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Oktober 1912

Der Ton

Es gibt nur einen Ton, und die Kongruenz von Blatt und Welt muß in jeder Minute und in jeder Zeile nachzuweisen sein. Das Blatt spricht wie die Welt, weil die Welt wie das Blatt spricht. Das Blatt spricht aber auch wie die Familie, weil die Welt wie die Familie spricht und die Familie wie die Welt. Es gibt nur einen Ton, und das ist der Ton der Leute, die besorgt sind, weil die Leute noch nicht versorgt sind, und es gibt nur einen Standpunkt zu den Ereignissen und der lautet: ss ..! oder, wenn es große Ereignisse sind: sss ...! Alle Publizistik ist nur ein kühner Versuch der Umschreibung von Sentiments, die sich in einem Laut abmachen lassen. Wenn eine Mutter ihr neugebornes Kind tötet, was bei unserer Ordnung der Dinge sehr häufig vorkommt und jedenfalls in einem unpersönlichen Sinne humaner ist, als wenn sie es sich zum Kolporteur von Josefsblättern oder zur Verfasserin einer Zuschrift über den Parsifalschutz auswachsen ließe, so findet der Ton den Ausdruck: »Das eigene Kind in die Donau geworfen«. Es ist zwar noch nie oder gewiß sehr selten vorgekommen, daß eine Frau ein fremdes Kind in die Donau wirft, denn so heroisch fühlt keine, daß sie um den Preis des eigenen Lebens fremde Kinder den Infamien der Welt entziehen wird. Der Ton müßte das noch viel ärger finden; aber er ist so im Familiengefühl verankert, daß er selbst vom Standpunkt der herrschenden Auffassung den Mord am eigenen Kinde für verwerflicher hält als den am fremden. Darum sagt er mit entsetztem Kopfschütteln: »ss ..! Das eigene Kind in die Donau geworfen!« Und wenn »zum zweitenmal innerhalb kurzer Zeit eine ledige Mutter wegen Verbrechens des Mordes angeklagt ist, weil sie das eigene Kind getötet hat«, so findet der Ton die Aufschrift: »Das eigene Kind vergiftet«. Der Ton begreift ja auch, daß es schlimmer sei, sich selbst als einem andern zu schaden, und würde gegebenen Falls die Formel finden: »Das eigene Geschäft vernachlässigt«. Wenn sich zwei junge Mädchen umgebracht haben, so meldet der Ton, der sofort im Einverständnis mit den Familien ist, wiewohl es andersgläubige Familien sind: »Die H. ist die Tochter einer verwitweten Wäscherin, die außer ihr noch fünf Kinder hat, die A. ist die Tochter eines Bahnarbeiters und hat sechs Geschwister. Beide Mädchen waren etwas überspannt«. Die A. wollte nämlich zum Theater gehen und die H. kannte einen jungen Burschen. »Als man ihr dahinter kam, hat man ihr selbstredend diese Beziehungen verboten.