August 1911
Nachwort zu Heine und die Folgen
Die tiefste Bestätigung dessen, was in dieser Schrift gedacht und mit ihr getan ist, wurde ihr: sie fand keine Leser. Ein Gedrucktes, das zugleich ein Geschriebenes ist, findet keine. Und mag es sich durch alle äußeren Vorzüge: den bequemen, noch in feindlicher Betrachtung genehmen Stoff, ein gefälliges Format und selbst durch den billigsten Preis empfehlen — das Publikum läßt sich nicht täuschen, es hat die feinste Nase gegen die Kunst, und sicherer als es den Kitsch zu finden weiß, geht es dem Wert aus dem Wege. Nur der Roman, das Sprachwerk außer der Sprache, das in vollkommenster Gestalt noch dem gemeinen Verstände irgend Halt und Hoffnung läßt, nährt heute seinen Mann. Sonst haben vor dem Leser jene, die ihm mit dem Gedanken im Wort bleiben, einen unendlich schweren Stand neben denen, welche ihn mit dem Wort betrügen. Diesen glaubt er sofort, den andern erst nach hundert Jahren. Und keine irdische Träne aus den Augen, die das Leben vom Tod begraben sehen, verkürzt die Wartezeit. Nichts hilft. Die Zeit muß erst verstinken, um jene, die das sind, was sie können, so beliebt zu machen, wie diese da, welche können, was sie nicht sind. Nur daß dieses Heute noch den besondern Fluch des Zweifels trägt: ob der Kopf, der die Maschine überlebt, auch ihre Folgen überstehen wird. Nie war der Weg von der Kunst zum Publikum so weit; aber nie auch hat es ein so künstliches Mittelding gegeben, eins, das sich von selbst schreibt und von selbst liest, so zwar, daß sie alle schreiben und alle verstehen können und bloß der soziale Zufall entscheidet, wer aus dieser gegen den Geist fortschreitenden Hunnenhorde der Bildung jeweils als Schreiber oder als Leser hervorgeht. Die einzige Fähigkeit, die sie als Erbteil der Natur in Ehren halten: von sich zu geben, was sie gegessen haben, scheint ihnen auf geistigem Gebiet als ein Trick willkommen, durch den es gelingen mag, zwei Verrichtungen in einer Person zu vereinigen, und nur weil es noch einträglichere Geschäfte gibt als das Schreiben, haben sich bisher so viele unter ihnen Zurückhaltung auferlegt und begnügen sich damit, zu essen, was die andern von sich gegeben haben. Wie derselbe Mensch sich in einer Stammtischrunde vervielfacht hat, in der ein Cellist, ein Advokat, ein Philosoph, ein Pferdehändler und ein Maler sitzen, durch den Geist verbunden und nur vom Kellner nach den Fächern unterschieden: so ist zwischen Autor und Leser kein Unterschied. Es gibt bloß noch Einen, und das ist der Feuilletonist. Die Kunst weicht vor ihm zurück wie der Gletscher vor dem Bewohner des Alpenhotels. Einst konnte man den, so rühmten die Führer, mit Händen greifen. Wenn der Leser heute ein Werk mit Händen greifen kann, dann muß das Werk eine üble Seite haben. Der Herausgeber dieser Zeitschrift ist sich durchaus bewußt, daß sie ihr Ansehen großenteils jener Empfänglichkeit verdankt, die sich etwa dem vorzüglichen Romanautor nicht gleich darum entzieht, weil sie vom Hörensagen weiß, daß er auch ein Künstler ist. Er darf sich die Nachsicht getrost zunutze machen. Der Herausgeber der Fackel hat nicht selten das Gefühl, daß er an jener schmarotzt. Sie würde ihm unwiderruflich verweigert, wenn die Leser gar erführen, in welchem Stadium der Unzurechnungsfähigkeit solch witzige Anläßlichkeiten entstehen, von welcher Kraft der Selbstvernichtung diese Treffsicherheit lebt und wie viel Zentner Leid eine leichte Feder tragen kann. Und wie düster das ist, was den Tagdieb erheitert. Das Lachen, das an meinen Witz nicht heranreicht, würde ihnen vergehen! Sähen sie, daß der kleine Stoff, der ihnen zu Gesicht steht, nur ein schäbiger Rest ist von etwas, das sie nicht betasten können, sie gingen endlich davon. Ich bin bei denen, die sich einbilden, meine Opfer zu sein, nicht beliebt; aber bei den Schadenfrohen noch immer weit über Verdienst.
