft, und mit dem wichtigen Unterschied, daß die geistige Produktivkraft durch Verbote ebenso gefordert wurde, wie sie durch Leitartikel gelähmt wird. Man darf aber ja nicht glauben, daß sich das Volk so direkt vom Theater in die Politik abführen ließ. Der Weg der erlaubten Spiele geht durchs Tarock. Das müssen die liberalen Erzieher zugeben. Wie sich die Rhetorik des Fortschritts verspricht und die Wahrheit sagt, ist zum Entzücken in der Darstellung eines Sittenschilderers aus den achtziger Jahren nachzulesen, der die alte Backhendlzeit des Theaterkultus ablehnt und den neugebackenen Lebensernst wie folgt serviert:
Die Zeit ist eine andere geworden, als wie sie anno Bäuerle, Meisl und Gleich war, und wenn auch die alte Garde des unvermischten Wienertums, die ehrenwerten Familien derer von »Grammerstädter, Biz, Hartriegel und Schwenninger« ihrem ererbten Theaterdrange insoferne Genüge leisten, als sie bei einer Premiere im Fürstschen Musentempel oder bei einer Reprise der »Beiden Grasel« in der Josefstadt nie zu fehlen pflegen, so ist doch das Gros ihrer Kompatrioten durch die mannigfachsten Beweggründe von dem Wege ins Theater längst abgelenkt worden und widmet die freie Zeit einem Tapper, einer Heurigenkost oder den Produktionen einer Volkssängerfirma, die just en vogue ist — Zeit und Menschen sind anders geworden.
Später wurde dann das Leben noch ernster, es kamen die Probleme, die Gschnasfeste, die geologischen Entdeckungen, die Amerikareise des Männergesangvereins, und für noch spätere Zeiten wird es wichtig sein, daß sie erfahren: Nicht im Vormärz ist in den Wiener Zeitungen die folgende Kundmachung erschienen:
Die gestrige Preiskonkurrenz beim »Dummen Kerl« brachte Fräulein Luise Kemtner, der Schwester der bekannten Hernalser Gastwirtin Koncel, mit dem kleinsten Fuß (191/2) und Herrn Moritz Mayer mit der größten Glatze den ersten Preis. Heute werden die engste Damentaille und die größte Nase prämiiert.
So sieht Wien im Jahre 1912 aus. Die Realität ist eine sinnlose Übertreibung aller Details, welche die Satire vor fünfzig Jahren hinterlassen hat. Aber die Nase ist noch größer, der Kerl ist dümmer, wo er sich fortgeschritten glaubt, und die Preiskonkurrenz für die größte Glatze ist das Abbild einer Gerechtigkeit, die die wahren Verdienste erkennt, neben den Resultaten einer Verteilung des Bauernfeldpreises. Ein Blick in die neue Welt, wie sie ein Tag der Kleinen Chronik offenbart, ein Atemzug in dieser gottlosen Luft von Allwissenheit und Allgegenwart zwingt zur vorwurfsvollen Frage: Was hat Nestroy gegen seine Zeitgenossen? Wahrlich, er übereilt sich. Er geht antizipierend seine kleine Umwelt mit einer Schärfe an, die einer späteren Sache würdig wäre. Er tritt bereits seine satirische Erbschaft an. Auf seinen liebenswürdigen Schauplätzen beginnt es da und dort zu tagen, und er wittert die Morgenluft der Verwesung. Er sieht alles das heraufkommen, was nicht heraufkommen wird, um da zu sein, sondern was da sein wird, um heraufzukommen. Mit welcher Inbrunst wäre er sie angesprungen, wenn er sie nach fünfzig Jahren vorgefunden hätte! Wie hätte er die Gemütlichkeit, die solchen Zuwachs duldet, solchen Fremdenverkehr einbürgert, an solcher Mischung erst ihren betrügerischen Inhalt offenbart, wie hätte er die wehrlose Tücke dieses unschuldigen Schielgesichts zu Fratzen geformt! Die Posse, wie sich die falsche Echtheit dem großen Zug bequemt, nicht anpaßt, ist ihm nachgespielt; der Problemdunst allerorten, den die Zeit sich vormacht, um sich die Ewigkeit zu vertreiben, raucht über seinem Grab. Er hat seine Menschheit aus dem Paradeisgartel vertrieben, aber er weiß noch nicht, wie sie sich draußen benehmen wird. Er kehrt um vor einer Nachwelt, die die geistigen Werte leugnet, er erlebt die respektlose Intelligenz nicht, die da weiß, daß die Technik wichtiger sei als die Schönheit, und die nicht weiß, daß die Technik höchstens ein Weg zur Schönheit ist und daß es am Ziel keinen Dank geben darf und daß der Zweck das Mittel ist, das Mittel zu vergessen. Er ahnt noch nicht, daß