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März 1912

Recht und Pflicht, mich totzuschweigen

Bitte um Totschweigen

Es hat sich in die ohnedies empfindlichen Gehirne meiner Zeit-, Orts- und Berufsgenossen — wie gern wäre ich schon dieser dramatischen Einheit verlustig — ein Mißverständnis eingefressen. Darüber, daß ich mich über das Totgeschwiegenwerden beklage und gern das Echo jener Stimmen mache, die den Kordon des Schweigens durchbrechen. In Wahrheit tue ich nur so und die Wahrheit ist, daß ich nicht so tue. Man denkt nicht immer auf derselben Ebene, nie auf derselben, auf der der Leser denkt, und Konsequenz kann immer einen andern Sinn haben. Der Abdruck der Rezensionen, anfangs wohl einer literaturpolitischen Absicht, nie dem Vergnügen an oft völlig wertlosem Lob entsprungen, dient immer dem Zweck, das Milieu der Empfänglichkeit festzuhalten und künftigen Literarhistorikern die Arbeit und das Verdienst abzunehmen. Was aber die Klage über das Totgeschwiegenwerden und die Freude über die Entschädigung betrifft, so ist längst ein wohltätiger Wechsel eingetreten und es wird hoffentlich noch dahin kommen, daß die Klage über die Entschädigung in der Freude über das Totgeschwiegenwerden verstummt. Möchte es doch! Denn es kann schwer sein, über mich zu schweigen — über die Schwierigkeit, von mir zu sprechen, kommen die wenigsten hinweg. Wenn ich der Wiener Presse deutsche Urteile unter die Nase hielt, so geschah es weiß Gott nicht, weil ich sagen wollte: So ist’s mir recht. Oder: Dort geschieht mir Recht, hier Unrecht. Sondern, weil ich, die eigene Sache objektiv wie fremden Wert betrachtend, eine kulturell beträchtliche Unterlassung feststellen wollte. Wenn ich endlich — auf die Gefahr hin, an allgemeinem Gut mich zu versündigen — meinen persönlichen Geschmack zu Wort kommen lassen darf, so möchte ich eine inständige Bitte um weiteres Totschweigen vorbringen. Ich habe es getadelt, weil es eine Sünde ist, die zum Himmel stinkt. Ich strebe es an, weil es mir Erlösung bringt. Ich habe nie von mir gesprochen, wenn ich das Verhalten der Wiener Presse gegen mich angriff. Das hat sie nur nicht verstanden. Jetzt erst spreche ich von mir und für mich, da ich dieses Verhalten lobenswert finde und um geneigte Fortsetzung bitte. Denn was ich so im Laufe eines Monats zu hören bekomme, wenn die, deren Schweigen verdrießlich scheint, zu reden beginnen, gibt mir den Wunsch ein, ihnen das Maul zu halten. Ich kriege das Asthma, wenn sie mich nur zitieren: sie sollten es lieber ohne Angabe der Quelle tun als mit Weglassung des Atems. Keiner hat eine Ahnung, was aus einem Satz von mir werden kann, wenn er ihn in die Hand nimmt. Ich baue die Nacht lang an einem Gedanken und solche Ziegelschupfer der Meinung, der öffentlichen, zeigen dem Passanten, woraus er besteht. Ich habe annähernd ein Gefühl dafür, wie schwer es ist, mich zu zitieren; denn ich erleide siebenfachen Bedacht, ehe ich einen Satz aus dem Klima einer Glosse hole und zwischen Aphorismen leben lasse, und ich erlebe die Ahnungslosigkeit des Lesers, der nur die Gleichheit merken und den Weltenunterschied nicht spüren wird. Wie ist es nur möglich, daß man drei Seiten in einer Stunde schreibt und — wenns fertig ist — zu einer Zeile davon drei Tage braucht? Solange die Intelligenz diese Rechnung unlöslich findet, verzichte ich auf jedes Urteil über das Resultat. Wie es zustandegekommen ist, davon wissen ein paar. Die können mir in Briefen sagen, daß sie es wissen, ich bin ihnen dankbar, und sie brauchen sich nicht für mich in ein Mißverständnis zu wagen, das wie alle besseren Mißverständnisse nicht coram publico, sondern nur post publicum zu beheben ist. Alles Herausstreichen des Verständlichen aber ist wertlos. Der größte Kampf wiegt weniger als das kleinste Wort. Was in dreizehn Jahren getan ist, braucht seinen Lobsprecher nicht