September 1911
Mona Lisa und der Sieger
Mit zwei kunsthistorischen Ereignissen hat sich der Sommer 1911 in die Geschichte der Menschheit eingetragen, mit zwei Gewalttaten zugleich, deren zeitliche Nähe einen tief symbolischen Zusammenhang offenbart. Im August wurde die Mona Lisa aus dem Louvre gestohlen, aber dafür hatte uns der Juli das Porträt des Herausgebers der Neuen Freien Presse geschenkt. So merkwürdig die Nachbarschaft der beiden Taten ist, so erkläre ich, um jeder Reklame für das Sicherheitsbureau der Wiener Polizei die Spitze abzubrechen, sofort: daß ich die Mona Lisa nicht gestohlen habe. Bei Gott! ich hab’s nicht getan; aber hätt’ ichs getan, ich würde mich dieser Tat nicht schämen, denn sie wäre beim Teufel nicht das schlechteste, was ich in meinem Leben getan habe. Im Gegenteil stehe ich nicht an zu behaupten, daß mir die Anonymität des Diebs das einzige bedenkliche Moment in seiner ganzen Aktion zu sein scheint, von dem wundervollen Entschluß an, ein Kunstwerk vom Anblick des Publikums zu befreien, bis zur erlösenden Tat. Zuzutrauen wäre sie mir schon, und ich unterscheide mich von dem Täter nur darin, daß ich mich zu seiner Tat bekenne. Die Hand, die der Welt die Visage des Siegers geoffenbart hat und ihr, weit über jede Absicht des Spottes hinaus, fern aller karikierenden Bosheit, in bebender Andacht gezeigt hat, wie das aussieht, was den Staat beraubt und was die Welt verpestet; die Hand, die es nicht dulden wollte, daß das Antlitz der Macht länger verborgen bleibe, welche die Partei des Geldes gegen den Geist vertritt; die Hand, die an einer gemeinen Photographie zu zeigen imstande ist, wie der Fortschritt dasteht, wie die Geldgier die Faust ballt, welchen Blick die Aufklärung hat, welchen Bart der Einfluß und welche Nase der liberale Triumph — diese Hand wäre, weiß Gott, auch imstande gewesen, die große Befreiungstat zu vollführen, die die Kunst gegen diese Macht geschützt hat! Mona Lisa — das ist der Schulfall, um der Weltbestie Intelligenz, an deren Haß der Künstler stirbt, aber von deren Haß die Kunst lebt, den Genickfang zu geben. Daß der Abtransport der Mona Lisa die endliche Erfüllung einer tiefen kulturellen Notwendigkeit bedeutet, geht für alle, die Ohren haben, wenn sie schon nicht die Fähigkeit übersinnlichen Erfassens hatten, aus dem Gekreisch derer hervor, die sich als Verlustträger gebärden. Aus dem Wehgeschrei des Abschaumes der Menschheit, der, nicht imstande zwischen Lionardo und einem Farbendrucker zu unterscheiden, behauptet, daß der Verlust der Mona Lisa nach dem Antisemitismus die größte Schmach des Jahrhunderts sei. Aus den Artikeln des Siegers, der trotz der Zerschmetterung der Christlichsozialen das Leben ohne die Mona Lisa nicht mehr lebenswert findet, wegen des seltsamen, unergründlichen Lächelns; der behauptet, daß ein Bild, welches zu Tausenden gesprochen, welches das Ziel der künstlerischen Andacht Tausender war, dieses Kleinod, welches Tausenden unendlich teuer ist, von Tausenden und Abertausenden bewundert wurde, nein, Tausenden und Abertausenden ein Born reinsten Empfindens, und Tausenden, ja man kann ohne Übertreibung sagen, Millionen ein Ziel frommer Wallfahrt war, daß ein solches Kleinod, wenn es gestohlen wurde, eine Schmach für die ganze Menschheit und ein Angriff gegen das ideale Interesse aller Völker und Länder und nicht nur Paris, sondern die ganze Welt und die ganze zivilisierte Welt und die ganze Kulturwelt und wieder die