Dezember 1912
Untergang der Welt durch schwarze Magie
Ich habe Erscheinungen vor dem, was ist. Ich mache aus einer Mücke einen Elefanten. Ist das keine Kunst? Zauberer sind die andern, die das Leben in die Mückenplage verwandelt haben. Und der Mücken werden immer mehr. Oft kann ich sie nicht mehr unterscheiden. Tausend habe ich zu Hause und komme nicht dazu, sie zu überschätzen. Bei Nacht sehen sie wie Zeitungspapier aus und jedes einzelne Stück lacht mich an, ob ich nun endlich auch ihm die Verbindung mit dem Weltgeist gönnen wolle, von dem es stammt. Gegen die Plage dieser Ephemeren gibt es keinen Schutz, als sie unsterblich zu machen. Das ist eine Tortur für sie und für mich. Doch wachsen sie nach und ich werde nicht fertig. Finde ich da ein Stück:
Man hat ihn mit Geschenken, Blumen, Reden gefeiert. Die Vertreter der Stadt und des Landes, das Zivil wie hohe Offiziere wetteiferten darin, diesem Jubilar zu zeigen, daß so redliche Tüchtigkeit nicht nur Ehre, sondern auch herzliche Zuneigung einbringt.
Was war das nur? Warum habe ich das aufgehoben? »Man hat ihn ...«: dieser Ton muß einer Feier gelten, die schon etwas Selbstverständliches hat. Was kann es nur sein, wobei Stadt und Land, Zivil und Militär wetteifern? Grillparzer? Der Ausschnitt ist doch nicht so alten Datums, und damals hat man sich noch nicht so ins Zeug gelegt für die Jubilare. »Herzliche Zuneigung«: das würde für Alfred Grünfeld sprechen, aber da gibts keine Vertreter des Landes. »Redliche Tüchtigkeit«: für Schnitzler, aber da rückt wieder das Militär nicht aus. Auch dürfte es sich nicht um einen der Fünfziger handeln, die heuer wie falsches Geld herumlaufen, sondern eher um einen, der seit fünfundzwanzig Jahren — ich weiß es nicht, aber man sollte mir helfen. Man muß doch schließlich schon viel besser als ich wissen, wem ein verlorener Tonfall gehört. Ich habe die Übersicht verloren. Ich kann nicht mehr mit Sicherheit sagen: So haben die Wiener einen ihrer titanischen Kaffeesieder gefeiert. Denn inzwischen ist ein Geschlecht von Epigonen nachgewachsen, und denen wird auch schon gehuldigt. Ich sehe zum Beispiel irgendwo ein Bild: ein Ehepaar. Er ein Charakterkopf. Darunter steht — wie eben immer die Tat, die den Mann berühmt gemacht hat, mit einem Schlagwort, gleich unter dem Bild und vor der eigentlichen Biographie, umrissen wird:
Cafétier Anton Stern, der Besitzer des Wiener Café Prückl, und seine Gattin, die in eigenen Autos die Gäste gegen Erlag einer Krone in ihre Wohnungen fuhren lassen.
Ja, so hat er ausgesehen, das hat er vollbracht; ein Blick, und man übersieht ein Leben und ein Werk. Überall Bild und Wort zur Feier genialer Initiative. Aber das Wort klingt wieder an ders. Gibt es da noch Varianten? Fest steht: er hat den Gedanken gehabt, die Gäste gegen Erlag einer Krone — — Endlich der vertraute Hinweis: »Heuer zaubert er ...« Nämlich aus den Souterrainlokalitäten das Schmuckkästchen hervor, weiß schon weiß schon. Wo ich hinschaue, lese ich und sehe ich das jetzt. Das ist eine Welt von Taten und Tönen, die mich vollends bezaubern würde, wenn ich nicht neben mir die Stimme des Advokaten hören müßte, der mir fortwährend zuraunt: Aber das weiß doch so jeder Gebildete, daß das bezahlt ist! Oder: Wissen Sie sich keine ärgere Ibel zu beleuchten? Harden hat doch greßere Themas ... Nun weiß ich ja nicht, ob die Fähigkeit, solche Stimmen zu hören und gleich mitklingen zu lassen, wenn ich die Gefahr eines Cafétiers überschätze, mir nicht doch endlich als das größte Thema angerechnet werden wird. Fast glaube ich, daß ich nie einer Gesellschaft, die Einwände erhebt, begreiflich machen werde, daß der Einwand die Überschätzung erst berechtigt, ja mit dem Übel selbst übereinstimmt, und daß der Zeuge identisch ist mit dem Täter. Denn diese Gesellschaft läßt sich nur das begreiflich machen, was sich begreiflich machen läßt, aber ihre eigene Unbegreiflichkeit, die ein Motiv künstlerischer Ahnung ist, entzieht sich ihrem Verständnis. Der Advokat soll und darf den für irrsinnig halten, der dabei bleibt, daß der gesamte Balkan viel unwichtiger ist als eine einzige Kaffeesieder-Annonce. Der Advokat ist da des Einwands überhoben, daß man ein Ästhet sei, wenn man die Politik für unwichtig hält. Ist man denn ein Ästhet, wenn man sich statt für gute Luft und schöne Linie für das Heiratsangebot eines Budapester Spezialarztes interessiert? Es ist so furchtbar schwer, sich mit Leuten, die ihre fünf Sinne beisammen haben, zu verständigen. Lassen wirs. Dem letzten Tier, das jetzt den Ehrgeiz hat, in der Kärntnerstraße zwischen sieben und acht links zu gehen, versichere ich, daß ich es, das Tier, für tausendmal wichtiger halte als den Dr. Danew. Das wird ihm, dem Tier, doch genügen. Was ich zu tun habe, ist unwichtig. Es ist bloß der Versuch, Gott zu geben, was Gottes, und dem Tier, was des Tieres ist. Es ist bloß das Gestammel der Sehnsucht, den Geist zu trennen von den Dingen, die gebraucht werden. Und wenn ich darüber nachdenke, will ich Heine belangen. Und schon ist der Advokat da und sagt: Heine ist doch für die Journalisten, die später auf die Welt gekommen sind, nicht verantwortlich und das Lob der Cafétiers ist doch bezahlt! Der Advokat hat, da er nichts anderes hat, Recht. Er hat nicht nur dort recht, wo er recht hat, sondern immer. Er begreift nur die Verantwortung, und im Staat gibts größere Übel als jene. Aber das größte ist das kleine, für das niemand verantwortlich ist und jeder, der es nicht ist. Vor allem der, der früher gelebt hat und also schon tot ist. Ich kann dem lebendigen Advokaten keine andere Antwort auf die viertausend anonymen Briefe geben, die er mir schon geschrieben hat. Der Advokat ist nützlich und soll auch in der Welt einen Platz finden, die die andere wäre. Aber in der würde die Leistung des Advokaten oder des Cafétiers die ihr zukommende Wertung finden und nicht jene, die ihre Termini aus dem Reich des Genius holt. Denn wenn der Apparat des geistigen Lebens dem sozialen Zweck für Geld zur Verfügung steht, ist die Welt zu Ende. Der Advokat meint natürlich: wegen der Korruption meinen Sie? Nein, wegen der Erleichterung der Schamlosigkeit, die geistige Werte vergibt. Es ist gar kein Zweifel, daß die Beethovens verkürzt werden, wenn über die Kaffeesieder gesagt wird, daß sie Schöpfer sind, und sie werden umso gewisser verkürzt, wenn die Administration über den Wortschatz verfügt, den die Redaktion vom weiland Geiste gestohlen hat. Eine Gesellschaft ist dann auf dem Krepierstandpunkt, wenn sie zum Schmuck des Tatsachenlebens Einbrüche in kulturelles Gebiet begeht und duldet. Nirgendwo auf der Welt erlebt sich das Ende so anschaulich wie in Österreich. Hier kann sich die Entwicklung, deren Sendbote Heine war, täglich zweimal im Spiegel sehen. Die grauenvolle Abbindung der Phantasie durch die Ornamentierung geistiger Nachttöpfe hat hier schon zu jener vollständigen Verjauchung geführt, die der europäischen Kultur im Allgemeinen noch vorbehalten bleibt. Die Zeitung ruiniert alle Vorstellungskraft: unmittelbar, da sie, die Tatsache mit der Phantasie servierend, dem Empfänger die eigene Leistung erspart; mittelbar, indem sie ihn unempfänglich für die Kunst macht und diese reizlos für ihn, weil sie deren Oberflächenwerte abgenommen hat. Die Zeitung ist eine unlautere Konkurrenz, die beim Nachbarn Einbruch begeht und gegen die Kundschaft Gewalt anwendet. Wenn der alte journalistische Typus in den Krieg zog, so log er. Aber er begnügte sich damit, unwahre Tatsachen mitzuteilen. Der neue ist dazu unfähig und stiehlt Stimmungen. Natürlich verfaulen sie in seiner Hand sofort zur Phrase, deren Mißgeruch noch gegen den ersten Erzeuger einnimmt. Von Wippchen zu Zifferer sind wir arg heruntergekommen; die Lüge eines türkischen Siegs wäre schöner als die Poesie einer bulgarischen Landschaft. Hier sind wir ganz im Elend. Die Vorstellung ist pfutsch, es kann keinen Dichter mehr geben, weil schon der Reporter einer ist, und der Staat hat nicht mehr genug Phantasie, um die letzte Steuer zu erfinden, die wenigstens etwas wie ein Ausweg wäre und wie der ehrliche Versuch, aus dem geistigen Elend Kapital zu schlagen: die Phrasensteuer. Oder den Zehent an Nuancen. Tausendmal größer noch wäre der wirtschaftliche Gewinn als bei jener Ersparnis am Ornament, auf die es einer der seltenen Antiwiener, Adolf Loos, abgesehen hat, ein Rechtsgeher der Kultur, der das Parsifal-Motiv von den Automobilhupen separieren will und den der Idiotismus deshalb für einen Bejaher der Automobilhupen hält und nicht für den Befreier