« Die Eltern des Burschen aber wollten es sogar der Bürgerschule, die die H. besuchte, anzeigen, und diese Drohung trieb das Mädchen in den Tod. Hier ist einmal ein fremdes Kind getötet worden, aber das würde der Ton nicht beklagen. Dafür nennt er gern den Chefarzt der Rettungsgesellschaft. Der Ton, den die Tragik schlechter Geschäfte in Mitleidenschaft zieht, hört gern, wie viel einer gewonnen hat, aber noch lieber, wie viel einer verloren hat, und am liebsten, wie viel einer dadurch verloren hat, daß er nicht gewonnen hat. Er redigiert in diesem Sinne alle Rubriken und korrespondiert aus allen Städten. Aus Paris meldet er: Rochefort hat sich zurückgezogen. Verbittert. Er hat in der letzten Zeit schmerzvolle Enttäuschungen erlebt: »mehrere Stücke, welche bei der Auktion Doucet vor einigen Wochen Preise bis zu einer halben Million einbrachten, waren früher im Besitze von Rochefort gewesen, welcher diese wertvollen Kunstwerke um einige hundert Franks erworben und um 3000 bis 4000 Franks verkauft hatte.« Dazu noch ein schweres Leiden, sagt der Ton. Der Ton hält es mit Beschwerden aller Art. Er führt natürlich alle Eisen- und Straßenbahnbeschwerden und sonstigen Artikel. Einem Übelstand nun ist es in der Regel ganz gleichgültig, ob er den Beschwerdeführer selbst oder nur einen Verwandten betroffen hat. Der Ton aber legt Wert darauf, daß man bei dieser Gelegenheit auch einiges über die Familie erfahre: daß der Beschwerdeführer gut verheiratet ist, ein schönes Haus führt und abgesehen von der vorübergehenden Störung durch die Eisen- oder Straßenbahn in geordneten Verhältnissen lebt. »Neulich wollte meine Frau in der Operngasse —«, sagt der Ton. Besonders Schwägerinnen stehen ihm nah. »Neulich wollte meine Schwägerin mit ihrem Onkel« und dergleichen. Der Ton würde es für unehrlich halten, sich selbst eine Beschwerde zuzuschreiben, die er nicht erlebt hat. Da dem Ton aber die fremde Familie so ans Herz gewachsen ist wie die eigene, so kommt er am liebsten dort in Schwingungen, wo er sie alle zusammen umfassen kann, nämlich wenn es sich um die Völkerfamilie handelt. Wenn diese einen Geburtstag feiert, beginnt er sich Mitte August zu interessieren und hört erst Mitte Oktober auf und wird nicht heiser, wenn er unermüdlich versichert, daß sie sich auch hier, auch dort, wie immer so auch diesmal und wie alljährlich so auch heuer und gleichfalls im blumengeschmückten Saal und in würdiger Weise und im Lichterglanz nach einem vorzüglichen oder gar opulenten Souper versammelt oder nach eingenommenem Souper in heiterer Festesstimmung in die Nebenräume begeben haben, wo eine gewählte Gesellschaft lauschte. Der Ton ist gastfreundlich und läßt jedermann jederzeit und überall sich »wie zuhause« fühlen. Oft freilich — kein Wunder, wenn man so viel Gäste hat — verwechselt der Ton die Begeisterung mit der Beschwerde, indem er etwa ausführt: »Am nächsten Morgen weckten 24 Salutschüsse, die im nahegelegenen Sperrfort Plätzwiese abgefeuert wurden, die zahlreichen Hotelgäste Vier Generaldechargen wurden abgegeben, deren Echo in den Bergen tausendfach widerhallte .... Aus aller Munde ertönte die Volkshymne.« Wenn nicht zum Glück den Abend ein Tanzkränzchen beschlossen hätte, an dem Jung und Alt teilnahm, würde man rein glauben, der Ton sei nervös, mißvergnügt, gar illoyal und wolle sich über die Störungen eines ohnedies verpatzten Sommers beschweren.

