April 1912
Eine neue Form der Banalität
[Richard Dehmel in Hamburg unbekannt.] Man schreibt uns: Dieser Tage kam ein an den größten Lyriker des heutigen Deutschland in seine zweite Heimat Hamburg gerichteter Brief als unbestellbar zurück, weil die ›genaue Adresse‹ fehlte. Das war vollständig an der Ordnung, denn, kann ein deutscher Postbeamter erwidern, wenn er aus dem Konversationslexikon festgestellt hat, wer der Adressat war, 1) ist bei allen Sendungen Straße und Hausnummer anzugeben, 2) ist es nicht Sache der Reichspost, ihre Beamten in moderner deutscher Literatur zu unterrichten, und 3) ist der Adressat Richard Dehmel überhaupt im Bestellbezirk Blankenese bei Hamburg, Kreis Pinneberg, Regierungsbezirk Schleswig, Königreich Preußen, postalisch zuständig. Und der deutsche Beamte würde mit allen drei Antworten so recht haben wie je ein deutscher Beamter. Aber ein Privatmann möchte an seine Mitprivatmenschen doch die bescheidene Gegenfrage stellen, ob sie wirklich glauben, daß etwa eine an August Strindberg nach Schweden dirigierte Sendung dem Absender wieder zurückgegeben würde, auch wenn noch nicht einmal der Wohnort des Adressaten angegeben wäre. Und der ist doch schließlich auch nur — Schriftsteller.
Der Gedankenstrich und der Gedanke ermöglichen mir nach meinem typographologischen Verfahren die vollständige Herstellung der zeitgenössischen Physiognomie, die hinter solcher Bitterkeit steckt. Es ist die Stellung des Idioten (Privatmanns) zum Staat. Die Intelligenz ist nicht mehr imstande, die Bestimmung des Dienst- und Schutzverbandes, den sie erschaffen hat, zu begreifen. Alle bureaukratische Unzulänglichkeit wird durch eine liberale Kritik, die der Individualität dort Rechte zuschanzen möchte, wo sie sie nicht hat, ins Recht gesetzt, und der Staat kann sich in die Polizeifaust lachen, wenn ihm die Intelligenz ihren Standpunkt klar macht. Nicht die Vorstellung allein, daß so ein Gebildeter der Frankfurter Zeitung sein Herz darüber ausschüttet, daß die Post einen Dichter nicht kennt, und daß er sich einbildet, er stehe deshalb dem Dichter näher als ein Briefträger, macht diese Art von Kurzsichtigkeit, die einen Zwicker trägt, zur wahren Staatsplage. Solche Individuen, die aus Reih und Glied einer Quantität treten und die in ihrem Umkreis angestaunt werden, wenn ihnen eine Zuschrift gedruckt wurde, sind in der ihnen ausschließlich offenen Perspektive des sozialen Lebens nicht imstande, einen Fortschritt weit zu denken. Die Post erfüllt ihre Idee, den Boten zu ersetzen, durch Beschleunigung und Verbilligung. Nicht durch »Findigkeit«, wie die Spaßmacher glauben. Dem Dienstmann, dem es überlassen bliebe, den Adressaten zu suchen, ehe er ihm die Botschaft übermitteln kann, müßte der Lohn erhöht werden. Der liberale Sinn betreibt nur scheinbar die Popularisierung der Betriebsmittel, in Wahrheit setzt er die Ausnahme für jeden Einzelfall voraus und, im luftleeren Raum denkend, nicht imstande, sich die Quantität vorzustellen, deren Begriff er allein sein Dasein verdankt, macht er immer den ganzen Apparat seiner dürftigen Individualität tributpflichtig und für jede Vernachlässigung verantwortlich. Antisoziale Scherzhaftigkeit hat das Lob der »findigen Post« aufgebracht, deren Spürsinn man die versteckteste Adresse zu apportieren aufgibt. Nur in Österreich, wo auch die Bureaukratie weniger dem Verkehrsinteresse als dem Streben nach falscher Persönlichkeit entgegenkommt, pflegt sich die Post aus solchem ihr auferlegten Zeitvertreib — Such’s Herrl! — eine Ehre zu machen, und in diesem Staate mag es schon vorkommen, daß das »Mir san mir« als Adresse eines Briefes genügt, etwa noch ergänzt durch die Straßenbezeichnung »Eh scho wissen«. Ein Prüfstein für die Findigkeit der Post ist auch das Porträt eines Dichters, das ein Scherzbold auf das Kuvert gezeichnet hat, und zur Freude aller Beteiligten, des bekannten Dichters, des lustigen Zeichners und der findigen Post wird, wenns gelungen ist, das »postalische Kuriosum« im