des Parsifal-Motivs. Was ist aber der faule Zauber um die surrogatbedürftige Leere des Zeitgenossen, der ohne Zierat nicht fahren und nicht essen kann, gegen die furchtbare Anwendung des Geistes auf die Dinge des journalistischen Hausgebrauchs, auf eine Nutzbarkeit oder Unentbehrlichkeit, die sich in der Meldung, daß geschossen wurde, daß einer angekommen ist und daß ein Cafétier sein Lokal vergrößert hat, nicht mehr ausleben kann ohne Stimmung, Plastik oder Bedeutung? Für Reklame muß auch in anderen publizistischen Regionen gezahlt werden und sie bekommt im Ausland sogar den Platz vor der Politik, wenn sie mehr einträgt. Eine Presse, die sich auf den Ehrgeiz beschränkt, eine Bedürfnisanstalt zu sein, wird dem Cafétier, der sein Geschäft empfehlen will, den Platz vor Herrn Iswolsky ausnahmsweise zur Verfügung stellen. Aber sie wird an ihn nicht den Vorrat von Geistigkeit wenden, den sie Künstlern vorenthält, nachdem sie ihn von Künstlern gestohlen hat. Nur eine infame Meinungspresse, wie wir sie haben, nur die Vertretung jenes schamlosen Anspruchs, daß ein meldender Bote Geist und eine Plakatsäule Gemüt habe, ist auch bereit, die Grenze zu verschieben. Die Korruption, die zwischen Textteil und Anonncenteil Schiebungen macht, ist völlig belanglos neben der Schweinerei, die in allen Rubriken dichtet. Es kommt nicht darauf an, wo, sondern wie ein Händler gelobt wird; es ist besser, wenn im Leitartikel eine Ware empfohlen wird, als wenn ein Jobber dort poetischen Unfug treibt, und es ist besser, wenn im Text die Ware beschrieben, als wenn im Anonncenteil der Händler besungen wird. Nicht im letzten Provinznest, wo schließlich der Kaffeesieder auch Bürgermeister sein kann und überhaupt der bedeutendste Mensch in der ganzen Gegend, nicht in Arad, nur in Wien, nur in einem Kulturzentrum, wo ein schlichtes Frühstück, bestehend aus Kaffee, Butter und Eiern, plötzlich auf den Namen »Prückl-Frühstück« hört und zehn Individualitäten auf einmal für eine die Meldung ausbrüllen: »Ein Prückl-Frühstück für den Herrn von Politzer!«, nur in Wien, wo eine Torte eines Tages als Zehetbauer-Creme-Torte erwacht, wo ein Speisenträger Napoleon heißt, aber ein Zahlkellner mit »Herr Zwirschina« angesprochen wird, nur in Wien, wo der Knödel ein Gedicht ist und die Musen Köchinnen, wo der Mensch darauf angewiesen ist, seinen Gefühlsbesitz an die Verrichtungen des äußeren Lebens zu wenden und aller Spielraum für Persönliches zwischen Essen und Verdauen gesucht und geboten wird, nur in Wien ist eine Annonce möglich, in der auf ein Kaffeehaus in der Porzellangasse nebst allem Stimmungszauber bereits die Erkenntnisse der benachbarten Psychoanalyse angewendet sind:
Eine Londoner Gesellschaft ohne Bibel ist gerade so undenkbar wie ein Wiener ohne eine Kartenpartie. Nicht allein das, es ist eine Haupteigenheit des Wieners, seine Lebensenergie gerade im Kaffeehause abzureagieren. Und dazu gehört Stimmung, mit einem Wort, ein echtes, elegantes »Wiener Café«.
Eine solche Stätte par excellence ist das »Café City«. Es ist unbestritten das vornehmste und mit allen der anspruchsvollen Zeit entsprechenden Forderungen eingerichtete Kaffeehaus im IX. Bezirk. — —
Die vornehme Intimität, insbesondere des Souterrainlokals, lädt unwiderstehlich zu Arrangements von Kegelabenden, Versammlungen und Unterhaltungen ein. Im Augenblick ist die vorzügliche Kegelbahn auf die praktischeste Art und Weise in einen veritablen, exquisiten Ballsaal umgewandelt. Die Wände sind mit Malereien von Künstlerhand geschmückt. Nicht vergessen erwähnt zu werden darf der reizend und diskret eingerichtete Ecksalon im ersten Stock, der für Damen den angenehmsten Aufenthalt bildet.
Von der Güte dieses Lokals des IX. Bezirks kann sich der Besucher überzeugen, wenn er am späten Nachmittag, am Abend durch seine Säle schreitet. Kunst und Großindustrie, das vornehmste Literatentum, Vertreter der Wiener Presse erblickt er in heiterer, zufriedener Laune, zu der den Hauptbeitrag auch die Bequemlichkeit des Cafés liefert, versammelt.
Diese berechtigten und würdigen Erfolge kommen nicht von selbst. Sie sind die Frucht des distinguierten Geschmackes und der warmen Liebenswürdigkeit des Herrn Laufer, eines der routiniertesten Cafétiers Wiens.
Es ist ja klar, daß ein Vertreter des vornehmsten Literatentums des IX. Bezirks das Gedicht verfaßt haben muß, und man könnte meinen, daß diese spezifische Verbindung von Farbe und Ton das Übel, das sich hier erbricht, bloß auf den IX. Bezirk reduziert erscheinen läßt. Aber das wäre Täuschung. Denn es ist ein weltumfassender Glaube, der hier im Jargon der psychologischen Bildung spricht, und vielleicht ist von ihm wirklich nur jene Londoner Gesellschaft ausgenommen, die eine furchtbare Erkenntnis hier auf die Bibel vertröstet. Jedes Wort, das in der Annonce geschrieben steht, ist wahr und tief. Was nützte es, einen Kordon um einen Stadtteil zu ziehen, der ein Weltteil ist? Nicht vergessen erwähnt zu werden darf hier etwas:
Eine Presse, die im Kriege den Mut zur Plauderei findet; die jetzt vor einer Ereignisfülle, wie sie sie auf dem heutigen Stand journalistischer Entwicklung in solcher Nähe noch nicht erlebt hat — denn 1866 hielt man den Rotz noch nicht für wichtiger als die Nase —, ihre ehrloseste Niederlage erlebt; eine Presse, die Mordbuben der Phantasie ausschickt, um betende Soldaten zu verhöhnen; eine Presse, die aller Verachtung trotzend den verruchten Ehrgeiz hat, gegen den Krieg die Schrecknisse einer im Frieden verreckenden Kultur zu mobilisieren, die fröhliche Geistesarmut einer ausgefressenen Zeit dick aufzutragen und allen Ekel ihrer malerischen Gemeinheit zu überbieten; eine Presse, die von einer kriegführenden Macht die Erlaubnis erpreßt, daß ihre dringenden Feuilletons über die Stimmungen des Kriegskorrespondenten vor den Staatstelegrammen befördert werden, die vor Europa mit der Nachdenklichkeit ihrer Schmöcke protzt, den ausrangiertesten Mist vor Kanonen erfinden läßt, der Welt nicht nur die Namen von Individuen aufdrängt, die ein Schlachtfeld in eine Judengasse verwandeln, sondern auch den Stolz dieser Individuen auf ihre Mission die Leistung der Soldaten im Kriege als Bagatelle behandeln läßt und »Eindrücke« für ehrenvoller hält als Narben; eine Presse, die im Angesicht des Blutes hunderttausende Kronen statt dem Roten Kreuz, dem schwarzen Strich zuwendet und für die lausigste Befriedigung des »Blattgefühls« und des Größenwahns eines Journalneros jene Opfer bringt, die selbst der Abonnent verabscheut; eine Presse, die das Bedürfnis des Publikums nach Erbärmlichkeit in einer Art sättigt, daß sich dem Publikum der Magen umdreht; eine Presse, die bereits die Zuchtrute jener Verworfenheit ist, deren Vertretung sie übernommen hat, weil sie alles übertrumpft, was tagszuvor die satirische Entrüstung ihr andichten wollte, und vor der wirklich nichts zu tun übrig bleibt als sie unaufhörlich nachzudrucken — von dieser Presse will ich eine gute Tat melden. Sie hat, ehe die Schande dieser Kriegsberichterstattung dem letzten Sklaven ihrer Macht die Augen geöffnet hat, in einem grandiosen Fall den Beweis erbracht, daß sie des schlichten Ausdrucks eines reinen Gefühles fähig sei. Diese Presse also, welche für jede Gelegenheit, der sich Personalien ablausen lassen, für jeden Zuckerlbazar, wo die Frau Schapira dem Herrn Schapiro ein belegtes Brot verkauft und dieser sich mit dem Fräulein Schapire in den Löwenanteil des Erfolges teilt, Schmalz und Pfanne bereit hält; diese Presse, die’s unter fünfunddreißig Spalten nicht tut, wenn ein Gesangsverein auf der Amerikareise die Seekrankheit bekommt; diese ausgiebige Presse, die immer ihre eigenen Dejekte noch einmal verdaut und nach allen Details über das Unwohlsein eines Ministers, während deren Aufzählung er sich erstaunlicher Weise erholt hat, noch einmal meldet, daß er unwohl wurde und noch einmal und zum letzten Mal, und die also bei der Versteigerung jeder Sensation es auf den meistbietenden Leser abgesehen zu haben scheint; diese aus Krätze und Wohlwollen zusammengesetzte Presse, die für das elende Gewäsch auf einem Juristenbankett ihren ganzen Trog reserviert, die kein Zimmerfeuer vorübergehen läßt, ohne die Einrichtung zu beschreiben, keine Zugsverspätung, ohne mit der Verwandtschaft der verspäteten Gänslerin zu sympathisieren, kein Ereignis ohne Poesie, kein Nichts ohne Erschütterung, keine Tatsache ohne Furz, keinen Furz ohne Wiederholung — diese gottverlassene Presse hat den Einzug des Kardinal-Legaten in einem Bericht von stiller Schlichtheit beschrieben.