Im Sommer gibts Fliegen, und die Fliegen fühlen sich überall wie zuhause. Wir glauben, es sei Geschmeiß. Sie aber wissen es nicht. Man darf es ihnen nicht sagen. Sie haben Zeitungen, durch die sie sich nur mitteilen, wo sie sind und daß sie sich wie zuhause fühlen. Der Ton ist das einzige Verständigungsmittel der Fliegen. Dieses Gesumme ist allerorten. Kommt der Ton, was er mit Vorliebe tut, nach St. Moritz, so ist er »nicht wenig überrascht, in den wohlgepflegten Kuranlagen des waldgebetteten Gebirgsorts dieselben Bekannten anzutreffen, denen die Karlsbader Brunnenfee noch vor kurzem den perlenden Verjüngungstrunk gereicht hatte. So verblüffend war die Fülle der längstvertrauten Gestalten ...« Sie haben also leider doch nicht abgenommen, weder an Fülle noch an Menge. Der Ton kommt aber »auf dem sommerlichen Exodus der fashionablen Welt« sehr, sehr weit, bis zum Deuteronomium und ruft: »Interessante Gesellschaft in Biarritz.« Der Ton gibt also vor, nur eine Spitzmarke zu wählen, in Wirklichkeit tut er einen Aufschrei wie beim Anblick des gelobten Landes. Aber wenn der Ton für einen Ort schwärmt, so ist es — Ischl? Selbstredend, aber vor allem Edlach. Es geht nichts über Edlach. Erstens ist er dort mit dem Sanatorium verwandt und hat billigere Preise. Zweitens fühlt man sich wie zuhause und drittens interessiert er sich andauernd für das Befinden des türkischen Thronfolgers Jussuf Izzeddin, der sich bekanntlich in dem idyllischen Edlach aufhält, wo er, wie ebenfalls schon mitgeteilt wurde, in Behandlung des kaiserlichen Rates — das weitere ist auch schon bekannt. Die türkische Frage, die der Ton kennt, lautet: Wie gehts ihm? Dem kranken Mann in Edlach nämlich. Kuranstalten brauchen immer zu ihrer Erholung einen Khedive oder ähnliches und Neurosen inklinieren zu wohlhabenden Orientalen. Man kann sich kein Sanatorium ohne einen leidenden Achmed vorstellen. Da wird dann drauflos gelebt, und der Ton ist so gut auf den Betrieb wie der Betrieb auf den Ton eingeschworen. Was hat ein Sanatorium schon davon, wenn dort die ganze erholungsbedürftige Familie Mammonides aus Kairo absteigt. Eine ständige Rubrik muß man haben, und das treffen sie nur in Marienbad oder Edlach. Eine Depression eines türkischen Thronfolgers ist mehr wert als hundert Paralysen unter der Woche. Der Ton diktiert natürlich auch das offizielle Bulletin, das täglich ausgegeben wird und in welchem viel Beruhigendes steht, zum Beispiel, daß der Patient seine Behandlung nimmt und seine täglichen Promenaden macht. Zur äußersten Vorsicht und zur speziellen Beruhigung interveniert noch ein Freund des Blattes, der sich zufällig auch in Edlach aufhält, und dieser erzählt, daß der Dr. Konried lange Zeit vergebens gekämpft hat, nämlich gegen die Gewohnheit des Prinzen, nach dem Souper noch spät in die Nacht hinein aufzubleiben. Zuerst war der Prinz mißmutig. Infolgedessen war auch der Ton mißmutig. Dann war der Prinz griesgrämig. So war auch der Ton griesgrämig. Aber er ließ doch immer durchhören, daß er an eine Besserung im Befinden des Prinzen im Innersten glaube. Immer sagt ja der Sanatoriumsarzt, wenn der Kranke schon am ersten Tag über die Wurzerei rabiat wird und vor den Herausreißern Reißaus nehmen möchte, zu den Angehörigen: »Er wird sich beruhigen, er wird sich beruhigen, seien Sie ganz beruhigt, er wird sich beruhigen.