ganze Kulturwelt und die Augen der ganzen Kulturmenschheit sind nach Paris gerichtet und nach dem administrativen Augiasstall, so daß man »an« Marokko vergaß und unter dem ersten niederschmetternden Eindruck, nachdem der Sonnenstrahl der echten Kunst auch in das ärmliche Heim der unteren Schichten gelenkt wurde und die Erschließung für die großen Massen und die breiten Schichten, so daß nur die Hoffnung bleibt, dem Besitz der Menschheit erhalten zu bleiben und vor dem bewundernden Blick der Gesamtheit wieder aufzutauchen, und die ganze Welt den Wunsch hat, daß sie doch noch gefunden wird, damit das kostbare Gemeingut der Allgemeinheit, das geheimnisvolle, unergründliche Lächeln der Mona Lisa, welches Tausenden in tiefster Seele nachleuchtet, auch in Zukunft Tausenden und Abertausenden zur Quelle reinster Freude werde — All dies zeigt, wie notwendig hier ein entschlossenes Handeln war. Seit jeher hatte ich, ohne daß ich mir’s recht gestehen wollte, eine geheimnisvolle Abneigung gegen das unergründliche Lächeln der Mona Lisa. Ich hatte es noch nicht gesehen, aber es verfolgte mich seit dem ersten Blick in eine Zeitung, denn meine Bestimmung war es, ein Leben lang mehr Kunstkritiken als Bilder zu betrachten. Aber nicht nur in Kunstkritiken, auch in Literaturkritiken trat mir das unergründliche Lächeln der Mona Lisa entgegen, es fehlte — lange ehe es in den Leitartikel kam — in keinem Feuilleton, und kaum ein Sonntagsplauderer lebte, der nicht der geheimnisvollen Pragerin, die auf der Ischler Esplanade Furore machte, das besondere Merkmal nachrühmte, daß sie das unergründliche Lächeln der Mona Lisa habe. Wie mir »das alte Wien des Canaletto« durch die häufige literarische Verwendung dieses Malers unsympathisch wurde, so machte sich mir die Mona Lisa durch eine Eigenschaft verhaßt, die sie schon mit jedem Jourmädel zu teilen schien. Dieses Vorurteil nun wurde vom Anblick des Originals nicht besiegt, sondern im Gegenteil fand ich, daß es nicht bald etwas Reizloseres, Altjüngferlicheres geben könne als das Lächeln der Mona Lisa, auf deren Geheimnis ich nicht neugierig war und die mir günstigsten Falls den seichten Glauben an die Unergründlichkeit der Frauenseele zu belächeln schien. Aber vor allem in einem Punkte unterschied ich mich von den Tausenden und Abertausenden: ich gab — ohne von der Kunst der Farbe viel mehr zu verstehen als sie — die Möglichkeit zu, daß Lionardo auch dann ein großer Maler geworden wäre, wenn die Gioconda zufällig ohne Lächeln auf die Welt gekommen wäre, und daß er ein Künstler war, selbst wenn sie ein Scheusal war. Das ist es nämlich, was der Kunstverstand meiner Bedienerin und meines Leitartiklers und der ganzen kultivierten Welt nicht zugeben wollte, und wenn Reznicek die Gioconda noch schöner gemalt hätte, so hielten sie ihn für einen noch größeren Künstler als Lionardo. Ihre Trauer um den Verlust eines Originals würde vertausendundabertausendfacht, wenn auch alle Kopien verloren gingen, und wie viel Jammer in der Welt wäre, wenn erst alle Ansichtskarten der Mona Lisa geraubt würden, das ist gar nicht zu ermessen. Auch auf einem höheren Kulturniveau als jenes ist, auf dem die kultivierte Menschheit steht, wäre die Wehklage über ein verlorenes Bild als Heuchelei abzuweisen, die Unerheblichkeit des Kunstwerks im Vergleich zum Künstler hervorzuheben und die Kunst nötigenfalls durch Vernichtung des fertigen Werkes gegen die Anerkennung von Leuten zu schützen, deren