Nie zuvor hat sich das facit indignatio versum in einem tieferen Sinne bewährt. Denn hier entstand das Gedicht aus Zurückhaltung, die die Wut gebot. Wäre der Oberrabbiner von Tarnow, dessen befeuernde Ansprache an die Soldaten uns unter »Personalnachrichten« gemeldet ward, feierlich in Wien eingezogen, zwanzig Kolumnen mit allem Schmuck der Sprache, der ihnen gegönnt sei, hätten Spalier gestanden. Es wäre nicht nur das große Ereignis gewesen, dem der Leitartikel vorbehalten ist, sondern auch das erhabene Schauspiel, das nur von der Eindrucksfähigkeit einer Koppel Stimmungsmenschen vom lokalen Teil bewältigt werden kann. Alle Töne der Jerichoposaune, alle Farbenpracht des Orients, alle Wohlgerüche Arabiens, kurz die Wunder von Tausend und einer Nachtredaktion hätten eben noch hingereicht, um dem feierlichen Moment gerecht zu werden. Für die Ankunft des päpstlichen Legaten in Wien war der Raum einer halben Spalte vorgesehen, kaum mehr als für einen konzentrierten Bericht aus Kurorten und Sommerfrischen oder, um im Gebiet katholischer Dinge zu bleiben, für die Mitteilung der näheren Umstände, wenn Herr Angelo Eisner am 18. August sich über allgemeines Drängen entschließt, zögernd, aber doch, wie alljährlich so auch heuer, den Antrag auf Absendung einer Huldigungsdepesche an das Allerhöchste Hoflager zu stellen, und die Genugtuung erlebt, daß dieser Antrag auch angenommen wird. Eine bis zur Siedehitze gesteigerte Wut, die aus allerlei Anspielungen auf die »Veräußerlichung des christlichen Glaubens« schon seit Wochen hervorgebrodelt hatte, führte endlich den entscheidenden Schlag gegen den Eucharistischen Kongreß. Die Stimme des Herrn gab das Gebot: Wenn der Kardinal einzieht — keine Plastik! Du sollst dir keine Bilder machen! Und das Unerhörte einer verinnerlichten Reportage über katholische Dinge begab sich am 11. September 1912. Es wird ein Datum bleiben in der Entwicklung von Heine und den Folgen. Aus Wut erschien ein anständiger Bericht, aus Rache brachte man es fertig, vornehm zu sein. Ein überzeugter Ritualmörder hatte ein Kind getauft. Zum erstenmal seit Jahrzehnten erschien ein Artikel, der das Antlitz der Menschenwürde trug: und das geschah aus Niederträchtigkeit. Stiller und würdiger konnte kein Zeuge vor einem Schauspiel stehen, das wie keines in der Welt der Redensarten entbehren kann und wie keines in der Welt der Teilnahme des journalistischen Rituales entrückt ist. Alle Paramente des Worts mit dem Fuß von sich stoßend, stand ein heftiger Protestant vor dem Gottesbild, ein Puritaner vor dem Glanz, ein neuer freier Presbyterianer vor dem Kardinal; und wußte nicht, wie recht er hatte. »Es war die Zeit des großen Kirchenfestes, von Pilgerscharen wimmelten die Wege.« Ein anderer Mortimer — doch auch seinerseits in finsterm Haß des Papsttums aufgesäugt — ließ er sich nicht gleich vom ersten Eindruck zu einer Schilderung hinreißen, sondern wurde dem Ungewöhnlichen durch Enthaltsamkeit gerecht. Dies Schauspiel bot der Sinne Reiz genug: wozu da noch nachhelfen? Daß es stattfand, reißt schon alle Pforten der Vorstellung auf; der Titel genügt, und wir sind Teilnehmer. Die klerikale Berichterstattung zelebrierte ein Hochamt der Phrase und trug alle jene Kostbarkeiten zusammen, um die sie, nicht ohne Talent, den Judengeist beneidet. Die Neue Freie Presse war schlicht. Es war wieder wie in den Tagen, ehe die alles beschreibende Schande in die Kultur einbrach: der Phantasie blieb etwas, um die Andeutung zum Gedicht fortzusetzen. Und darum war schon die Andeutung das Gedicht:
Der Vertreter des Papstes am 23. Internationalen eucharistischen Kongreß, Kardinal Wilhelm van Rossum, ist heute nachmittags in Wien angekommen. An der Diözesangrenze war der Kardinallegat auf dem Bahnhofe von Rekawinkel durch den Weihbischof Dr. Pfluger begrüßt worden und hatte dann die Fahrt mit dem Sonderzug, der ihn nach Wien brachte, fortgesetzt. Seine Ankunft auf dem Westbahnhofe erfolgte um 3 Uhr 30 Minuten nachmittags .... Zahlreiche Häuser waren dekoriert und mit Fahnen geschmückt ....
Vor der Hofoper war ein Zelt errichtet worden, in dem die Begrüßung des Legaten durch den Kardinal Dr. Nagl und den Bürgermeister Dr. Neumayer erfolgte. Die Kärntnerstraße war um ½4 Uhr nachmittags vom Stephansplatz bis zur Hofoper für den Verkehr geschlossen worden. Zu beiden Seiten hatte sich ein starkes Spalier gebildet. Die Ankunft des Legaten in Wien war durch das Läuten der Glocken sämtlicher Wiener Kirchen angekündigt worden ....
Folgen noch einige sachliche Angaben. Speidel hätte aus dem Läuten aller Glocken auch nicht weniger und nicht mehr gemacht. Man hörte sie noch in einer Sprache, die nicht mit allen Schellen läutete. Es ist freilich heute schwer, dem taubgewordenen Sinn die Eindringlichkeit der Stille zu predigen. Doch dem hörenden Ohr mögen Sätze, die ehedem über den Anspruch einer Meldung nicht hinausgingen, eben darum jetzt als Dichtung wirken. Wenn ein Geräusch plötzlich aufhört, so spüren wir die Stille zuerst als Druck, und so kann die ruhige Feststellung das Gewicht des künstlerischen Ausdrucks gewinnen. Der Bote, der aussagt, ist kein Dichter: aber er wird es an der Distanz, die zwischen ihm und dem einsagenden Schmarotzer unserer sämtlichen Sinne liegt. An dem Übermaß dieses unsere Vorstellung störenden, mit unsern Ohren hörenden, mit unsern Augen guckenden, mit unseren Nerven zuckenden, uns auf die Zunge spuckenden, uns ins Gehirn einschreibenden, uns nichts schuldig bleibenden, uns blendenden, uns betäubenden, uns unsere Witze beizenden, uns unsere Hitze heizenden, uns unsere Nase schneuzenden, mit unsern Händen redenden, uns durchaus stellvertretenden Agenten — wird Trockenheit zur künstlerischen Weisheit, die nicht nur sagt, was sie zu sagen hat, sondern auch erspart, was sie nicht zu sagen hat, und Pflichterfüllung ist Zurückhaltung vor einem Rest, den der andere sich selbst schöner ergänzt. Was eine zügellose Soldateska des Feuilletons seit vierzig Jahren in Krieg und Frieden so zusammenrafft, lebt im Hohlraum der schwindenden Phantasie, die einst in der Lücke der Beschreibung Platz hatte und gedeihen konnte, und für das heutige Gefühl, soweit es noch der Erlösung zugänglich ist, wird der alte Reporter zum Dichter. Gelingt heute einem diese vornehme Wirkung, so geschieht es aus purer Gemeinheit. Der Verzicht auf den Dreck ist eine Tücke, die der Herr aller Phrasen dem feindlichen Unternehmen ansinnt. Die Galle geht ihm heraus vor dem Kardinal und er tut ihm das Ärgste an, was man dem Feind antun kann: einen schmucklosen Bericht. Die Häuser dürfen geschmückt sein, fertig! — eine Blume von uns ist nicht dabei. Die Glocken dürfen läuten, fertig! — kein Ton von uns kommt dazu. Sollen die Glocken selbst läuten, wenn sie können! Wie, es gibt nichts, was das Läuten der Glocken besser ausdrücken könnte als das Läuten der Glocken? Kleinigkeit, bei unseren Leuten braucht man einen andern Klöppel! Man muß es ihnen immer wieder von neuem vormachen; denn die wissen ja nicht mehr, wie Glocken läuten. Und — höre da! — nun erfahren sie’s just, weil der Zeitungsschwengel nicht in Aktion tritt. Aber damit sie es auch behalten, genügt nicht der Ausnahmsfall, wie der journalistische Reichtum es vermocht hat, dem Prunk der Kirche einen schmucklosen Bericht anzutun. Wir wollen zurück in die Zeiten gehen, wo der Freisinn, der den Tag mit Druckerschwärze verhängt, noch jung war. Einige Blätter aus dem Jahre 1848 liegen vor mir, in denen wohl schon die politische Sprache das Bild findet, daß der Kaiser »aus den Klauen seiner Schranzen gerettet« sei. Er soll nach Wien zurückkehren. Wie aber wird der Einzug beschrieben?