« Richtig, er beruhigte sich. So daß er jetzt schon komplett ruhig ist. Jetzt fühlt er sich täglich wohler, sieht blühend aus, ißt gut, was will man mehr, unterhält sich und gedenkt natürlich noch lange Zeit zu verweilen, wiewohl er eigentlich schon pumperlgesund ist. Er will überhaupt nicht mehr weg. Er kann sich nicht trennen. Sein Wohlbefinden wirkt auf seine gute Laune nach, seine gute Laune auf sein Wohlbefinden, täglich macht er Spaziergänge und ist in bester Laune, was wieder, wie der Ton bemerkt, von seinem Wohlbefinden zeugt. Die Hoteldirektion zerstreut ihn, wie sie kann. Er hat sich bereits vollständig eingelebt. Die würzige Luft trägt das ihrige bei. Mit einem Wort, er fühlt sich wie zuhause. Fortwährend nimmt er etwas. Kein Mensch protestiert dagegen. Um 8 Uhr morgens nimmt er ein Bad. Es wird zu diesem Zweck eine Wanne in das Zimmer gestellt, und ein Badewärter der Kuranstalt verabfolgt ihm die in der Kur vorgeschriebenen Waschungen und Abreibungen. Der Ton beneidet den Badewärter. Dann nimmt er — wir haben’s uns gedacht — sein Frühstück. Bestehend aus. Nach einiger Zeit erscheint unter feierlichen Verbeugungen der Leibeunuch, und mit seiner Hilfe wird Morgentoilette gemacht. Es läßt sich gar nicht sagen, wie der Ton den Leibeunuchen beneidet. In die Fenster des Hotels darf niemand hineinschauen. Ausgenommen Rax und Schneeberg. Der Ton beneidet sie. Schlag halb 1 wird das Dejeuner genommen. Bestehend aus. »Das Menü bestimmt als oberste Behörde natürlich der Arzt.« Natürlich. Hauptsach ist die Diät in solchen Fällen. Er scheint ein starker Esser zu sein. Aber das gibts in Edlach nicht! Hier heißt es parieren und tun, was der Dokter sagt. Man gibt sich natürlich Mühe, in die Beschränkung Abwechslung zu bringen und auf die Besonderheiten Rücksicht zu nehmen. »Nicht selten paradiert auf der Menükarte auch ein echter Pilaw alla turca.« No bin ich brav? sagt der kaiserliche Rat, der natürlich den Ton des Tones hat, und was bekomm ich? No doch auch etwas alla turca, womit man paradieren kann! Der Ton hat ein Herz für Medschidj und Backschisch. Der Prinz benützt doch nicht zum Trinken etwa einen goldenen Becher? Ka Spur, einen güldenen! Das ist, sagt der Ton etwas schalkhaft, das einzige, was an die Märchenpracht des Orients erinnert, sonst ist der Gast die Einfachheit selber. Der Ton hat den Männerstolz vor Königsthronen und den Humor vor Leibstühlen. Hohe Patienten behandelt er wie Kinder, weil sie sonst nicht nehmen, was man ihnen eingibt. No also, er ist ja brav — scheint der Ton immer zu sagen. Natürlich drückt er ein Auge zu und gestattet auch Extravaganzen. Zum Beispiel bleibt man in Edlach, wenn man eigentlich schon ins Betterl gehört, noch beim Kaffee zusammen. Der Kaffee ist natürlich schwarz und obligat und wird auf orientalische Art zubereitet. Wie alles in dieser Angelegenheit. Hierauf folgt die Siesta. Aber dann, »dann gibt es eine sehr wichtige Angelegenheit zu erledigen — das ...