Mag nun die Fackel sich in so vielen unrechten Händen befinden: wenn sich das, was von mir geschrieben ist, in einen andern Druck wagt, so langen wenige darnach. Für eine Sammlung von Satiren oder Aphorismen soll das nicht beklagt sein. Eine solche ist mit den seltenen Lesern zufrieden, denen die textliche Veränderung ein neues Werk bedeutet. Aber an der Schrift »Heine und die Folgen«, die als Manuskript in den Buchverlag kam, hat es sich gezeigt, daß es nicht mehr Leser gibt, als jene wenigen. Und diese Erfahrung kann gerade sie nicht schmerzlos hinnehmen. Denn ihr Wille ist, Leser zu schaffen, und das könnte ihr nur gelingen, wenn sie Leser findet. Sie trägt den Jammer des deutschen Schrifttums aus, und sie ist nicht zufrieden damit, daß ihre Wahrheit sich an ihr selbst erfülle. Darum betritt sie den Weg der Reue, der aus dem Buch zurück in die Zeitschrift führt, und auch diese Notwendigkeit sei ihr gefällig, die Perversität des geistigen Betriebs unserer Tage zu erweisen. Hier, im vertrauten Kreis, wird sie wenigstens den Versuch machen, zu mehr tauben Ohren zu sprechen, als in der großen deutschen Öffentlichkeit zu haben sind.
Denn es ist nicht zu denken, daß sie just für den Gegenstand taub waren, von dem zu ihnen die Rede ging. Von Heine hören sie noch immer gern und wenn sie auch nicht wissen, was soll es bedeuten. Sicherlich würde die Schrift, wenn sie bloß den Lebenswert seiner Kunst verneinte, jenem Zeitgefühl nichts Neues sagen, das sich selbst durch die Verabredungen der Intelligenz nicht betrügen läßt. Sicherlich läßt es sich eher zur Bettelei für ein Heine-Denkmal als zur Lektüre seiner Bücher herumkriegen. Und dem Haß, der dort ansetzte, wo nicht Liebe, nur intellektuelle Heuchelei die Grabeswacht hält, würde zwar einige Erbitterung, aber kein allgemeines Interesse antworten. Diese Schrift indes, so weit entfernt von dem Verdacht, gegen Heine ungerecht zu sein, wie von dem Anspruch, ihm gerecht zu werden, ist kein literarischer Essay. Sie erschöpft das Problem Heine nicht, aber mehr als dieses. Der törichteste Vorwurf: daß sie Heine als individuellen Täter für seine Folgen verantwortlich mache, kann sie nicht treffen. Die ihn zu schützen vorgeben, schützen sich selbst und zeigen die wahre Richtung des Angriffs. Sie sollen für ihre Existenz verantwortlich gemacht werden, und der Auswurf der deutschen Intelligenz, der sich sogleich geregt hat, bewies, daß er sich als die verantwortliche Folge fühle. Es waren Individuen, die durch ihre eigene Lyrik schwer genug gestraft sind oder durch ihre eigene Polemik zu sehr insultiert waren, als daß sie einer besondern Abfertigung bedurft hätten. Die wenigen, die sich geärgert, und die vielen, die nicht gelesen hatten, haben bestätigt, was geschrieben war. Nicht die Gefahr, eine Entweihung Heines zu erleben, wohl aber die Furcht, das Feindlichste zu hören, was diesem Zeitalter der Talente gesagt werden kann, hat dem Ruf ein stärkeres Echo ferngehalten. Nicht eine Wertung Heine’scher Poesie, aber die Kritik einer Lebensform, in der ein für allemal alles Unschöpferische seinen Platz und sein glänzend elendes Auskommen gefunden hat, wurde hier gewagt. Nicht die Erfindung der Pest, nicht einmal ihre Einschleppung wurde getadelt, aber ein geistiger Zustand beschrieben, an dem die Ornamente eitern. Das hat den Stolz der Bazillenträger beleidigt. Hier ist irgendwie die Sprache von allem, was sie einzuwickeln verpflichtet wurde, gelöst, und ihr die Kraft, sich einen bessern Inhalt zu schaffen, zuerkannt. Hier ist in dieser Sprache selbst gesagt, daß ihr der kalligraphische Betrug fremd sei, der das Schönheitsgesindel zwischen Paris und Palermo um den Schwung beneidet, mit dem man in der Kunst und in der Hotelrechnung aus dem Fünfer einen Neuner macht. Das haben sie nicht verstanden, oder als bedenklich genug erkannt, um es nicht hören zu wollen.