12. August. War in Wien schon seit einiger Zeit die frühere, harmlose Heiterkeit wieder eingekehrt, so biethet es doch heute eben ein großartig feierliches Bild. Den Jubel sieht man Jedem im Gesichte an, jedes Herz hebt sich rascher in überschwenglicher Freudigkeit; ein großer, lange ersehnter Tag ist uns ja gekommen, der Tag, an dem der Kaiser wieder einzieht in seine Residenz!
Schon in aller Frühe trug ein mit Fahnen gezierter Dampfer die Gewählten aus dem Bürger-, Sicherheitsausschusse und aus anderen Personen bestehend von Nußdorf Donauaufwärts bis Stein, um dort zuerst das kaiserl. Paar und die kaiserl. Familie zu begrüßen. Mittags rückten die Nationalgarden, Bürger und Studenten aus, mit dem Militär Spalier zu bilden von Nußdorf bis Schönbrunn; das Ministerium, die Reichstag-Männer und alle Beamten des Staates und der Stadt, die hier anwesende Generalität etc. verfugte sich nach Nußdorf um dort den Kaiser feierlich zu empfangen. — Eine ungeheuere Menschenmenge zieht durch die Straßen, die ganze Bevölkerung ist auf den Beinen.
Um 4 Uhr erscheint das Dampfschiff von Linz in dem Gesichtskreis; da plötzlich erhebt sich maßloser Jubel in die Lüfte, Geschütze donnern und die Glocken ertönen von allen Thürmen der Stadt. Majestätisch rauscht der prächtig geschmückte Dampfer heran. Nach dem feierlichen Bewillkommungsakte beim Aussteigen verfügte sich der Kaiser und die kaiserliche Familie zu Wagen nach dem Lustschlosse Schönbrunn, allenthalben vom herzlichsten Jubelrufe begrüßt. Triumphpforten aus grünem Reisig waren errichtet; weißgekleidete Mädchen und Frauen mit Kränzen und Blumensträußen geschmückt, hatten sich überall aufgestellt, und an jeder Kirche, an der der Kaiser vorüberfuhr, wurde er von der sämtlichen Geistlichkeit feierlich begrüßt.
Von dem majestätisch rauschenden Dampfer abgesehen, der zwar insofern in seinem Wirkungskreise bleibt, als er eine Majestät trug und keinen Gesangsverein: eine Dichtung; die alles enthält, weil sie noch mehr wegläßt. Wie würde der Bericht heute aussehen? Wie, wenn schon damals einer unserer Mitarbeiter Gelegenheit gehabt hätte? Das Dampfschiff würde nicht in dem Gesichtskreis erscheinen, sondern am Horizont, denn er hat sich erweitert; und die Folgen wären nicht auszudenken. Wien hätte Festschmuck angelegt; und was dann geschieht, weiß man. Der heutige Tag hätte Kaiserwetter gebracht, und alles wäre im Zeichen gestanden. Die Rettungsgesellschaft hätte in so und so vielen Fällen den Charas an der Spitze gehabt und die Leute hätten sich massiert. »Bei der Oper«, »Vor dem Burgtor«, »Auf der Mariahilferstraße« und überall wären Augenzeugen gewesen, freiwillige Helfer im Anschauungsunterricht. Jedes Mitglied der Reichsversammlung wäre einzelnweis geschildert worden, Bart für Bart, alle wären sie markant gewesen, die Nationalgarde wäre interviewt worden und das Ministerium hätte sich entschließen müssen, seinen Standpunkt, seine Eindrücke und seine Maßnahmen einer informierten Seite anzuvertrauen. Jeder Bericht über eine Kaiserfeier in der Sommerfrische Weißenbach strahlt heute besser. Der Vormärz steht beim Fortschritt mit Recht im Rufe der Kleingeisterei. Die Zensur hungerte den politischen Artikel aus, aber wir sollten meinen, daß es umso erwünschter war, den Tratsch sich mästen zu sehen. Man hat sich doch bekanntlich, je entrückter die großen Angelegenheiten des Staates waren, umso mehr für die kleinen lokalen Dinge erhitzen dürfen und müssen. Immerhin, dieser Mangel an Fülle ist auffallend. Da werden aber doch wohl spaltenlange Artikel erschienen sein, wenn der Männergesangverein ausrückte, den’s ja damals schon gab?
Wien. Gestern Abends sollte Fackelzug in Schönbrunn vom Gemeindeausschuß veranstaltet sein, wobei sich der Männergesangverein beteiligt.
Wie, man wußte nicht einmal, ob? Aber wenn man wußte, so schickte man doch rechtzeitig Referenten:
— Eine solenne Feier fand gestern auf dem Glacis Statt, — die Fahnenweihe der Josefstädter Nationalgarde.
Aber schließlich muß doch für die Mitteilung der Dinge, die im Reichstag vorkamen, ein gewisser Apparat verwendet worden sein? Ein Leitartikel, ein Entrefilet, eine allgemeine Einleitung, eine besondere Einleitung, in der alles noch einmal steht, die Reden selbst, dann die Eindrücke und die Schnurrbarte? Wenn Kritik verboten war, mußte der Geist doch auf die Stimmungen im Couloir verfallen:
Auf der Ministerbank: Kraus, Schwarzer, Doblhoff, Bach, Hornbostl.
Das Protokoll wurde angenommen, Urlaubsgesuche bewilliget und die eingelangten Eingaben verlesen.
Einige Abgeordnete hatten an den Vorstand die Anfrage gestellt, ob ....
Wahlprüfungen werden verlesen ....
Abg. Zimmer hat .... Abg. Löhner wünscht .... Abg. Selinger fragt den Minister des Innern, ob auch in den Spitälern Anstalten für die Wasserkur getroffen seien. Minister Doblhoff antwortet, daß keine bestimmte Curart vorgeschrieben sei ....
Der Ausschuss beantragt elf Punkte, welche wir morgen unseren geehrten Lesern mitteilen werden.
Wie? Das hat Zeit? Aber die Revolution selbst muß doch eine gewisse Plastik empfangen haben?
Am Abende des 16. d.M. wollte wieder etwas losbrechen, indem die Redakteure des Studentenkuriers wegen eines Preßvergehns eingesperrt werden sollten, und wirklich wurden sie schon ins Gefängniß in der Preßgasse eingeführt, aber auf dem hohen Markte rotteten sich so Viele zusammen, die Miene machten, das Gefängniß zu bestürmen; doch zum Glücke eilte der biedere Füster herbei und befreite die Eingesperrten mittelst Lösegeld.
Eine Rubrik heißt: »Was erzählt man Neues in Wien?« Hier wird doch erzählt werden?
Da ging dieser Tage das Gerede unter den Arbeitern: »Erzherzog Johann habe bei seiner Abreise eine Million Gulden zur Verteilung an die Arbeiter zurückgelassen.« — Das Gerede machte Aufsehen, fand Glauben, und sogleich sollte ein Krawall gemacht werden; — und es war doch Alles eine Lüge. So seid ihr; dem Nächstbesten, der da kommt, und euch etwas vorschwatzt, dem glaubt ihr, ohne euch doch eher am rechten Orte zu verständigen ....
Nun, das war ein Gerücht. Heute wird es eben durch die Zeitung verbreitet und nicht berichtigt. Aber auch damals muß es doch Tatsachen gegeben haben?
— Die bürgerlichen Hutmacher meinten, die befugten Hutmacher mögen 10 fl. erlegen, um in die Reihen der bürgerlichen treten zu können; die befugten aber meinten, sie mögen keine 10 fl. erlegen, denn auch ohne dem würden bald alle in gleiche Reihen gestellt sein.
Ja, zum Henker, aber es ging doch wirklich etwas vor:
— Gestern, die ganze Nacht hindurch machten Garden, Bürger und Studenten zu Fuß und zu Pferd, ununterbrochen starke Patrouillen durch die Stadt, die Vorstädte und in der nächsten Umgegend; eine lobenswerthe Maßregel, wohl durch die Umstände geboten; es kam aber nicht ein einziger ungebührlicher Fall vor.
Aber Todesfälle müssen doch interessiert haben! Der Name des Selbstmörders und die näheren Umstände! Und wenn er in einem hinterlassenen Brief gebeten hätte, seinen Fall zu verschweigen, so wäre doch wenigstens das gemeldet worden? Und wenn nicht, so hätte man doch immerhin gefragt: Wer weiß etwas?