«, no no was ist denn — man kann sich ja auf den Ton verlassen, er ist ein feiner Ton, er meint ja nur das Bad, das gleich daneben genommen wird. Alles wird genommen. Nicht zu vergessen das Diner. Bestehend aus. Der Patient, der sich bekanntlich in Edlach aufhält, ist aber wie gesagt schon ganz frisch und hat durch sein liebenswürdiges, bescheidenes Auftreten sich rasch die Sympathien des distinguierten Publikums gewonnen, unter dem er sich bewegt. (Wiewohl ihm nicht viel Bewegung erlaubt ist.) Er ist schon ganz zahm. Wäre er Thronfolger in Persien, könnte man sagen: er frißt aus der Hand. Mit Politik beschäftigt er sich so gut wie gar nicht. Also ganz gut. Die jüngeren Mitglieder des Gefolges dagegen sind unternehmungslustiger, sie haben schon eine Ansprache im Hotel gefunden. Sie spazieren immer in der Gegend herum, auch bilden sie den Mittelpunkt vergnügter Gruppen, die sich dort bilden, und alle Welt ist begeistert von der Liebenswürdigkeit — der Türken? ka Spur, der Fremden aus dem Reiche des Padischah. Es ergibt sich ein Einverständnis: Der Prinz; hierauf Gefolge, Kurgäste, Ärzte, Landbevölkerung, Ritter, Pagen, Vertreter der Presse: Ich bin der Pa — ich bin der schah. Und der Chor weiß schon: Er ist der Pa — er ist der schah. Dann gehts schon von selbst weiter: Ich bin ein Prinz. Er ist ein Prinz. Kein Zweifel — Seine — Hoheit — sinds! ... Ich bin der di. Er ist der schah. Ich bin (Er ist) der Papa Padischah ... Noch hätte der Ton nachzutragen, daß der Prinz, dem die Bewegung nicht erlaubt ist, kein Freund vieler körperlicher Bewegung ist und daß es dem Dr. Konried wieder einen wahren Kampf gekostet hat, bis er ihn dazu bekam, Bewegung zu machen, und daß dem Freund des Blattes, der auch ein Freund der Bewegung ist, jemand versichert hat, der Thronfolger habe die Schweiz Schweiz sein gelassen, liebe nur Edlach und halte Wien für die schönste Stadt Europas und seine Bewohner dementsprechend für die liebenswürdigsten der Europäer. Finale: Ich bin Prinz Jussuf Izzeddin, und drum gefällt’s mir nur in Wien. Chor der Türken: Ja nur in Wien, ja nur in Wien. Chor der Wiener: Am besten ist — er ist hier fremd — wir ziehn ihn aus bis auf das Hemd! ... Es gebe überhaupt keinen liebenswürdigeren Menschen als den Österreicher. Der es sagte, war ein hochgewachsener jüngerer Mann mit schwarzem Schnurrbart und dunklen Orientalenaugen. Der Freund des Blattes hielt ihn deshalb irrtümlich für Nesib Bey. Es herrschte Nebelwetter. Der türkische Thronfolger, der sich bekanntlich in Edlach aufhält, hat sich inzwischen vollständig erholt. Aber das Bild, wie er da hinausgebracht wurde, und dann die bange Zeit, bis man endlich hoffen durfte, und dann die Stadien der Rekonvaleszenz — wer das mitgemacht hat, das vergißt man nicht so bald. Man wird sich noch oft erkundigen müssen, und manchem wird es sich dereinst entringen: Ich bin sonst nicht neugierig — aber wissen möcht ich, wie es dem türkischen Thronfolger Jussuf Izzeddin, der bekanntlich in Edlach weilt, jetzt geht.

Während sich also inzwischen der türkische Thronfolger bereits vollständig erholt hat und der Ton froh war, daß er ihn so weit hatte — denn damit spaßt man nicht —, ist vieles andere noch vorgefallen, was den Ton in Schmerz und Freude zur Teilnahme zwang. Daß die Türkei ihm auch sonst Sorgen macht, weiß man. Und da der Ton bekanntlich ein Wiederkäuer ist und der Phantasie nichts zu verdauen übrig läßt, ja sie vollständig aushungert, so befaßt er sich auch mit den Sorgen, die sich bereits als grundlos erwiesen haben. Er erzählt nicht nur alles, was geschehen ist, dreimal, sondern auch alles, was nicht geschehen ist, viermal. Aus einer Tatsache macht er ein Ereignis, aber wenn die Tatsache nicht eingetroffen ist, so ist es eine Katastrophe für den Ton. Wenn zum Beispiel an die Länderbank kein Telegramm gelangt ist, daß Bulgarien der Türkei den Krieg erklärt habe, so ist er durch drei Seiten erschrocken, braucht vier, um zur Ruhe zu kommen, und fünf, um erleichtert aufzuatmen. Dabei exzediert er natürlich in der Fähigkeit, schon im Titel alles das zu sagen, was den Artikel überflüssig macht. »Alarmierende Gerüchte über eine bulgarische Kriegserklärung.