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Februar 1912

Die letzten Schauspieler

Mein Vorschlag, das leer stehende Burgtheater an das einzige künstlerische Ensemble Wiens, an die Budapester Orpheumgesellschaft, zu verpachten, wurde von Herrn v. Berger mißverstanden. Es war nur so weit ein Scherz, als es ein Scherz ist, zu wünschen, der klügste Mann im Staate solle Kanzler sein, der Kühnste Feldherr und der Bühnenkundigste Burgtheaterdirektor. Ein Scherz ist der Glaube an die Erfüllbarkeit solchen Wunsches, nicht der Wunsch. Nicht die Ansicht, daß die in einem Hotelsaal spielende Truppe die heutige Wiener Theaterkunst vorstellt, mehr — denn es wäre nicht viel —: daß sie aus dem schmutzigsten Stoff das reinste Vergnügen bereitet, welches Theaterkunst überhaupt zu bereiten vermag. Es ist dafür gesorgt, daß ein künftiges Geschlecht aus der heutigen Presse nicht erfahren wird, daß es in Wien eine Truppe gegeben hat, die in Wahrheit »der Spiegel und die abgekürzte Chronik des Zeitalters« war; denn während die andern, »die ich habe spielen sehen und preisen hören, weder den Ton noch den Gang von Christen, Heiden oder Menschen hatten«, so hatten diese den Ton und den Gang von Juden, und darum wurden ihnen nicht die kompetenten, aber vielleicht befangenen Kritiker ins Haus geschickt, ihre Meisterschaft zu preisen, sondern die zwar kompetenten, aber unbefangenen Inseratenagenten, denen allein sie es zu verdanken hatten, daß sie wenigstens unter den üblichen Bedingungen beachtet wurden und Zulauf fanden. Und doch wäre kein Wort der lautesten Anerkennung zu viel für diese Schauspieler, die — wo kein Burgtheater mehr da ist, um »dem Jahrhundert und Körper der Zeit den Abdruck seiner Gestalt«, keines mehr, »der Schmach ihr eigenes Bild«, und nur mehr eines, das Bild der eigenen Schmach zu zeigen — doch dem kulturellen Brei, wo er am anrüchigsten ist, seine vollkommene Form gegeben haben. Sie müssen es sich gefallen lassen, von den Teilnehmern und Emporkömmlingen ihrer Sphäre unterschätzt, von den Zuständigen und Verantwortlichen für die Zweideutigkeit der Welt, die sie zur Kunst erheben, verantwortlich gemacht und hinter das schäbigste Operettenvergnügen gestellt zu werden, dessen traurige Spender sich durch einen Vergleich mit ihnen sogar noch »beleidigt« fühlen. Das tonangebende Gesindel, das die Premieren ablaust und dem kein Burg- oder Volkstheaterdurchfall zu uninteressant ist, um darüber Feuilletons zu schreiben und zu lesen, hielte es für »paradox«, und die Behörde selbst würde erschrecken, wenn man verraten wollte, daß eine »Singspielhalle« ihre Konzession zu Wirkungen ausnützt, denen in der Ursprünglichkeit, Geschlossenheit und Zielkraft nichts, was heute zwischen Wien und Berlin geleistet wird, und wenig von den Erinnerungen an echte Theaterzeiten verglichen werden kann. Doch von der verehrungswürdigen Gestalt eines Girardi und von der verbannten Bodenwüchsigkeit eines Oskar Sachs abgesehen, könnte ein ganzer Wiener Theaterjahrgang mit aller Langweile und aller Tüchtigkeit vor einem Abend, an dem Herr Eisenbach gut aufgelegt ist, nicht bestehen. Es ist absolut unerläßlich, coram publico und gegenüber der bezahlten Feigheit der Wiener Presse es auszusprechen, daß da bei Rauch und Tellermusik einer spielend jene Grenze erreicht, wo er aus der Pflicht des nachgesprochenen Wortes in die Macht des nachgeschaffenen Lebens tritt. Von solcher Genialität lebt uns nur das Beispiel Girardi. Herr Eisenbach hat etwas von dessen selbstverständlicher Begabung, den Menschen in die Szene einzuschöpfen und um ihn herum jedes Versatzstück zu verlebendigen, des toten Steins nicht, nur des Nichts zu bedürfen, um das Element herauszuschlagen; von der Sprungkraft, die die Gestalt vom kleinsten Anstoß nimmt, und von der persönlichen Fülle, die es uns ermöglicht, immer den liebenswürdigen Gestalter zu agnoszieren und den abstoßenden Typus nicht wiederzuerkennen. Ein solcher Selbstspieler in der Verwandlung der Häßlichkeit zum Humor ist Herr Eisenbach. Nur daß er nebstbei ein Mitterwurzersches Raffinement hat, sich neben der ureigenen Wirkung noch in den verschiedensten Typen finden zu lassen. Um sich darin zu verstecken, dazu würde er bloß der Technik und des Dialekts bedürfen; denen er nichts verdankt, weil sie ihm Zubehör, nicht Hauptsache sind. Doch wie sonst nur noch Girardi vermag er es, mit einer Geste ein Drama in die Posse einzulegen, mit einem Blick den Wirbel der Heiterkeit abzustellen und das Publikum so zu zwingen, daß es die Träne, die vom Lachen kam, gleich beibehalten kann. Ein Possenreißer, der zum Erhabenen nicht einmal einen Schritt braucht. Größeres als die Gestalt des jüdischen Vaters, der den humoristisch eingestellten Beweis, daß seine drei Kinder nicht von ihm sind, tragisch