Mittags ½12 Uhr stürzte sich einige Schritte unter der Ferdinandsbrücke ein unbekannter Mann von etlichen 50 Jahren in die Donau, obgleich nach wenigen Minuten herausgezogen, war er bereits tod.
Ja, aber die Hof- und Personalnachrichten?
— Der Graveur C. Lange hat eine Denkmünze auf die Ernennung des Erzherzogs Johann zum Reichsverweser angefertigt; sie enthält auf der einen Seite das Bild des Prinzen, auf der anderen den deutschen Reichsadler.
Der Vormärz muß ungemütlich gewesen sein. Er spricht so wenig. Aber da — — da ist eine Rubrik »Wie geht es in der Welt zu?« Na also. Zum Beispiel in Salzburg. Das ist ja nicht einmal so weit, da kann man ja viel und bald erfahren. Der Bericht ist am 13. August erschienen.
Salzburg, 7. August. (Corresp.) .... Abends war ein brillantes Fest wegen den Siegen unsrer italienischen Armee; die Kaiserin Mutter und Max waren anwesend. Während dem Feste langte die Nachricht aus Innsbruck an: »Der Kaiser komme Mittwochs Mittag hier an, um Donnerstag seine Reise nach Wien fortzusetzen.« — Dem Himmel sei Dank!
Frankreich! Da wird wohl ein Frischauer dreinfahren und etwas ausführlich werden?
In Marseille hatte sich ein Pariser Juny-Aufstand vorbereitet, wurde aber noch bei Zeiten unterdrückt.
Aus Paris ist Lucien Murat, ein Sohn des einstigen Königs von Neapel mit einer wichtigen Depesche nach Italien abgegangen, die gewiß auf den Krieg bedeutenden Einfluß haben wird.
Was ist’s mit den Serben?
Ungarn. Die Serben sollen von Weiskirchen bereits verjagt worden sein. — Dagegen meldet man wieder von ihren Siegen bei St. Thomas. — Bei Verbacs fand mit den serbischen Aufrührern ein Scharmützel Statt, wobei ein junger Graf Zichy blieb, der als Freiwilliger von Pest mitgezogen war.
Was ist’s mit den Juden?
In Pressburg sollte dieser Tage schon wieder eine Judenhetze Statt finden; sie wurde aber glücklich verhindert.
Wie ist das Wetter?
Kärnthen. Viele Orthschaften um Greifenburg sind durch einen Wolkenbruch völlig verheert worden.
Wie steht’s mit der Humanität?
— Die Kleinkinder-Bewahranstalten sollen in den Vorstädten vermehrt werden.
Nein, ich kann den Gedanken nicht los werden: es war ja Krieg, da muß es doch eine gewisse Anschaulichkeit gegeben haben, wenn man schon nicht nachdenklich wurde bei der Stimmung. Und es war doch ein österreichischer Krieg!
Italien. FML. Welden ist in Bologna eingezogen.
Das ist es eben, man hatte für die große Politik nicht so viel Interesse übrig, um zu fragen, was der Feldherr anzog, als er einzog, und ob die Herbstzeitlosen schon blühten, als Österreich es mit Italien zu schaffen bekam.
Italien. Aus dem Hauptquartier S. Donato nächst Mailand (5. August): Wir sind noch hier. Diese Nacht sahen wir mit freiem Auge, wie die schöne Stadt Mailand an acht Orten brannte; außerordentlich aber an zwei Orten. Heute Früh 4 Uhr kamen 3 piemontesische Generale als Parlamentäre in’s Hauptquartier. Ergibt sich Mailand nicht bis zum Abend*, so wird es bombardiert. So eben war auch der Erzbischof an der Spitze einer Deputation bei unsern Feldherrn, und erbat, dass mit dem Bombardement bis Morgen Früh 8 Uhr eingehalten wird.
C’est la guerre. Und Mailand war schön und lag dennoch nicht da wie eine schöne Frau vor seinen Augen, so daß er sie erobern wollte, der von der Zeitung. Gott, Gott, war das eine nüchterne, eine miese Zeit! Und gleich darunter wieder der Reichstag, wortkarg wie ein Stummerl:
Alles ist in Galla wegen des Empfanges des Kaisers —
Aber die Gala wird doch geschildert? Nein, getadelt:
wir sehen auch mehrere Abgeordnete in Nationalgardeuniformen und mit ihren Dienstschärpen; ist der Rang eines Abgeordneten nicht höher, als der eines Offiziers, weil die Herren ihre Charge trugen?
.... und fragt die Versammlung, ob sie nicht dem Te Deum in der Stefanskirche beiwohnen wolle? wird angenommen.
Abgeordneter Löhner fragt den Präsidenten, ob die Rede des Präsidenten beim Empfange des Kaisers nicht dem Reichstage mitgetheilt werde? Präsident antwortet, dass Präsident Schmitt seine Rede schon im Vorstandsbureau vorgelesen habe; hat dabei sein Bewenden.
Ferner Eingaben vorgelesen.
.... Hierüber erhebt sich eine Debatte, die öfters in Persönlichkeiten übergeht, endlich wird es zur Abstimmung gebracht, dass zur Tagesordnung übergegangen werde, welches angenommen wird. Auf diese Weise wird wieder zu der wirklich ermüdenden Lesung und der weitschweifigsten Begründung der weiteren Verbesserungsanträge geschritten.
Und weder die weitschweifigen Begründungen noch die »Persönlichkeiten« werden angeführt? Nicht einmal diese? Die man heute beklagt, um sie aufzählen zu können, wobei man auch alle die Persönlichkeiten aufzählt, die dabei waren? Nein, hat dabei sein Bewenden. Wie ist denn aber die Sprache des Leitartikels? Doch die von Leuten, die kaiserliche Räte werden wollen? Nein, nur die von Männern, die dem Kaiser einen Rat geben:
... Euere Majestät! Sie sollen und dürfen als ein konstitutioneller Regent Nichts beschließen und Nichts veröffentlichen, ohne .... Es ist aber auch die Pflicht der Presse, dieses Organs des Volkes, Euere Majestät dringendst darauf aufmerksam zu machen .... Werden Euere Majestät in diesem Sinne handeln, so werden wir mit doppelter Freude an den Tag zurück denken, der Euere Majestät wieder in unsere Mitte führte ....
Wie verhielt sich das Volk?
— Am Sonntag strömte den ganzen Tag hindurch eine ungeheure Menschenmasse nach Schönbrunn, um in der Nähe des Kaisers zu sein. Bis spät in die Nacht war der Park gedrängt voll mit Menschen gefüllt, und ruhig und taktvoll verhielt sich das Volk.
Aber die Cholera war im Land! Gabs da keine Zuschriften dagegen?
— Alle Vorkehrungen gegen die Cholera werden getroffen; das erste Auftreten dieser Krankheit in Wien im Jahre 1831 fiel auf den 12. und 13. September.
Aber dafür wurde man wohl umso beredter, wenn von anderen Debüts die Rede war? Das alte Wien ist doch von dem Wien der Treumänner verachtet wegen seines Kulissenkultus? In fünf Zeitungsnummern habe ich nicht eine Zeile über Theaterdinge gefunden. Also was soll das heißen! Aber über die sonstigen Handelsinteressen zwischen Wien und Ungarn werden sie doch wenigstens geschmust haben?
— Man spricht, die Getreide-Ausfuhr aus Ungarn sei verboten; das wäre ein schöner Zug von unseren brüderlichen Nachbarn.
Nun, ich kann mir nicht helfen, ich habe noch immer nicht die Hoffnung aufgegeben, etwas zu finden, was für irgendein lebendiges, intelligentes Interesse spricht. Eine gewisse Vertrautheit mit Personalien, eine kleine Intimität mit dem Leben und Treiben, ein Alzerl Verständnis für einen Wohltätigkeitsbazar!
Gestern fand ein großes Fest im Augarten zu Gunsten der deutschen Flotte statt.
Ja, schweigt denn alles? Was erwiderte der Kaiser auf die Ansprache des Reichstagspräsidenten?
»Man hat mich gerufen, und ich bin freudig nach Wien zurückgekehrt.«
Kein Interview, wenn ein bekannter liberaler Parteiführer ankam, sondern nur das folgende:
Ihr Schwarzgelben zittert, und ihr Radicalen jauchzet, denn der Doktor Schütte ist angekommen.
Und wenn der Parteiführer auftrat?
Im Arbeiterverein hielt am 16. d. Dr. Schütte einen Vortrag; die Adresse des demokratischen Vereins an die Frankfurter Linke wurde zur Unterzeichnung vorgelegt. Herr Naaer richtete einige Worte an die Versammlung. Sander erstattet Bericht über die zu dem Minister Schwarzer abgeschickte Deputation ab.
Aus dem Sicherheitsausschuß:
Es wird die Neuigkeit vom Kriegsministerium bekannt gemacht, dass ein sechswöchentlicher Waffenstillstand in Italien gemacht wurde, was von Einigen übel und von Andern freudig aufgenommen wird.
Aber der heute noch als Vater Radetzky vielberufene Feldmarschall muß doch bei Lebzeiten unaufhörlich in aller Munde gewesen sein? Und überhaupt der Krieg?