« »Ein Tag der Gerüchte und der Unruhe in der österreichischen Delegation.« Seine Titel sind durchwegs Jerichoposaunen über Mauern, die entweder schon vorher eingestürzt sind oder nie einstürzen werden. Jede Spitzmarke ein Schofar. Manchmal auch zwei. Manchmal auch nur ein Vibrationsapparat, der zur Massage verwendet wird. Besonders bei großen Gelegenheiten, wo Volk angesammelt ist, unentbehrlich. Denn der Ton sagt dann immer: sie begannen sich zu massieren. Wenn dies geschehen ist, zerstreuen sie sich gern. Auch das geschieht mit Alarm. Immer hat der Ton gellende Rufe nötig, um die Unentbehrlichkeit seiner Anwesenheit bei den Ereignissen zu betonen. Man hört förmlich den Krawall, den es wieder in der Redaktion gegeben hat. Man versteht endlich, was ein »Organ« ist und daß es eigentlich ein Orkan ist. Der Ton, der sich wie zuhause fühlt, schreit mit den Redakteuren, er schreit mit dem Publikum, er schreit mit den Ereignissen. Diese Schreie vermitteln einem den Eindruck, daß Berserker auf die Bors ziehen oder homerische Helden direkt aus dem trojanischen Pferd in Österreich eingebrochen sind. Es klingt so: »Eine englische Stimme über den Artikel der Neuen Freien Presse über die Dreadnoughts im Bau.« Die Stimme ist also noch im Bau und wird nie fertig. Denselben Furor betätigt der Ton, wenn er mit einem Satz in den Leitartikel springt. Zum Beispiel: »Tolstoi hat sich angeklagt.« Der Ton beruhigt sich nur, wenn er es mit besseren Leuten zu tun hat. Eine »Entente cordiale« wirkt kalmierend und ein »Exposé« imponiert ihm an und für sich dermaßen, daß er es mit drei e schreiben möcht’. Auch wenn man ihm ein Communiqué gibt, gibt er Ruh. Aber besser ist schon ein Exposé. Welchen Kursvariationen war der Ton nicht in diesem ereignisvollen Herbst ausgesetzt! Er war heftig, wo er gereizt, zärtlich, wo er versöhnt wurde, er war besorgt, er war zufrieden — aber was immer er auch war, so war er immer auch nachdenklich. Scheinbar läßt er sich ja gehen; aber er weiß doch stets, welcher Welt Geschäft und Gefühl er zu verantworten hat. Da er von Haus aus ein guter Ton, ein gebildeter Ton ist, so wird ihm festlich zumute, wenn die Bildung Feste feiert. Er wird aber geradezu orgiastisch, wenn, wo Juristen tagen, gleichzeitig Priester zu tagen wagen. Vor dem Kruzifix sich würdig beherrschend und nur zwischen den Zähnen etwas murmelnd wie: Weit gebracht!, hält er den deutschen Juristentag für die eigentliche Erlösung der Menschheit, und wenn noch dazu die Konzipienten zu tagen beginnen, so ist des Jubels kein Ende. Denn es tagt dann überhaupt. Er kann sich gar nicht fassen über diese glänzende Reihe von Trägern gediegener Namen, alle sind sie markant, die bei Tag über die Todesstrafe debattieren und abends in launigen Toasten brillieren, natürlich auf Wien und die Frauen, oder da die ernste Arbeit selbstredend vom Frohsinn abgelöst wird, sich an Kneipzeitungen delektieren. Natürlich Straßenanzug. Warum? Der Ton erklärt es: Zu ernst, zu