Extrablatt abgebildet. Sie alle aber spüren nicht, daß Popularität, Humor und Findigkeit Beweise gegen das Milieu sind, in dem diese Eigenschaften wurzeln, und daß nichts sowohl gegen den Geist wie gegen die Post eines Landes mehr spricht als der Glaube, daß die Kultur von der Zustellbarkeit ungenügend adressierter Briefe abhängt und daß der Dichter es dort am besten hat, wo ihn die Briefträger kennen. Und zwar so, daß sie entweder schon wissen, wo er wohnt, oder wenigstens bereit sind, aus Hochachtung nachzuschlagen. Der Liberalismus stellt sich vor, daß die Wirkung, die ein Dichter auf seine Zeit ausübt, in der Notorietät seiner Adresse zum Ausdruck kommt, und die Wirkung, die er auf die Nachwelt hat, in der Geläufigkeit seiner Biographie. Und der findigen Post ist es überlassen, das Nemo propheta in sua patria als hinreichende Adresse anzusehen, es wäre denn, daß hier der Vermerk am Platze ist: Adressat abgereist oder verstorben. Der Briefträger soll im kleinen Finger haben, was der besser bezahlte, weniger geplagte, aber dafür unnützere Literarhistoriker nicht einmal ahnt. Wenn Herr Eduard Engel mich nicht kennt und ehe er mich plündert, mir eine falsch adressierte Karte schickt, auf der er mich bittet, mich plündern zu dürfen, so soll der Briefträger wissen, wem es zugedacht ist. Die Gebildeten, die sich gestern über die Kunst informiert haben, schütteln den Kopfüber die »breiten Massen« — eine Vorstellung, auf der die Intelligenz zu sitzen scheint —, die immer ach so spät erst nachrücken. Die liberale Enttäuschung in solchen Fällen klingt mir wie der Seufzer, den Ebermanns »Athenerin« (deren Adresse heute festzustellen der findigsten Post nicht mehr gelingen dürfte) ausstößt, weil ein Mann aus dem Volke auf die Frage, ob er nicht wisse, wo Sokrates wohnt, sie mit der Gegenfrage, wer denn das sei, chokiert: »Wie wenig kennt das Volk doch seine Geister!« Besonders voraussetzungsvoll sind in diesem Punkte die Literaten, die sich ehedem eine Ankunft in Christiania schwer anders vorstellen konnten, als daß Ibsen und Björnson auf dem Perron stehen und sich erbötig machen, das Gepäck zu tragen. In einer Humoreske war einmal die Enttäuschung eines Berliners in Wien geschildert, der gleich nach der Ankunft seinen Wiener Begleiter angesichts jedes Herrn mit schwarzem Schnurrbart in die Rippen stieß und ausrief: »Nich wahr, aber dies ist doch Johann Strauß!« Nur hatte der Autor nicht bedacht, daß diese Agnoszierungsversuche eines Berliners in Wien noch berechtigt sind, wo tatsächlich sechs Persönlichkeiten auf dem Opernring herumstehen und eine davon umso leichter Johann Strauß sein kann, als alle sechs davon durchdrungen sind, daß sie es sind. Aussichtsloser wäre die analoge Mühe, die sich ein Wiener auf dem Potsdamerplatz gäbe, und man hat ja gehört, daß bedeutende Wiener Feuilletonisten sich in Berlin nicht akklimatisieren konnten und eingingen, weil oft ein Jahr verstrich, bis sie auf der Straße ein »djehre Herr Dokter!« zu hören bekamen und weil es dann erst nur ein Wiener Operettenliebling war, der in Berlin ein Nachtlokal aufgemacht hat. Aber der Liberale aller Länder ist schmerzlich enttäuscht, wenn der Fortschritt nicht vor ihm Halt macht und wenn der Betrieb, den er für den letzten Zweck aller Schöpfung hält, es nicht speziell auf ihn abgesehen hat und nichts zu seiner Förderung auf Kosten aller anderen Passagiere beitragen will. Vor dem Autobus steht ihm die Bildung, und ein Bestandteil der Bildung ist ihm die Kunst. Er hat seinerzeit den Kopf geschüttelt, als ihm die Statistik verriet, wie wenig deutsche Soldaten wußten, wer Bismarck war, und die Hände gerungen, als er erfuhr, daß es mit der Popularität Goethes nicht besser bestellt sei. Er versteht nämlich nicht, daß geistige Werte auch in eine Zeit wirken können, welche die Schöpfer nicht einmal dem Namen nach kennt. Er weiß nicht, daß die Lebensform auch des literarisch Ungebildetsten von der Existenz Shakespeares irgendwie bedingt ist. In dieser