Italien. Feldmarschall Radetzky hat in Mailand die Entwaffnung des Pöbels angeordnet.
Ja, faßte man sich denn kürzer als ein Leitfaden, wo ein Leitartikel nötig war? Aber Kudlich, von dem noch heute Nachrichten kommen, muß doch en vogue gewesen sein!
Nun kamen die Reden über den Kudlich’schen Antrag, und zwar Trojan, welcher zum Teil für, zum Teil gegen den Antrag in einer beiläufig eine Stunde währenden Rede spricht.
So fiel der Robot? ... Wie spricht ein Minister?
Kraus. Die Vorkehrungen werden getroffen werden.
Aber der Kriegsminister Latour
meldet nun noch, daß Radetzky einen äußerst vortheilhaften Waffenstillstand mit Karl Albert abgeschlossen habe. Die Flotte, sowie die piemontesischen Truppen werden von Venedig zurückgezogen.
Wie sieht das »Neueste« aus?
Triest. Die Flotte und die Landtruppen sind aus den venetianischen Häfen ausgezogen, um nach Sardinien zurückzukehren. Modena, Parma und Piazenza sind geräumt.
Aber es muß doch eine Sensation geben!
— Die Nationalgarde-Heerschau, heute von dem Kaiser auf dem Glacis abgehalten, war eine großartige; Volkswehr aus der ganzen nächsten Umgebung war dabei anwesend. Eine Feldmesse wurde ab gehalten, deren erhabenste Momente durch Geschützdonner bezeichnet wurden; auch unsere Reichs Versammlung war dabei anwesend.
Das kann durch Kürze kaum für den Mangel an Ausführlichkeit entschädigen. So einfach macht man das einfach nicht!
— In Köln erwartet man zum 13. die Ankunft des Erzherzogs Reichs verwesers, des Reichsministeriums und einer großen Zahl Abgeordneten zur deutschen Nationalversammlung. Es sind zum würdigen Empfange dieser Gäste große Vorbereitungen getroffen worden. In ähnlicher Weise werden noch Mainz, Bingen, Koblenz, Neuwied, Bonn und alle übrigen Städte und Orte längs des Rheins, zwischen Mainz und Köln, diese Reisenden begrüßen. Der König von Preußen ist in Koblenz am 12. d.M. eingetroffen, um den Reichsverweser zu empfangen und ihn nach Köln zu begleiten.
Wenn heute der Wiener Gemeinderat in Köln erwartet würde, würde sich in Wien mehr tun.
— Am 27. v.M. hielten die deutschen Kaufleute in der City zu London im Hotel zu Greenwich ein Festmal zu Ehren des deutschen Reichs Verwesers. Toaste wurden auf die Nationalversammlung, die deutschen Universitäten und das deutsche Heer ausgebracht. Der amerikanische Gesandte hielt die beste Rede, in welcher er darauf hinwies, daß die vier Millionen Deutschen in Amerika stets dahin streben werden, das Band der Freundschaft zwischen Deutschland und Amerika fest zu knüpfen.
Kein Text, kein Name, kein Menu, kein Geist. Wenn heute ein Verein reisender Kaufleute in der »City« eintrifft, wird die Zusammengehörigkeit und was sonst dazu gehört ganz anders herausgestrichen.
Und wie auf Verabredung, wie aus Bosheit, wie um der geschwätzigen Zukunft eins auszuwischen, ist ganz Europa knapp und leise:
Heidelberg. Hier bilden die Studenten ein Freikorps, um den deutschen Brüdern in Schleswig gegen die schlechten Dänen zu Hilfe zu eilen.
Frankreich scheint nun doch auch im italienischen Kriege mit auftreten zu wollen; die Alpenarmee rückt an die Grenze vor, und deren kommandierendem Generale Oudinot ist es freigestellt, nötigenfalls die piemontesische Grenze zu überschreiten. Frankreich will, daß Italien frei sei.
Und keine Mitteilungen aus unterrichteten Kreisen über Krisen, Demarchen und Merkmale der beginnenden Entspannung! Keine beruhigenden Mutmaßungen von besonderer Seite über die Stimmungen als Symptome für die Entwicklungsmöglichkeiten der Situation, keine Erklärungen über Ententen, Detenten und Enten, kein Meer von Informationen über ein Nichts.
Serbien. Karagyorgyewich, der Fürst von Serbien, hielt eine Versammlung in Kragujevaz, wo beraten wurde, was in der kroatischungarischen Sache von Seite Serbiens vorzunehmen sei; der Beschluß ist noch nicht bekannt.
Und wenn er bekannt wird, entsteht auch kein Geschrei.
Serbien .... Der Krieg wird mit gegenseitiger furchtbarer Erbitterung und Ausübung grausamer Repressalien geführt, wobei stets eine Partei die andere der unerhörtesten Barbarei beschuldigt.
Frankreich. Als Grundlage der englisch-französischen Vermittlung in Italien gibt man an: — einmal die Unabhängigkeit Italiens von Österreich, die Theilung der Lombardei zwischen Piemont und Toskana, Venedig und das Venezianische bleibe Österreich. — Und da haben wir Tausende von Menschen hingeopfert um Nichts. — Das war ein schöner Krieg!
Und ganz ohne Herbstzeitlosen! — Aber das Äußere ist doch nicht immer langweilig:
Portugal. Ganz Portugal nebst der Königin befinden sich in gesegneten Umständen. Seit vielen Jahren hat man dort nicht eine so reichliche Ernte gehalten; ebenso sieht man einem vortrefflichen Weinherbste entgegen. Der Gemal der Königin ist vom Pferde gestürzt und auf den Kopf gefallen.
Man macht nicht hohe Politik, sondern wartet, bis man etwas zu melden kriegt:
— Die sämtlichen Gesandten der deutschen Fürsten wollen dem nächst in Wien eine — heimliche Zusammenkunft halten. So schreibt man aus Braunschweig. Wir sind indeß in Erwartung.
Wir nie. Wir wissen es schon. — Ein Attentatsgerücht:
— Am verflossenen Samstage wurde nahe an der Schönbrunner Brücke ein Mann arretirt, welcher in dem dortigen Gebüsche ein Doppelgewehr versteckt hatte. Derselbe ist ein bekannter Gärtner, welcher in jener Gegend wohnt. Er hatte sein Gewehr nur blind geladen, um bei der Rückkehr des Kaisers Freudenschüsse abzufeuern. Dessen ungeachtet hat dieser Umstand sogleich zu dem Gerüchte eines beabsichtigten Attentates Veranlassung gegeben.
Das Aufatmen würde heute zehn Spalten brauchen. — Ein Brandbericht mit den Versionen über die Ursache:
— Am 13. d. Mittags hat sich das Steinkohlen-Magazin auf der Nordbahn wahrscheinlich von selbst entzündet, da die Kohlen dort bereits Monate lang gelagert waren.
Es muß aber schon damals ein Neues Wiener Journal gegeben haben:
Wer eine Notiz lesen will, in welcher jedes angeführte Faktum eine Lüge ist, wer sich von der gefährlichen Authentie (Glaubwürdigkeit) der Neuigkeiten, welche uns die berüchtigte Gassen-Literatur bringt, überzeugen will, der nehme das Blatt Nr. 22 der National-Zeitung zur Hand ... Wir finden es nicht der Mühe werth, eine rechte Entgegnung darüber zu schreiben, um unsere Ehre zu retten, nein! nur um dem Lese-Publikum einen Beweis von der Nichtswürdigkeit solcher Berichterstatter zu geben, die alle Kneipen-Gerüchte und Kaffee-Tratschereien in Beschlag nehmen, daraus artige Notizen qualifizieren, um ihre Journal-Spalten damit zu füllen, sie dann als frisch gekochte Wahrheit der Lesewelt übergeben, die nun nolens volens ihre Wißbegierde damit sättigen soll .....
Es handelt sich um eine harmlose Lüge von sieben schlichten Zeilen. Wenn wir heut solche Lügen hätten, wäre uns geholfen!
Wie werden die behandelt, die genannt sein wollen?
Auch L. Eckhardt hatte gesprochen, von einer Adresse oder was; unser Referent hat ihn deßhalb nicht angeführt, weil es sich so zu sagen von selbst versteht, Herr Eckhardt war dabei, Eckhardt muß überall dabei sein; nächstens wird ein »Altweibertratsch-Verein« errichtet, — Herr Eckhardt geht als Deputierter dahin; ein Windelkinder- Klubb, — Hr. Eckhardt ist Mitglied und Sprecher. Nur berühmt, nur berühmt um jeden Preis!
Wie sprach der Ruhm?
— Offiziere, die von der Armee aus Italien hier ankommen, können des Rühmens nicht fertig werden über die Wiener Freiwilligen. Im Vereine mit den Kaiserjägern sollen sie wahre Heldentaten bei Voltra ausgeführt haben.
Sonst nichts? Wie würde man heute des Rühmens nicht fertig werden! Welche Literatur blüht uns! Impressionistische Einfalle in Feindesland! Siegreiche Einfalle für die Schmucknotiz! Die Armee wird mehr Rezensenten als Soldaten haben, und selbst die Soldaten werden noch Eindrücke haben und Auskünfte erteilen.
Wie war’s, als sie auszogen?
Salzburg. Am achten dieses Monates marschierten hier zwei Divisionen Deutschmeister nach Italien durch.