gemessen ist der Frack — für den heutigen Abend waren Fröhlichkeit und Herzlichkeit auf die Tagesordnung gesetzt. Überall sah man tatsächlich fröhliche Gesichter, überall bildeten sich Gruppen, und alles war in frischgewonnener Freundschaft zusammengeschlossen. Überall sah man, wie die Einheimischen sich bemühten, den Fremden aus dem Reiche, von einer kleinen Fischvergiftung abgesehen, den Abend so angenehm als möglich zu machen. Alles ging wie am Schnürchen und den Namen des Nestors Unger konnte man jedem förmlich von den Lippen ablesen. Eine alte Schwäche hat der Ton bekanntlich für den Männergesangsverein und er ist deshalb sehr zufrieden, daß auch dieser sich im Kreise der Männer, die die ernste Arbeit hinter sich haben, ein neues Blatt in den Kranz seines Ruhmes geflochten hat. Welcher Sektionschef oder Vertreter des Reichsjustizamtes, der gegen die Abschaffung der Todesstrafe ist, wäre denn nicht gerührt, wenn er »O Diandle tief drunt’ im Tal« zu hören bekommt, he? Natürlich spielt auch die kulturelle Zusammengehörigkeit, die bei solchen Gelegenheiten herauskommt, die größte Rolle und es ist nur in Ordnung, daß hiebei, wenn einmal Berliner und Wiener Juristen schon beisammen sitzen, auch Beethovens in anerkennender Weise gedacht wird. Auch sind Puffendorf (Hamm) und Runge (Kassel) hoch erfreut, daß sie endlich wieder mal mit Swoboda (Krems) und Rosenbacher (Biala) gemütlich beisammen sein können. Man fühlt sich wie zuhause. Umgeben von einem duftigen Kranz von Gärten und inmitten eines Blütenkranzes deutscher Frauen gelangt die Geistesarbeit, nämlich ob man in dem Fall pfänden darf, zu einem gedeihlichen Abschluß. Der Ton ist einfach weg vor Begeisterung. Oft aber auch vor Verlegenheit. Natürlich ist der Ton selbst dort noch hörbar, wo er keinen Ton findet. Denn wenn hundertfünfzig Juristen an verdorbenen Fischen erkranken, so würde es ihnen, wenn man’s weitertratschte, die Freude am Bankett stören, und darum schweigt der Ton und stellt sich erst nach acht Tagen mit einem Achselzucken ein: »Angebliche Vergiftungsfälle nach dem Juristenbankett«. Nicht der Rede wert. Der Ton ist ja besorgt, aber die Angehörigen sollen ihm nichts anmerken. Gesprächig wird er erst in der Administration, wo er sich wie zuhause fühlt; denn dort sind Fischhändler erschienen und versichern, daß ihre Ware unschuldig sei. Der Ton interessiert sich nicht einmal dafür, ob die vergifteten Juristen nicht vielleicht in Ausübung ihrer schweren Pflicht gehandelt haben, um endlich einmal etwas zu erleben, indem sie sich korporativ entschlossen, die Merkmale des Tatbestandes der Übertretung gegen das Lebensmittelgesetz an ihrem eigenen Leib festzustellen. Freilich müßte er dann auch berichten, daß es ihnen nur gelungen ist, des Tatbestandes, aber nicht des Täters habhaft zu werden. Wiewohl geradezu Staatsanwälte erkrankt darniederliegen. Und wenn hundertfünfzig Ärzte — praktischer Weise gleich im Allgemeinen Krankenhaus — nach dem Genuß eines Nußstrudels erkranken, so gleitet der Ton mit der schlichten, aber beruhigenden Versicherung darüber hinweg, daß es sich um eine Vanillinvergiftung handeln dürfte. Er interessiert sich nicht einmal dafür, ob die vergifteten Ärzte nicht vielleicht in Ausübung ihrer schweren Pflicht gehandelt haben, nämlich um die Erscheinungen einer Vanillinvergiftung an ihrem eigenen Leib festzustellen.