eine Zeit kommen wird, wo die Weiber ihren Mann stellen und das vertriebene Geschlecht in die Männer flüchtet, um Rache an der Natur zu nehmen. Wo das Talent dem Charakter Schmutzkonkurrenz macht und die Bildung die gute Erziehung vergißt. Wo überall das allgemeine Niveau gehoben wird und niemand draufsteht. Wo alle Individualität haben, und alle dieselbe, und die Hysterie der Klebstoff ist, der die Gesellschaftsordnung zusammenhält. Aber vor allen ihm nachgebornen Fragen — die der Menschheit unentbehrlich sind, seitdem sie die Sagen verlor — hat er doch die Politik erleben können. Er war dabei, als so laut gelärmt wurde, daß die Geister erwachten, was immer die Ablösung für den Geist bedeutet, sich schlafen zu legen. Das gibt dann eine Nachwelt, die auch in fünfzig Jahren nicht zu bereisen ist. Der Satiriker könnte die große Gelegenheit erfassen, aber sie erfaßt ihn nicht mehr. Was fortlebt, ist das Mißverständnis. Nestroys Nachwelt tut vermöge ihrer künstlerischen Unempfindlichkeit dasselbe, was seine Mitwelt getan hat, die im stofflichen Einverständnis mit ihm war: diese nahm ihn als aktuellen Spaßmacher, jene sagt, er sei veraltet. Er trifft die Nachwelt, also versteht sie ihn nicht. Die Satire lebt zwischen den Irrtümern, zwischen einem, der ihr zu nahe, und einem, dem sie zu fern steht. Kunst ist, was den Stoff überdauert. Aber die Probe der Kunst wird auch zur Probe der Zeit, und wenn es immer den nachrückenden Zeiten geglückt war, in der Entfernung vom Stoff die Kunst zu ergreifen, diese hier erlebt die Entfernung von der Kunst und behält den Stoff in der Hand. Ihr ist alles vergangen, was nicht telegraphiert wird. Die ihr Bericht erstatten, ersetzen ihr die Phantasie. Denn eine Zeit, die die Sprache nicht hört, kann nur den Wert der Information beurteilen. Sie kann noch über Witze lachen, wenn sie selbst dem Anlaß beigewohnt hat. Wie sollte sie, deren Gedächtnis nicht weiter reicht als ihre Verdauung, in irgend etwas hinüberlangen können, was nicht unmittelbar aufgeschlossen vor ihr liegt? Vergeistigung dessen, woran man sich nicht mehr erinnert, stört ihre Verdauung. Sie begreift nur mit den Händen. Und Maschinen ersparen auch Hände. Die Organe dieser Zeit widersetzen sich der Bestimmung aller Kunst, in das Verständnis der Nachlebenden einzugehen. Es gibt keine Nachlebenden mehr, es gibt nur noch Lebende, die eine große Genugtuung darüber äußern, daß es sie gibt, daß es eine Gegenwart gibt, die sich ihre Neuigkeiten selbst besorgt und keine Geheimnisse vor der Zukunft hat. Morgenblattfroh krähen sie auf dem zivilisierten Misthaufen, den zur Welt zu formen nicht mehr Sache der Kunst ist. Talent haben sie selbst. Wer ein Lump ist, braucht keine Ehre, wer ein Feigling ist, braucht sich nicht zu fürchten, und wer Geld hat, braucht keine Ehrfurcht zu haben. Nichts darf überleben, Unsterblichkeit ist, was sich überlebt hat. Was liegt, das pickt. Mißgeburten korrigieren das Glück, weil sie behaupten können, daß Heroen Zwitter waren. Herr Bernhard Shaw garantiert für die Überflüssigkeit alles dessen, was sich zwischen Wachen und Schlafen als notwendig herausstellen könnte. Seiner und aller Seichten Ironie ist keine Tiefe unergründlich, seinem und aller Flachen Hochmut keine Höhe unerreichbar. Überall läßt sichs irdisch lachen. Solchem Gelächter aber antwortet die Satire. Denn sie ist die Kunst, die vor allen andern Künsten sich überlebt, aber auch die tote Zeit. Je härter der Stoff, desto größer der Angriff. Je verzweifelter der Kampf, desto stärker die Kunst. Der satirische Künstler steht am Ende einer Entwicklung, die sich der Kunst versagt. Er ist ihr Produkt und ihr hoffnungsloses Gegenteil. Er organisiert die Flucht des Geistes vor der Menschheit, er ist die Rückwärtskonzentrierung. Nach ihm die Sintflut. In den fünfzig Jahren nach seinem Tode hat der Geist Nestroy Dinge erlebt, die ihn zum Weiterleben ermutigen. Er steht eingekeilt zwischen den Dickwänsten aller Berufe, hält Monologe und lacht metaphysisch.
Vgl.: Die Fackel, Nr. 349/350, XIV. Jahr
Wien, 13. Mai 1912.