Ohne journalistische Aufregung und ohne amtliche Beruhigung. Sie marschierten. Die anständigste Gelegenheit, alle die namentlich anzuführen, die dabei waren, sie ging vorüber. In einem kommenden Krieg wird sie auch vorübergehen. Wegen der allgemeinen Wehrpflicht? Nein, wegen Raummangels. Denn es werden alle die genannt werden, die nicht dabei waren, die schon im Frieden bemerkt wurden, die Telephon-Abonnenten, die Nichtraucher, die Trinkgeldverweigerer, die Mißvergnügten der Eisen- oder Straßenbahn, die verzweifelten Anrainer, die Kotillonarrangeure, die Gratulanten und Kondolenten, die Patrioten, alle, alle, nur nicht die Soldaten. Wird deren Leistung die Quelle kultureller Erneuerung oder publizistischer Sensation sein? Wird sie den Staat von dem parasitischen Geschlecht, dessen Antlitz und Sprache er angenommen hat, befreien? Wird Blut das Blut erneuern, das wie Druckerschwärze fließt und stinkt? Eher stürzt der Islam ein als der Glaube an das Wort, das gedruckt ist! Die Unbesiegten sind die, die nicht in den Krieg ziehen. Sie sind nicht mehr die Boten, sie sind die Dichter der Taten und darum die Schöpfer der Gefahren. Will man ihrer Macht und Möglichkeit inne werden, dann betrachte man nicht die Weihnachtsnummer von heute, sondern eines jener vergilbten Blätter, aufweichen die Druckerschwärze wie der Botenlohn einer Bescheidenheit liegt, die für die Erleichterung der Pflicht noch Dank zu haben, nicht für den Mißbrauch der Maschine Dank zu begehren scheint. Die wichtigsten Probleme sind noch ein Redaktionsgeheimnis; sie werden nicht ausgeplaudert. Kultur ist ein Inhalt, noch kein Tapetenmuster. Krieg und Frieden sind noch Gedanken, und Gedanken denkt man noch selbst, anstatt sie zu abonnieren.
Und wie steht’s, um über solchem Tand die letzten Dinge nicht zu vergessen: mit den Annoncen? Nebbich. In fünf Nummern zwei.
Ein Kalligraph
übernimmt alle in sein Fach einschlagenden Arbeiten, als: die elegante Anfertigung von Lehr- und Meisterbriefen, Stammbuchblättern etc. und verspricht die prompteste Ausführung. Adressen hat die Redaktion dieser Blätter.
Ein geübter Musiker
gibt gründlichen Unterricht im Forte-Pianospiel und Gesang. Adressen beliebe man gefälligst alte Wieden, Hauptstraße, 2ten Stock, zum Schlüssel, abzugeben.
Die Jauche der Bedürfnisse ergoß sich noch nicht in den Kanal des Geistes. Keine Nachfrage entsprang noch keinem Angebot. Man schrieb schön und spielte piano.
Es war eine erbärmliche Zeit. Man erfuhr, was man wissen wollte, aber nicht mehr. In ihrem trostlosen Zustand versuchte es die Technik gar nicht erst, in jene Gegend einzudringen, die der Geist seinem ureigenen Bedürfnis vorbehielt. Wofür denn hoben sich diese altväterischen Gehirne auf? Wofür entzogen sie sich dem Versuch, ihnen unter geistigem Vorwand Tatsächliches einzupropfen? Für den Geist. Den müssen sie wohl oder übel noch irgendwo gehabt und noch irgendwie gehütet haben. Sonst hätten sie nicht die Kraft gehabt, sich der journalistischen Überredung zu entziehen; sonst hätte es jenes fluchwürdigste Experiment, das je am Menschengeist gewagt wurde, damals schon gegeben. Sonst wären schon damals die Ereignisse abhängig gewesen vom Bericht und die Welt Augenzeugin des Treibens dieser Augenzeugen, die vor dem Heldentod, den Mut und Menschlichkeit im Kampf mit Pferdekräften sterben, vor Menschenopfern unerhört des schuftigen Amtes der Causerie walten. Sonst wäre schon damals die Farbe gestorben; denn die Redner hätten sie nicht nur bekannt, sondern die Schreiber beschrieben. Sonst wäre die grauenvolle Künstlerschaft jenes schmählichen Reporters, der ohne Bewußtsein des Kontrasts und ohne Ahnung der Perspektive, nur dank der symbolisierenden Gewalt, die der Geist auch über den Geistlosen vermag, die Partie Sechsundsechzig der österreichischen Journalisten mit dem Abendgebet der moslimischen Soldaten konfrontiert hat — schon damals möglich gewesen! Sonst hätte es schon damals statt der Wanzen, die ein überlebter Vorwurf gegen den Balkan sind, Kriegskorrespondenten auf dem Balkan gegeben! Sonst hätte solches Gezücht, das den Lebenswillen der Bulgaren und die Todesverachtung der Türken zugleich hat, schon damals im Balkan wie in einem Rezensionsexemplar gehaust. Sonst hätte die graue Welt der Technik schon damals in der Buntheit imbeziller Persönlichkeiten geglänzt, und wäre schon damals das Jubiläum eines Kaffeesieders geschmückt worden, wie damals die Heimkehr eines Kaisers nicht geschmückt wurde. Sonst wäre schon anno 48 ein Gewerbe frei geworden, ein Schandwerk kreiert, das seine Leute nährt, ein Beruf, den es nie zuvor gegeben hat: ohne Eingebung, ohne das zwingende Muß des Geistes, nur im Dienst des ruchlosen Bedürfnisses menschlicher Neugierde, zu fremdem Unglück Impressionen haben zu müssen, nein, es zu können, aus fremdem Erlebnis für die Stimmung der andern zu dichten und ohne Gedanken nachdenklich zu sein. Sonst wäre eben damals mit jenem Schein der Freiheit der schändlichste Robot: die Geisteigenschaft eingeführt worden. Schon damals alles Blut der Literatur abgezapft und für die elende Nachfrage einer durch das Angebot immer mehr korrumpierten Kundschaft als Stehwein verhökert. Sonst hätte sich wahrlich schon damals die Empfänglichkeit, die sich dem Glück geistiger Befruchtung erhielt, in die sterile Hysterie verwandelt, die allein vor dem Kitzel der Neuigkeit beweist, daß sie überhaupt noch ein Zustand ist. Und daß sich dort noch ein Organisches regt, wo kein Atem mehr antwortet, wenn das Ewige seine Wiederbelebungsversuche anstellt! Aber, wo noch Gesicht ist, sehe es zu, und wo noch Gehör ist, höre es:
Wird im Konsilium von Kunst und Natur ein grausamer Wille beschließen, daß dem verdorrten Schoß noch einmal etwas wie eine Zukunft entspringt, dann wird sie sportgelenk, aber mit verpichten Ohren und mit verklebten Augen auf diese Welt fallen, und wenn sie noch einen Mund hat, ihre Mutter des schändlichsten Ehebruchs beschuldigen: daß sie einen Apollo mit einem Lumpenkönig betrog, den Geist mit dem Zeitgeist! Und dann wird sich weisen, daß die Neugebornen, die Verstümmelten, die die Gegenwart in ihrem Schöße trägt, ein tieferes Gefühl für das Weh ihrer Menschheit haben, als die Jugend, die heute im gottlosen Glanz dieser Gegenwart lebt und glaubt, daß sie lebe. Dann wird der Gesellschaft im Besitz von ehrlichen Krüppeln jeder Schein von Gesundheit, mit dem sie heute prahlt, benommen sein, und fern aller Schwindel einer mechanistischen Glückstheorie, der jetzt allen Kastraten den Vorwand gibt, sich als Männer zu fühlen. Und unmöglich, daß jene Jugend, die da kommen wird, von sich dann noch behaupten wird, sie habe akademische Ziele. Und wenn ich unter dieser Jugend leben könnte, dann möchte ich mir nicht mehr einbilden, daß sie je ein Wort von mir empfangen hat. Diese Täuschung kann ich nur in der Gegenwart erleiden; denn sie hat die Qualität des Betruges. Nur ihr ist es möglich, mir zu der holden Illusion zu verhelfen, ich spräche zu einer Jugend und diese Jugend wäre der reifende Ersatz für jenes preßkranke Alter, dem ich den Todesstoß gebe, und diese Jugend machte den Tauschhandel von Wert und Macht, den ein Kadaver noch versucht, nicht mit. Nur in ihr hat eine Jugend Spielraum, ihre erlebte Unfähigkeit zur Größe nicht in zitterndem Schweigen zu begraben, sondern mit respektlosem Schwall sich vor dem Unerreichbaren bemerkbar zu machen und in jämmerlich umgelogener Furcht vor dem Geist ihm soziale Talente gegenüberzustellen, dem Ideal das selbst dieser Sorte einmal Erreichbare: den Rekord. Der Himmel des Heute ist die Zuflucht dieser nunmehr von einem englischen Clown der Gottlosigkeit bedienten Schwäche, und der Trost dieses Shaw, der am Sterbebett der Menschheit seine Lazzi macht, hat schon manchem Leib über die Unbequemlichkeiten des Glaubens hinweggeholfen. Mit einem Witz, der den Zweck des Lebens mit dem Zweck eines Gebrauchsgegenstandes verwechselt, setzt sich die maßlose Banalität über das hinweg, was sie mit dem Mikroskop nicht wahrnehmen kann: die Größe.