zu finden, solange, was in einer Nacht vorgeht, durch stummen Mund auf taube Ohren trifft. Ist wirklich ein Vollsinniger in der Nähe, der glauben könnte, mir wäre es irgendwann und irgendwo um eine Besprechung zu tun gewesen? Und ich hätte je eine gewollt, von einer auch nur vorher gewußt und einem Kritiker je für anderes gedankt als für den Mut oder die manuelle Mühe der Übersendung? Ich erkenne, daß es ein literarischer Skandal ist, wenn eine Besprechung über mich nicht erscheint. Das nehme ich so sachlich, wie ichs gegenüber einem andern Autor von meinem Maß persönlich nehmen würde. Aber ich bringe damit ein Opfer; denn ich muß sagen, daß mir die Besprechung maßlos lästig ist. Vom Enthusiasmus habe ich genug und den Blödsinn möchte ich nur genießen, wenn er einem andern gilt. Mir geht er durch Mark und Bein. Aus allerinnerster, tiefster und auf Wunsch eidlich zu erhärtender Überzeugung erkläre ich, daß mir persönlich, so groß die Infamie auch sein mag, das Verhalten der Wiener Tagespresse, dieses sich mit der Welt Verhalten, dieses Verhalten der Rede über mich eine Wohltat bedeutet. Ein diesem Heft beigelegter Verlagsprospekt behauptet, sie wolle mich in Schweigen ersticken. Das mag sein, aber es kitzelt so angenehm. Die größte Lust, die meine Haut kennt, ist hinterm Ohr rasiert zu werden; ich hatte nie dabei die üble Empfindung, daß es an den Hals geht, auch wenn man mir hundertmal versichert hätte, daß dem Friseur nicht zu trauen sei. Doch wenn er zu reden anfinge, wär’s um mich geschehen; ich würde mich langweilen. Was die Feuilletonisten hinter meinem Rücken mit mir treiben, ist wohl getan. Es gibt Schwarzseher, die mir mit der Vermutung aufwarten, es könne nicht immer so bleiben, eines Tages müßten sie, über kurz oder lang würden sie. Ich wünsche es nicht zu erleben. Die Vorstellung, daß sie eines Tages müßten oder würden, weil sie dürften; daß sie es über sich brächten oder daß es ihnen angeschafft würde; daß die Begeisterung der Wiener Redaktionen über jedes Heft der Fackel sogar in die Wiener Blätter dränge — hat bei Gott wenig Reiz für mich. Es gibt Ironiker (merkwürdiger Weise gibt es Ironiker über mir), die sagen werden: aha, er fürchtet für seine Unabhängigkeit. Aber das ist ja Unsinn. Ich bin meiner so sicher, daß keine Beachtung imstande ist, mir meine Verachtung abzukaufen. Ich wäre dann endlich für sie auf der Welt: aber was nützte es, da sie ja noch immer für mich auf der Welt wären? Sie hätten dann an einem »Fall« ihre Pflicht erfüllt und an der Sache noch immer, noch schlimmer, versäumt. Sie hätten sie aus den schlechtesten Motiven erfüllt. Sie hätten gesagt, ich sei etwas, um mich darüber zu täuschen, daß sie nichts sind. Das würde nicht nur nicht gelingen, sondern der Versuch wäre eine Vermehrung meiner Argumente gegen sie. Noch nie habe ich einen Schuft deshalb für ehrlich gehalten, weil er so unehrlich war, zu sagen, ich sei kein Schuft. Wenn sie mir einen Beweis geben wollen, genügt es nicht, mich leben zu lassen. Aufhören, selbst zu leben: das ist die Friedensbedingung, von der ich auch kein Jota abhandeln lasse. Primum non vivere, deinde wird sich finden. Eines Tages mögen sie — bei mir verändert sich nichts! Sie könnten einen letzten Bestechungsversuch machen, indem sie mir in Aussicht stellen, daß sich auch bei ihnen nichts verändert und daß ich keines Tages anerkannt würde. Aber selbst wenn sie meine Bitte um Totschweigen erfüllten, könnte ich mich ihnen nicht erkenntlich zeigen. Ob sie mich loben oder nicht: da ich meiner privaten Behaglichkeit kein Opfer bringe und die Pflicht mich zwingt, sie für den Auswurf der Menschheit zu halten, so läßt sich leider nichts machen und alles bleibt zwischen uns beim Alten. Der Friseur schweige. Ich spreche weiter.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 345/346, XIII. Jahr
Wien, 31. März 1912.