tiefere Teilnahme ja doch nur jenen schöpferischen Naturen gehört, die Feuer fressen oder bis zum hohen C gelangen können. Wie aber die kulturellen Verhältnisse heute liegen, ist es schlechthin ein Rätsel, warum über die Vernichtung eines Ölgemäldes in der Auslage der Firma Nedomansky, das den letzten Straßenexzessen zum Opfer fiel, nicht Leitartikel geschrieben wurden. Den kunstfernen Sudlern, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Aussicht eröffnen, daß die Kunst demnächst »Gemeingut« werde, und die darüber entzückt sind, daß die Mona Lisa sich schon so eingebürgert habe wie das Telephon: ihnen, die die Kunst verbilligen — nicht bloß jenen, die das Fleisch verteuern wollen, müßte man die Fenster einschlagen! Und ein Gesindel, das nur die Ekstase merkantiler Erlebnisse kennt, nur die Ehrfurcht vor dem Geld, nur die Spannungen der Börse; dem Kunst ein Gesellschaftsspiel und Religion ein gesellschaftlicher Zwang ist; dem Religion das ist, woran der Salo Cohn glaubt, und Kunst das, was er kaufen kann: solches Volk applaudiert dem Leitartikler, wenn er beteuert, daß »jeder einzelne verarmt und schwer geschädigt« sei, als wär’s der schwarze Freitag, und wenn er den Einwand, daß es schließlich ja doch nicht um die Börse, sondern nur um die Kunst gehe, mit der Frage vorwegnimmt: »Ist das andächtige Erschauern vor einem Kunstwerk nicht auch etwas Heiliges?« Denn sie alle sind vor der Mona Lisa andächtig erschauert, sobald sie dazu Zeit hatten. »Wie viele«, ruft jener, »die im Drang der Geschäfte nach der französischen Hauptstadt kamen, haben vor dem Bilde Lionardo da Vincis Augenblicke der Erbauung und der Andacht verbracht, die ihnen wirklich zum inneren Erleben wurden!« Das kann man sich vorstellen. Die Manufakturreisenden, die, ohne im Baedeker nachzusehen, ins Louvre eilen, zuerst enttäuscht wegen der Verwechslung, dann aber gebannt, hingerissen, wie festgewurzelt vor der Mona Lisa, schnell ihre Andacht verrichtend, Schlag zwei wieder bei der Firma, weil das Leben ja doch seine Rechte fordert! Nun ist sie dahin, und ihnen bleibt nur die Erinnerung, und wenn sie ein unergründliches Lächeln brauchen, sind sie rein auf das Konterfei des Siegers angewiesen. Freilich hat dieses den Vorzug, daß seine Echtheit unbestritten ist. Denn von der aus dem Louvre entwendeten Mona Lisa hat ein Sachverständiger behauptet, daß sie eine Kopie sei. Ist sie das, so ist auch die Trauer, die die Kulturmenschheit über den Verlust eines Kunstwerks empfindet, als Schwindel entlarvt. Denn um ihr Schauer der Andacht beizubringen und in ihrer tiefsten Seele nachzuleuchten, dazu hat eine Kopie ausgereicht und würde erforderlichenfalls eine Photographie ausreichen. Da sie es für Kunst hält, wenn das Modell ein freundliches Gesicht macht, so ist ihr mit jeder Art von Reproduktion zu helfen. Die Mona Lisa ist gestohlen und der Nordpol entdeckt worden: ob das Bild falsch war und Herr Cook nicht hingekommen ist, ist gleichgültig. Auf die Begleitumstände der menschlichen Dummheit kommt es nicht an. Die Hauptsache ist, daß sie am unergründlichsten gelächelt hat und daß er der nördlichste Punkt ist! Im Drang der Geschäfte begnügt sich die Menschheit mit den Illusionen. Die realen Werte des Lebens gehen ihr doch nicht verloren. Es sind jene, über deren Erhaltung das Bild des Siegers geheimnisvoll lächelt, wenn es auch nur eine Photographie ist.
Vgl.: Die Fackel, Nr. 331/332, XIII. Jahr
Wien, 30. September 1911.