Um aber die Unfähigkeit, die eine redliche Wirkung des begabten Zeitgeistes ist, nicht schwerer zu belasten als die Bosheit, die in allen Zeiten die sozialen Möglichkeiten gegen den Gedanken mobilisiert hat, muß gesagt werden, daß noch ein besonderer Verdacht den Autor dazu bestimmt hat, vom Verlag Albert Langen das Recht des Wiederabdruckes dieser Schrift zu erbitten. Sein bekannter Verfolgungswahn, der ihm sogar zugeflüstert hat, daß es ihm in zwölf Jahrgängen nicht gelungen sei, sich beliebt zu machen, ließ ihn an eine absichtliche Unterdrückung der Broschüre glauben. Stellte ihm vor, daß die aufgestöberten Wanzen aus der Matratzengruft sich in Bewegung gesetzt und just dort angesiedelt hätten, wo der ihnen bekannte Weg vom Gedanken in den Handel führt. Die Furcht vor der Presse kann Berge versetzen und Säle verweigern: vielleicht bedarf es nicht einmal der Anregung, um einen Wiener Buchhändler im Vertrieb einer gefährlichen Broschüre, von der nur ein kleiner Gewinn abfallt, lau zu machen. Zumal einen von jenen, die noch heute der Fackel einen autorrechtlichen Prozeß verübeln, den ihr erster Drucker geführt hat. Ist es denn nicht eine Wiener Tatsache eigenster Art, daß nicht nur den Blicken der spazierenden City das Ärgernis meiner Bücher entzogen wird, sondern daß die Hefte der Fackel, die in einer Zeile mehr Literatur enthalten als die Schaufenster sämtlicher Buchhandlungen der Inneren Stadt, und an deren letztes Komma mehr Qual und Liebe gewendet ist als an eine Bibliothek von Luxusdrucken eines Insel-Verlags — gezwungen sind, zwischen Zigarren, Losen und Revolverblättern ihre Aufwartung zu machen, um die Kosten zu decken, die eine nie belohnte und nie bedankte Mühe verursacht, während im Chor das Ungeziefer des Humors die Sache für lukrativ hält und sich an dem Begriff der »Doppelnummer« weidet! Eine Zeitschrift, welche die legitimsten administrativen Hilfen wie den Aussatz flieht, so aus sich selbst leben möchte, um so gegen sich selbst zu leben, buchgeboren wie kaum ein Buch im heutigen Deutschland, muß die Stütze des zuständigen Handels, die ihm Pflicht wäre, entbehren und in der österreichischen Verbannung jene Schmach verkosten, die den wegen eines politischen Delikts Verurteilten in die Zelle der Taschendiebe wirft. Ahnt die freigesinnte Bagage, deren kosmisches Gefühl die Gewinnsucht ist und von der man die Gnade erbetteln muß, für irrsinnig gehalten zu werden, wenn man keinen Profit macht, ahnt sie, wie viel Genüsse sie sich mit dem Geld erkaufen könnte, das mein Werk des Hasses verschlingt, bis es die Gestalt hat, mit der ein Selbstverherrlicher nie zufrieden ist — weil es erst dann ihm die Fehler enthüllt, die die andern nicht merken! Aber hier, in sein Archiv, nimmt er, was ihm beliebt, und zieht er ein, was andernorts nicht beliebt hat. Hier kann ihn nichts enttäuschen. Eine Arbeit, die statt zwanzig Auflagen nicht die zweite erlangt hat: hier kann ihr nichts mehr geschehn. Ihr Verfasser, dessen Lust es ist, in die Speichen seines eigenen Rads zu greifen, sich selbst und die Maschine aufzuhalten, wenn ihm ein Pünktchen mißfällt, wird nie mehr einem fremden publizistischen Betrieb seine Hilfe gewähren. Er wirbt nicht um neues Publikum. Die Fackel ist ihm nicht Tribüne, sondern Zuflucht. Hier kann ihn das Schicksal einer Arbeit nur bis zur Vollendung aufregen, nicht bis zur Verbreitung. Was hier gelebt wird, mag im Buche wiedererstehn. Aber es ist Lohn genug, unter dem eigenen Rade zu liegen.
Vgl.: Die Fackel, Nr. 329/330, XIII. Jahr
Wien, 31. August 1911.