Da es aber den Geist irgendwo gibt, so bleibt auf Erden nichts übrig als Unruhe. Die Überlegenheit rettet sich, je nachdem, in die Maschine oder in die Psychologie, immer in die Druckerschwärze, die schon für sich eine Weltanschauung ist und allein die Handhabe bietet, den Selbstmord des Generals Nogi lächerlich zu finden, eine »fatale höfische Faxe« zu nennen und einem toten Helden, der »nichts zu tun hatte und darum in einer antiquarischen Samurai-Moral geschäftig wurde«, einen quietschlebendigen Roosevelt vorzuhalten, der »zu tun hat«. In dem Manifest einer sich als Jugend fühlenden Gemeinschaft, mit der mein Name das Unglück hatte, zeitweise in einen äußerlichen Zusammenhang gebracht zu werden, findet sich das Ungeheuerliche und offenbart sich die Möglichkeit, daß ein Knabe von der Empörung über den Selbstmord des japanischen Generals, »der sich dem modernen Energieausnützungsgedanken entzogen habe«, derart geschüttelt wird, daß er in den Ruf »Fort mit den Asiaten aus Europa!« ausbricht und »weg damit!« Es ist der Schwäche eigentümlich, daß sie, anstatt aus Pietät für die Überlebenden Selbstmord zu begehen, ihre Zähigkeit in Ausfällen gegen die Kraft beweist. Belanglosigkeit und Komik, die der einzelne Fall für sich geltend machen kann, wandeln sich aber zu einem Bild des Grauens, wenn sich der Blick an den Typus wendet. Und da verschwindet die Gefahr der heute Erwachsenen, die hinter dem Ideal ihre soziale Notdurft verrichten, die es leugnen, aber nicht verhöhnen, vor dem Ausbund einer Jugend, die die Notdurft verherrlicht und am Ideal verrichtet! Da fragt man sich, ob man den Kommerzialräten nicht Unrecht getan hat; denn ihre der Tat des Generals Nogi abgekehrte Weltanschauung begnügt sich mit der Feststellung, daß der Brauch uns fremd ist, und liefert uns Feintuche. Sie opfert sich auf für das Geschäft. Und der alte Redakteur hat nichts Schlimmeres getan, als das Harakiri unpassend für eine aufgeklärte Zeit zu finden und achselzuckend zu bedauern: »Auf was die Leut für Ideen kommen, wenn sie nichts zu tun haben!« Es ist gespenstisch, wie die Realität meiner Satire folgt. Schatten werfen Körper. Und jetzt erfüllt die neue freie Jugend, was ich der alten Presse andichte! So sieht die Generation aus, die den Vätern antwortet. Sie liefert dem Rebbach das philosophische Fundament. Verzweifelnd blickt man sich nach einer anderen Jugend um. Denn die hier ist brauchbar!
Und wenn sie sich nur so manifestierte, daß sie im Gänsemarsch um einen Gaskandelaber herumginge statt um einen toten Helden, sie soll willkommen sein! Und ein Rudel Galerieenthusiasten, der dem schlechtesten Schauspieler für den Schall eines Schiller-Verses huldigt, erscheine getrost als Erneuerer der Menschheit neben den Claqueuren des Herrn Roosevelt, neben den Pathetikern der Maschine, die einem Chauffeur die Pferde ausspannen wollen, und neben den Krafttinterln, die die Technik deshalb dem Ingenium vorziehen, weil sie vor diesem verloren, hinter jener aber, selbst sie, Helden sind. Man kurbelt; das ist so schnell wie schreiben und noch unpersönlicher. Man analysiert Gott und die Liebe, und das ersetzt beides. Die Schwäche ist ein wahrer Jungbrunnen für die Schwäche. Psychologie ist das Rezept für den Mangel, der zu ihr inkliniert, und Technik macht das kranke Bein zur Krücke. Das ist praktisch. Aber wenn die Krücke den Menschen anfaßt und behauptet, daß er ohne sie nicht gehen kann, so hat ein Zauberlehrling über dem »Zweck« das »Wort« vergessen, dem auch ein Stock sein Dasein verdankt, ein Besen, ein Knecht! Und an Goethes erhabenem Symbol, in dem sich jedes Unterfangen am Geiste und darum auch das entsetzliche Gewässer dieser Zeit begreift, die »Wunder auch tun« will, haben sich die analytischen Zauberlehrlinge der Deutung vermessen, es sei »die Sublimierung der Bettnässe«! Dieses furchtbare Ineinander, durch das ein Gedicht zum doppelten Sinnbild der Gottlosigkeit wird, bezeichnet das Maß des Opfers, zu dem die talentierte Zeit gegen den Geist fähig ist. Vom erforschlichen Ratschluß des Afters beziehen sie die Gnade, und ihre Wissenschaft, die ein Afterglaube ist, erdreistet sich eines Appells »an alle jene, die ausgegangen sind, den Ort zu suchen, wo eine neue Wahrheit in der Krippe liegt«. Dies Wort ist gesagt und hier bleibt nur ein letztes Wunder: wie die Schamlosigkeit nicht vor ihrem letzten Ausdruck erschrickt, und daß Menschen, deren Dasein an sich schon eine Blasphemie ist, auch noch mit dem Mut der Schmutzkonkurrenz in eine Welt geweihter Vorstellungen brechen. Man zweifelt an der Zurechnungsfähigkeit dieser Rechnungsfähigen; man fühlt das Dunkel, aus dem diese Erklärer kommen, um mit der schäbigen Laterne ihres Bewußtseins die Mysterien zu behelligen. Der Rationalismus der Deuter und Dreher läßt nur ein Rätsel ungeschoren: sich selbst. Und vor den Versicherungen der Technik bleibt nur eine Sicherheit zweifelhaft: ihre eigene. Man hofft immer noch, daß sie auch das nicht glauben, was sie wissen. Sieht man sie an (die philosophischen Pferdekraftmeier, die das Müllern mit Recht für gesünder halten als das Harakiri, und jene gar, die ihnen nachmüllern und sich die neue Gesundheit mit blasser Tinte verschreiben), so fragt man sich, ob es wohl denkbar ist, daß aus dem Mund eines Zwanzigjährigen Sätze kommen könnten, die aus seiner Feder kommen. Denn man weiß, daß Schreiben nicht mehr das ist, was einer verantwortet, sondern die ultima ratio der Unverantwortlichkeit. Und faßt es dennoch nicht, daß als ein Dokument der Jugend der Ruf gelten soll: ».. Wir haben keine Heldenlieder mehr, dafür aber Zeitungsberichte, die für den Augenblick den Namen eines Helden in tausenden Exemplaren kund tun. Deshalb ist auch der Begriff des ›Helden des Tages‹ etwas zeitgemäßer .. Für das Außerordentliche haben wir keine Zeit ..« Und daß diese Jugend diese Wahrheit nicht als schmerzlichen Gemeinplatz mir abgenommen hat, nein, eine freudige Entdeckung macht! Es ist nicht anders: die dunkle Rache verstoßener Weiblichkeit muß in das Mannsbild gefahren sein, sich selbst an dem neuen schwachen Geschlecht verhärtend, das nun seine Schwäche anmutlos am Haß gegen die Liebe verschwärmt, gegen die Erinnerung der Natur und des Ideals, auch wieder von dem Bedürfnis getrieben, sich zu verhärten. Aber diese Emanzipation ist nicht wie jene ein interessantes Minus, sondern führt empor zur Null. Und so häßlich ist dies Versteckenspiel der Geschlechter, daß man immer wieder dem Schein glaubt, nun spreche das rechte. Aber es ist immer das unrechte, und vor diesem Mischmasch verzichten Wüstling und Philosoph. Nicht, als ob es nicht möglich wäre, diese Jugend, wenn man sie nur recht fest anschaut, flugs wieder zur gegenteiligen Weltansicht zu bekehren. Aber will man denn dort die Macht üben, wo man von der Machtlosigkeit des Wertes überzeugt wurde? Der Blick auf die Entwicklung wird ja erst durch die Wahrnehmung dieser Fähigkeit, zu fluktuieren, so entsetzlich, und der Ausweg in die Erbärmlichkeit sei ihr von rechtswegen gegönnt. Nur möchte man, da man so die Jugend in der glücklich errungenen Freiheit sieht, selbst einen Ausweg finden. Denn in dieser Zeitgenossenschaft zu verschmachten, macht den Eintritt in die Hölle hoffnungsvoll. Die jungen Leute dort dürften wissen, wofür sie erglühen. Hier ist Druckerschwärze und hysterische Hitze. Alle sehen wie jeder aus. Hier bleibt nichts übrig als Erkenntnisse, von denen man nicht leben kann. Sich der Jugend seiner Zeit zu schämen, ist kein Ziel. Es entschädigt nicht dafür, daß man die Männer seiner Zeit nicht achtet und die Greise bedauerlich findet. Es ist die letzte Stufe auf dem Weg, der zur Warte der Aussichtslosigkeit führt. Wenn man nur durchkommen könnte! Wenn nur der Zwang nicht wäre, im Nebel das verkehrte Leben zu erkennen und die Sprache zu finden gegen den Druck, der sie nimmt!
Vgl.: Die Fackel, Nr. 363/364/365, XIV. Jahr
Wien, 12. Dezember 1912.