erlebt, wäre nicht denkbar, wenn Herr Eisenbach nicht auch in einem Sketch aufträte, an dem verblüffender als der virtuose Wechsel von sechs Masken die Verinnerlichung jeder einzelnen ist. Alles Trickhafte, das je einen Schauspieler zu Durchschlüpfungen solcher Art gereizt hat, weit übertreffend, scheint er ein Leben der ältesten Charge zu entdecken. Die Visionen des abortwärts entrückten böhmischen Hausmeisters, der nicht mehr von dieser Welt ist, und der resignierte Schmerz eines Jahrtausends, zu dem er den Tonfall eines jüdischen Greises fortsetzt, sind solche Erlebnisse, die mehr staunen machen als die blitzende Verwandlung des Kostüms. Und noch zwei besondere Augenblicke gibt es da. Einen ganz bescheidenen, wie er den urwienerischen Schlossergesellen den jüdischen Jargon mit gespreizten Fingern und einem »chaiderachai« nachmachen läßt und plötzlich wie ein ganzes altes Bild aus der Wiener Vorstadt dasteht. Einen zweiten, der, eine vollkommene seelische Metamorphose, dem stumpfsten Publikum Schauer über den Rücken treibt. Er gibt sich, als englischer Artist, der dem Richter nicht mit Worten verständlich machen kann, daß er zuhause einen Schimpansen habe, einen Ruck und geht als Schimpanse um die Bühne herum. Er trägt das Kleid des englischen Artisten und es ist ein Affenfell, er hat die Haut eines Menschen und sie wird fahl. Er hat die Glieder des Schimpansen und starrt mit Affenaugen in eine Welt, aus der die Seele des Schauspielers in eine Vorwelt zu langen scheint. Er erlebt in einem Gang über die Bühne ein Zurück, als ob er entsendet wäre, die letzte Stichprobe auf die Zuverlässigkeit der naturwissenschaftlichen Erkenntnis zu machen. Dies Nebenspiel einer inneren Affendarstellung, ohne Kostüm und Maske, zeigt, wie fern aller technischen Beflissenheit dieser sonderbare Schauspieler seine psychische Zwingherrschaft über alles Organische aufgerichtet hat. Es gehört zu den ergreifendsten Eindrücken, die ich in fünfundzwanzig Jahren — zwar die letzten lebte ich weit von einer Wiener Bühne entfernt — vom Theater bezogen habe. Noch wäre zu sagen, daß die Posse selbst, die dort gespielt wird, hinter der handwerklichen Gelegenheit für eine wahrhaft schöpferische Schauspielkunst Witz und Seele genug hat und mit völliger Unabsichtlichkeit Wirkungen heraufführt, die der talentlosen Frechheit unserer Theaterkassenräuber versagt sind. Das Stück — von den Herren Glinger und Taussig — heißt »Die fünf Frankfurter«. Es sollte auf diesen Titel, den es nicht einmal zu parodistischen Zwecken übernommen hat, verzichten, um nicht mit dem Schund verwechselt zu werden, der jetzt auf dem Repertoire des Burgtheaters steht. Hätte dieses Künstler wie die Herren Eisenbach und Rott, Könner wie Herrn Berg und alle andern — die prächtige alte Hornau ist nicht ersetzt worden —, so könnte man getrost auch den Schund hinnehmen. Aber nicht das Budapester Orpheum, sondern das Burgtheater hat bewiesen, daß es, um Geschäfte zu machen, verwechselt werden muß. Herr v. Berger hat meinen Vorschlag, seine Lokalität einem vorzüglichen Ensemble einzuräumen, mißverstanden. Er hat geglaubt, es werde gelingen, dem Burgtheater aufzuhelfen, sobald man nur den jüdischen Jargon herübernimmt. Er irrte. Wenn im Burgtheater gejüdelt wird, so ist damit noch gar nichts bewiesen. Es kommt in der Kunst darauf an, wer jüdelt. Der Einfall, das Burgtheater an einer widerlichen Pikanterie schmarotzen zu lassen, die Idee, schlechte, aber vornehme Hofschauspieler an Effekte preiszugeben, die einer gewachsenen Meisterschaft in dieser Stadt des stofflichen Humors leider zu einer niedrigen Popularität verholfen haben, ist eines Desperado würdig. Wenn man aber die umfassende Toleranz der Hofbehörde bestaunt, welche die sonst ernst genommene Familie Rothschild durch einen schmierigen Ulkbruder verhöhnen und den päpstlichen Segen mit einem Mauschelwitz beantworten läßt; wenn man selbst im Wiener Durcheinander von Wurstigkeit die Langmut gegenüber einem Burgtheaterdirektor zu begreifen aufhört, der Nachrufe für Lebende und Schlüsselromane gegen Tote schreibt, dann beginnt man zu glauben, die österreichische List wolle einen Mann, dessen sie sich zu entledigen wünscht, schuldig werden lassen. Nun wäre das Maß ja voll. Wie plumpe Geschäftssucht nach einem von sämtlichen Bühnen abgelehnten Stück greift, weil die Verbindung der Hoftheaterwürde mit dem Jargon, der Tradition mit der Mischpoche großen Zulauf verspricht: das ist ein Schauspiel, das seinen Operngucker wert ist. Und nicht gegen die Verunehrung des Burgtheaters — dieses hat nichts mehr zu verlieren —, sondern gegen die Kompromittierung der Budapester Orpheumgesellschaft muß protestiert werden.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 343/344, XIII. Jahr
Wien, 29. Februar 1912.