März 1914
Wenn die Lehrkanzel nicht besetzt ist
Zu den vielen Forderungen, die das öffentliche Leben bietet, gehört die, daß die Lehrkanzel Minors endlich besetzt oder vielmehr daß die Besetzung der Lehrkanzel Minors nicht länger hinausgeschoben werde. Man ist versucht zu glauben, daß es wirklich Interessenten für derlei gibt, man hört aufgeregte Zeitungsstimmen und wenn man wissen will, worin denn eigentlich die Gefahr einer ferneren Nichtbesetzung der Lehrkanzel Minors liege, so bekommt man die Antwort: »Zu Ende des laufenden Schuljahres wird sich das Ungeheuerliche ereignen —« ja was denn? »daß künftige Lehrer des Deutschen an den österreichischen Mittelschulen die Universität verlassen, ohne eine eingehende Vorlesung über Lessing oder Herder, Goethe oder Schiller gehört zu haben«. Mit einem einfachen Kusch kommt man in solchem Fall nicht mehr aus. Man müßte die gramvolle Entrüstung, die die Gefahr der verwahrlosten Germanisten mit der der ungeschulten Ärzte vergleicht und mit bitterer Ironie davon spricht, daß es sich ja »nur um die geistige Entwicklung einiger Schülergenerattonen handelt«, schon mit einem Hinauswurf beantworten. Wie ich über die Schülergenerationen denke, die sich von der Lehrkanzel Minors aus geistig entwickeln lassen, ist ja bekannt; auch daß ich das Nichtbesetztsein solcher Örtlichkeiten für das weitaus kleinere Übel halte. Das ganze Geschrei, das die Bildung gegen das Unterrichtsministerium erhebt, wird aber von einem gewissen Hock instrumentiert, einem Zeitungsschreiber, der auch eine Dozentur betreibt und der jetzt sichtlich ungehalten ist, weil man einen Literaturprofessor aus Posen ihm vor die Nasen setzen will. Da es nun nichts auf Erden gibt, was für die Kultur belangloser wäre als die Frage, wer künftig in Wien über den Unterschied zwischen Schiller und Goethe unmaßgebliche Behauptungen aufstellen soll, so wirkt die Verpflanzung dieses Zunftkrakeels in die Zeitungsspalten als eine der schwersten Belästigungen, die der Öffentlichkeit je angesonnen wurden. Um das Problem dem Publikum schmackhaft und die Behörde in der gesunden Verachtung, die sie für die Literaturgeschichte zu haben scheint, irre zu machen, wird die Aufgabe des Mannes, mit dem die Lehrkanzel besetzt werden soll, in jenen Dunstkreis von liberalen Phrasen gestellt, die eine Zwecklosigkeit durch unvorstellbare Mittel beglaubigen. »Denn der Vertreter der neueren deutschen Literaturgeschichte an der Wiener Universität«, heißt es, »hat nicht nur Pflichten als Lehrer zu erfüllen«, beileibe nicht, und nun wird der Schabernack, den er sonst noch auszuführen hat, wie folgt beschrieben: »Er spielt auch eine wichtige Rolle im geistigen Leben der Residenzstadt«. Was hat er da also zu tun, wenn ihm nicht die Überzeugung, daß das geistige Leben der Residenzstadt keine wichtige Rolle spielt, die Lebensfreude genommen hat? »Er ist in unzähligen Fällen der freiwillig anerkannte Führer der Schriftsteller dieser Stadt und dieses Reiches.« Gut, ich bin ein Sonderling, der zeitlebens nie einen Germanisten als seinen Führer anerkannt hat. Aber wie führt er die andern? »Ihm fällt gleichsam als Krongut die Würde und die Verantwortung des Preisrichters in unseren vornehmsten literarischen Stiftungen zu.« Das haben wir schon oft gemerkt, und wenn er, anstatt sich des Krongutes zu bemächtigen, in derselben Zeit lieber kegelschieben gegangen wäre, mancher Verdruß wäre uns erspart geblieben, allerdings nicht die Befürchtung, daß er auch beim Kegelschieben noch einen Idioten kennen gelernt hätte, dem er schließlich den Bauernfeldpreis zuschanzen würde, so daß wir am Ende doch die Überzeugung gewonnen hätten, daß der Kegelbub ein besserer Preisrichter sei und jedenfalls viel mehr von der Literatur verstehe als der Literaturprofessor. Der Liberalismus verlangt deshalb, daß für diese Stelle wie für jede Stelle der Beste