Item, Medizin und Jurisprudenz liegen darnieder. Die Philosophie ist zur Stunde gesund, denn sie kann in Ausübung ihres Berufes zwar verblöden, aber nicht erkranken. Und nun stellt sich heraus, daß leider auch die Theologie gesund ist. Wenn der Ton das Glück gehabt hätte, daß auch nur zwei Teilnehmer des Eucharistischen Kongresses bei der Ausspeisung erkrankt wären, er hätte sichs, weiß Gott, einen Leitartikel kosten lassen, und er hat wohlweislich nicht versäumt, jedes Unwohlsein, das sich im Gedränge ereignete, auf die mittelalterliche Tendenz dieser Veranstaltung zurückzuführen. Man muß aber Gottes Wunder preisen, daß der Ton, der so verschiedenartige Interessen hat, auch noch die Zeit zu einem ausgiebigen »Parsifalschutz« findet. Nicht nur, daß er unter der Hand Josefsblätter verteilt, als wär’s ein Schwindelmittel für eine brustkranke Zeit. Er hat sich in den Tagen, da so viele Lebensfremde in Wien anwesend waren, entschlossen, gleich zehntausend Stück »Parsifalschutz« gratis abzugeben. Die Gräßlichkeit dieses Eindrucks, der natürlich nur ein Mißverständnis war, hat der Ton verschuldet. Er tat, als ob er die Kunst für ein so erhabenes Gut hielte wie die Ware selbst, und man mußte glauben, daß er es mit den reinen Toren, die nach Wien gekommen waren, gut meine und einen ausgiebigen Männerschutz Viro auch im Textteil propagieren wolle. Zu der widerlichen Indiskretion dieses Handels kam noch, um das Mißverständnis komplett zu machen, daß der Parsifalschutz auch das Entzücken der Frau war, denn manche bekannte Vorkämpferin hat zu dieser Frage das Wort ergriffen. »Allen Menschen soll alles Schöne zugänglich sein. Julie L.«, schloß sogar eine, eine andere erfüllte es mit Befriedigung, und ein kaiserlicher Rat fügte hinzu, daß er sich angenehm berührt fühle. Aber nicht nur, daß jeder zufrieden war, jeder bestellte auch gleich ein Dutzend. Denn es erhob sich ein großes Pro, Kontra und Rekontra, alles fragte: Haben Sie schon Parsifalschutz? und ein Chorus von Einsendern kicherte: Hihi, nämlich »Hie ›Parsifal‹ — hie ›lex Parsifal‹«. Die Frage, ob der Parsifal profaniert werden solle oder nicht, gelangte schließlich zur Entscheidung: es ist bereits geschehen und die schäbigste Aufführung auf der letzten Schmiere könnte nur als Erholung von dieser Debatte wirken, in der Leute, die sonst seriöse Erdbeben-Zuschriften verfassen, sich mit dem letzten Willen eines Künstlers auseinandergesetzt haben. Ich weiß nichts von Wissenschaft. Aber ich glaube, daß die Erde bebt, wenn solche Dinge im Anzug sind. Seit es diesen Ton in der Welt gibt, verfolgen sich die Jahreszeiten mit Haß und Mutter Natur mordet den neugebornen Frühling. Das eigene Kind getötet! Die Fliegen sind in den Himmel gekommen und fühlen sich wie zuhause. Der Ton, der, was immer er auch sagen mag, nur zwei Fragen an den Künstler hat — wenn der Künstler schafft: »Was haben Sie davon?« und wenn der Künstler haßt: »Was haben Sie gegen ihn?« — dieser Ton, dieser nämliche Ton hat als Zeuge darüber ausgesagt: ob Kunst oder Religion durch ihn entweiht werden könne oder nicht. Er hat die Frage verneint. Er war nicht befangen. O, daß ich ihn vor Gericht stellen könnte, diesen Ton!

Vgl.: Die Fackel, Nr. 357/358/359, XIV. Jahr
Wien, 5. Oktober 1912.