Juli 1914
Das Bild des Siegers
Das als Beiblatt dieser Satire erschienen war
Noch immer gibt es Leser, die der Meinung sind, die bildlichen Darstellungen der Fackel seien Karikaturen. So wird zumal die photographische Echtheit des »Siegers« nicht vermutet, sondern bezweifelt oder gar bestritten. Der »Sieger« ist aber beileibe kein Kunstwerk, sondern ein schlichter Alpdruck nach einer Photographie. Es wäre ebenso wertlos wie überflüssig, das Gesicht des Herausgebers der Neuen Freien Presse in einer Karikatur darzustellen. Die Leser verstehen noch immer nicht, daß es sich hier wie in anderen Fällen um photographische Zitate der Wirklichkeit handelt und daß diese Reproduktionen eben dadurch Wert haben, daß das, was eine Karikatur sein könnte, keine ist. Der Glaube an eine solche muß also auf der Stelle durch das Wissen, daß es keine solche ist, widerlegt sein. Was an dem Porträt des »Siegers« Erfindung war, ist lediglich die Komposition. Natürlich hat er sich nie vor dem Parlament aufnehmen und die Pallas Athene sich zum Hals herauswachsen lassen. Die Photographie ist aus dem Gruppenbild der Wiener Journalistik, das in einem illustrierten Blatt zum 60jährigen Kaiserjubiläum erschien, ausgeschnitten. Der Sieger steht dort hoch über allen auf einer Estrade, »tritt unter sie«, dem Jugurtha zum Verwechseln ähnlich. Man nehme dazu eine Ansichtskarte vom Parlament, wo die Pallas Athene sich vergebens nach einem Zeus sehnt, gebe das Ganze zum Klischee-Macher, und das Bild des Siegers ist fertig. Und das soll eine Karikatur sein? Es ist die Vereinigung zweier Sehenswürdigkeiten, deren eine bisher verborgen geblieben ist. Hier war nur etwas zu entdecken, nichts zu erfinden übrig. Denn wenn das Leben am Ende ist, haben der Satiriker und der Karikaturenzeichner schon vorher abgedankt. Vor dem Totenbett der Zeit stehe ich und zu meinen Seiten der Reporter und der Photograph. Ihre letzten Worte weiß jener und dieser bewahrt ihr letztes Gesicht. Und um ihre letzte Wahrheit weiß der Photograph noch besser als der Reporter. Mein Amt war nur ein Abklatsch eines Abklatsches. Ich habe Geräusche übernommen und sagte sie jenen, die nicht mehr hörten. Ich habe Gesichte empfangen und zeigte sie jenen, die nicht mehr sahen. Mein Amt war, die Zeit in Anführungszeichen zu setzen, in Druck und Klammern sich verzerren zu lassen, wissend, daß ihr Unsäglichstes nur von ihr selbst gesagt werden konnte. Nicht auszusprechen, nachzusprechen, was ist. Nachzumachen, was scheint. Zu zitieren und zu photographieren. Und Phrase und Klischee als die Grundlagen eines Jahrhunderts zu erkennen. Ein Ohr kann müde werden; so werde gezeigt, was in der österreichischen Versuchsstation des Weltuntergangs sich vor das Auge gestellt hat. Ich bin durch die Abenteuer aller Banalität gegangen und habe die Tiefen vieler Oberflächen durchmessen. Nun ist es zu sehen. Wie der Wiener lebt und wie er leibt. Und wie er sich auf dem Abtritt seines Geisteslebens benimmt. Sein Appetit, sein Geschmack, seine Weltanschauung, die den Lebenszweck den Lebensmitteln dienstbar macht; was er liebt und was er fürchtet; wie er sich behauptet und wem er sich unterwirft. Über allem aber der Herr seines und unseres Lebens: wäre er nicht photographiert, man hätte ihn so erfinden müssen.
Vgl.: Die Fackel, Nr. 400–403, XVI. Jahr
Wien, 10. Juli 1914.