gerade gut genug sei. Das ist bescheiden, mir ist auch der Beste noch nicht gut genug, denn ich halte sie alle für völlig wertlose Wichte, die sehend, daß sie nichts wissen können, aber ohne daß es ihnen das Herz verbrennt, für eine nichtsnutzige Tätigkeit dem Staat das Geld herausreißen. Der Liberalismus meint, die »Persönlichkeit« des Literaturprofessors — wirklich und wahrhaftig, seine Persönlichkeit — müsse »etwas Ragendes und Bezwingendes haben«. Nun, das alles ist ja recht schön und gut, aber man wird zugeben, daß der Literaturprofessor, selbst wenn er diese Forderungen erfüllt, nur Liebhaberwert hat. Wir möchten gern wissen, was er außer dem Eindruck, den er auf seinen Raseur macht, und außer der Verleihung des Bauernfeldpreises an Herrn Trebitsch noch für eine Mission hat. Wir möchten gern etwas Sachliches hören. Also hören wir: »Wenn Dichtung und Wissenschaft die unzerreißbaren Bande sind, die uns Deutschösterreicher mit den Volksgenossen im Reiche verknüpfen, so fällt dem Manne, der die Wissenschaft von der deutschen Dichtung an der wichtigsten Universität Deutsch-Österreichs vertritt, die Aufgabe zu, an der Festigung dieser Verbindung in erster Reihe mitzuwirken«. Das läßt sich hören, darunter kann ich mir etwas vorstellen. Ich bin überzeugt, daß der vorsichtige Kommerzienrat, ehe er sich mit dem Kommerzialrat in eine Verbindung einläßt, durch eine Auskunftei feststellen wird, wer jetzt an der Wiener Universität das literarhistorische Kolleg inne hat und unter Umständen achselzuckend sagen wird: »Nee, nich zu machen, der Mann, den Sie jetzt dort für Literatur haben, flößt uns kein Vertrauen ein. Warn Se unter Minor gekommen!« Er würde sieh mit Meyer zufrieden geben. Er kann sich auf die Wiener Presse berufen, die flau gemacht hat. Zwar, das literarische Leben in Wien, meint sie, werde »weiter blühen«, auch wenn es an dem offiziellen Vertreter der neueren deutschen Literaturgeschichte »keinen Führer und keinen Schirmer hat«. Aber die Universität werde es büßen, und an ihrem »Wohl und Wehe« sei die ganze Bevölkerung unserer Stadt interessiert, »von den Arbeiterscharen, die am 1. Mai im Vorbeiziehen an dem Universitätsgebäude ihr ,Hoch!‘ rufen, bis zu der Elite der Wiener Gesellschaft, die sich an den Festtagen der Alma mater in der hohen Aula versammelt«. Die Alma mater kenne ich vom Vorbeigehen; aber wer ist die hohe Aula? Die muß sehr hoch sein. Die Hochrufe der Vorbeiziehenden und die Toilettenschau der Anwesenden — zwischen diesen Sensationen hat das Interesse Wiens an der Wissenschaft einen hinreichenden Spielraum. Und welcher Umstand hat dieses Interesse Wiens speziell jener Lehrkanzel zugeführt, die noch immer nicht besetzt ist? Was macht gerade den Literaturprofessor so beliebt? «Aus seinem Hörsaal, aus seinem Seminar entspringen die Quellen, die noch nach tausendfältiger Verästelung den Durst unserer Mittelschüler löschen.« Hier tritt bereits Delirium ein. Und hier muß wieder einmal die im eigenen Nebel torkelnde Bildung mit der Beruhigung ernüchtert werden, daß das wahre Studium bis zur Matura reicht und an den Brüsten der Alma mater aufhört. Daß es nur durch die Charaktermassage des Gymnasialunterrichts besorgt und durch die Wissenschaft vernachlässigt wird. Daß der ödeste Formelkram des Mittelschullebens besser zum Leben hilft als der Geist der Hochschulfreiheit zur Freiheit. Daß Mathematik wichtiger für die Literatur ist als Literaturgeschichte. Daß man Deutsch durch Latein besser lernt als durch Deutsch. Und daß es ganz egal ist, welchen Literaturprofessor die Deutschlehrer der Mittelschulen gehört haben. Und daß die Frage, ob eine so anrüchige Kanzel frei oder besetzt ist, zwar die wartenden Herren beschäftigen mag, aber daß es die unbeteiligte Öffentlichkeit keineswegs dringend hat, und daß sie sich durchaus nicht dafür interessiert, wer dort sitzt, steht oder hockt.