Ahnungslosigkeit, mindestens jedoch in der Überschätzung unmittelbar übertragbarer Wahrheiten, also politischer Werte, wird er von den Dichtern selbst heute unterstützt. Der verrannte Betätigungsdrang der Ästheten, die jetzt einen Leitartikler für ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft halten, kommt der schwachgeistigen liberalen Intelligenz sehr zu Hilfe. Was soll man noch gegen die Leute, die sich für Versammlungsheroen und für politische Megären begeistern, ernstlich einwenden, wenn ein Dichter Konventtöne kopiert und nicht allein deshalb für das romanische Leben schwärmt, weil dort die Kriegsschiffe »L’humanité« heißen, sondern weil sie zuweilen auch »Voltaire« heißen! Ich hingegen bin schon mißtrauisch gegen Kulturen, deren Briefträger die Namen ihrer Repräsentanten kennen und sich womöglich über eine genaue Adresse kränken, weil sie einen Zweifel an ihrer Bildung bedeuten könnte. Ich argwohne, daß die Post dort, wo sie Dichter ohne Straßenbezeichnung findet, vollständig adressierte Briefe überhaupt nicht Zustellt. Es scheint mir für eine gut organisierte Post zu sprechen, wenn sie in Hamburg nicht weiß, wo Richard Dehmel in Blankenese wohnt. Vielleicht hat ein Briefträger, der diesen Dichter nicht persönlich kennt, auch mehr literarisches Urteil als ein Schmock, der ihn für den größten deutschen Lyriker hält. Aber hier stehen andere Qualitäten in Frage; ich will zur Ehre der schwedischen Post annehmen, daß sie die an Strindberg gelangenden Briefe nicht bloß deshalb zustellt, weil er der Strindberg ist, sondern weil seine Adresse genau angegeben war, und für meine Person muß ich gestehen, daß ich zufrieden wäre, wenn mir die Wiener Post auch den größeren Teil der richtig adressierten Briefe nicht zustellte, und daß ich über die Popularität untröstlich bin, die sich darin zu erkennen gibt, daß ein Briefträger, der nur meinen Namen ohne Straße und Hausnummer vor sich hat, »Fakl« davorschreibt. Wenn man sich sagt, daß neun Zehntel der Korrespondenzen, mit denen diese armen Teufel an einem Wiener Tage tausend Stock hoch laufen müssen, der gröbste Unfug sind, der mit Papier und Tinte seit deren Erfindung getrieben wurde; wenn man das schamlose Überhandnehmen der Geschäftsreklamen, Wohltätigkeitslose, Wahlaufrufe, Künstlerhausfirnistageinladungen bedenkt und all des Mistes, der nicht nur gedruckt, sondern auch zugestellt wird, so gelangt man unschwer zu einem Punkt sozialer Einsicht, wo man nicht extra noch der Bildung des Briefträgers zumutet, was seine Lunge nicht mehr leisten kann. Dem intelligenten Esel, dem die soziale Einsicht immer nur so weit imponiert, als sie eine Phrase ist, und dessen Phantasiearmut beim Nebenmenschen immer just den Kulturgrad voraussetzt, an den er selbst sich gestern erst anschmarotzt hat, wird es nie begreiflich zu machen sein, daß die Kultur von der Überschreitung der Pflichtkreise nicht fett, sondern mager wird. Er wird es nie verstehen, daß die Leistung eines Organs über seine Funktionspflicht hinaus nicht eine Errungenschaft der Bildung, sondern eine Anmaßung ist, die im gegebenen Fall zugleich eine lästige Intimität und eine wertlose Popularität beweist, und daß ein unbestellbarer Brief mehr für die Rücksichtslosigkeit des Absenders spricht als für die Zurücksetzung des Adressaten im Vaterlande. Man muß die fortschrittliche Visage, die solchen Vorfall begrinst, an der Geringfügigkeit ihrer Sorgen feststellen; denn man muß sie feststellen, wo immer man sie findet. Es gibt ärgere Versäumnisse als ein Versäumnis der Post, und gewiß auch größere Tatsachen als eine Zeitungsbeschwerde. Aber die großen Ereignisse verdecken zu leicht das Antlitz der Zeit. Wenn’s am lautesten zugeht, ist es am schwersten zu bestimmen, wo’s am dümmsten ist. Erst wenn die Zeitungen Platz haben, isolieren sich die Vorkämpfer der Banalität und man erkennt die Typen, mit deren Dasein sich abzufinden nur dem geborenen Selbstmörder gelingt.
Vgl.: Die Fackel, Nr. 347/348, XIV. Jahr
Wien, 27. April 1912.