März 1914
Der Gipfel der Schamlosigkeit
schien immer wieder erklommen, aber es war nur eine Täuschung durch die schöne Aussicht. Jetzt ist er es. Den Leuten, die die Kulturgeschichte dieser Epoche einmal schreiben werden, ist ja so ziemlich durch jede Zeile, die je in der Fackel gestanden hat, die Arbeit erleichtert worden. Aber sie können sich noch das Abschreiben von fünfzehn Jahrgängen ersparen und brauchen nur den Artikel »Die Auskunftspflicht der Sanatorien über ärztliche Honorare« aus der Neuen Freien Presse vom 8. März auszuschneiden. Dies Dokument wird, wenn alle Schurkerei, die fünfzehn Bände spricht, dem Gedächtnis entsinken sollte, der Judasstirn dieser Zeit aufgeklebt bleiben. Es lautet:
Der Verwaltungsgerichtshof hat heute eine Entscheidung gefallt, die nicht verfehlen wird, nicht bloß in den Kreisen der Ärzte, sondern auch in der breiten Öffentlichkeit großes Aufsehen zu erregen. Die Wiener Sanatorien waren von der Steuerbehörde aufgefordert worden, bekanntzugeben, wie viel Operationen im letzten Jahre durchgeführt wurden und welche Honorare die Operateure bezogen. Die Sanatorien verweigerten die Auskunft mit dem Hinweis darauf, daß ihnen aus der Erteilung derselben ein materieller Schade entstehen könne. Die Finanzbehörden beharrten auf ihrem Verlangen, und der Verwaltungsgerichtshof hat nun in ihrem Sinne entschieden. Hiedurch ist jedenfalls ein Eindringen in die Verhältnisse der Sanatorien von seiten der Steuerbehörde möglich geworden, das von verschiedenen Gesichtspunkten aus höchst bedenklich erscheint. Es mag richtig sein, daß diese Entscheidung im Gesetze begründet ist. Darüber soll mit dem Verwaltungsgerichtshofe nicht gerechtet werden, aber es gibt Fälle, in denen andere Rücksichten höher stehen müssen als die der Durchführung des Wortlautes eines Gesetzes. Die Finanzbehörde hat auch bisher nicht den Versuch gemacht, in derartiger Form die Bekenntnisse der Arzte zu kontrollieren, und sie hat hiezu wohl guten Grund gehabt. Diese neue scharfe Praxis bedeutet den Ausfluß eines extremen Fiskalismus. Durch ähnliche Verwaltungsgerichtshofsentscheidungen sind schon Auskunftspflichten statuiert worden, die das Geschäftsleben in bedenklichster Weise gestört haben.
Holen wir Atem; es ist noch nicht der Gipfel. Wir hören, daß wir von Gefahren bedroht sind. Erstens ist ein Eindringen in die Verhältnisse der Sanatorien von seiten der Steuerbehörde möglich geworden. Schon hatten wir gehofft, daß ein Eindringen in die Verhältnisse der Sanatorien von seiten der Staatsanwaltschaft möglich geworden sei. Aber ruhig Blut, da gibts nichts zu hoffen. Es gibt Fälle, in denen andere Rücksichten höher stehen müssen als die der Durchführung des Wortlautes eines Gesetzes. Vorläufig gilt es nicht die Taschen des Publikums zu schützen, sondern nur die Taschen der Sanatoriumsbesitzer. Was die Steuerbehörde unternimmt, mag gesetzlich sein, aber wenn sogar das Strafgesetz vor den Sanatorien halt macht, so ist ein Eindringen in die Verhältnisse der Sanatorien von seiten der Steuerbehörde eine grobe Ungehörigkeit. Oft schon hat diese Behörde das Geschäftsleben gestört, und zwar auf eine Weise, die fast so bedenklich war, wie das Geschäftsleben. Aber jetzt greift sie geradezu an das Menschenleben. Man höre:
Hier liegt noch etwas anderes vor. Das Aufsuchen von Sanatorien seitens der Patienten ist im Interesse der sorgfältigen ärztlichen Behandlung und der Durchführung der antiseptischen Maßnahmen bei Operationen dringend wünschenswert. Es besteht nun die Gefahr, daß die Arzte, um sich dieser lästigen und nicht gerechtfertigten Kontrolle zu entziehen, es vermeiden werden, ihre Patienten in Sanatorien zu schicken, wodurch nicht nur die geschäftlichen Interessen der Sanatorien tangiert werden, sondern auch die Gefahr hervorgerufen wird, daß die ärztliche Behandlung nicht nach den neuesten Prinzipien der Wissenschaft erfolgt ....
Das ist die zweite Gefahr. Wenn es ans Geld geht, soll’s auch an das Leben gehen. Die Ärzte werden es sich künftig überlegen, ihre Patienten sorgfaltig zu behandeln! Dieselben Ärzte, von denen derselbe Liberalismus uns ununterbrochen erzählt, daß sie von 2-4 nichts anderes zu tun haben, als das Rezept Nothnagels vom guten Arzt, der auch ein guter Mensch sein soll, wenn er nicht geradezu ein guter Dichter sein will, zu verschreiben — dieselben Ärzte werden es sich künftig überlegen und ihre Patienten lieber draufgehen lassen, ehe sie eingestehen, wieviel Honorar sie einstecken! Hier zweifelt man, ob Druckerschwärze, die das Blendwerk fördert, nicht selbst nur eine optische Täuschung ist. Aber es steht gedruckt. Die Ambitionen eines Schuhabsatzjuden können noch so gedeutet werden, daß er eigentlich das Geschäftliche nur als Vorwand benütze, um uns zu seinem ethischen Ideal zu bekehren. Die Wissenschaft enthüllt mit herzbrechender Offenheit die Humanität als einen Vorwand für das Geschäft. Die Samariter werden es sich überlegen. Wenn die Steuerbehörde von den Ärzten verlangt, was das Gesetz verlangt, so verzichten sie auf die antiseptischen Maßnahmen. Es freut sie die ganze Wissenschaft nicht mehr. Wenn man auf der Durchführung des Wortlautes des Steuergesetzes besteht, so können sie die Durchführung der neuesten Prinzipien nicht garantieren. Wenn die antiseptischen Maßnahmen bei den Finanzoperationen nicht durchgeführt werden, so sind sie imstand und lassen ein Verbandzeug, das sie zum Glück ohnedies nicht fatieren müssen, im Bauch des Patienten zurück. Je sorgfältiger fatiert, desto schlampiger operiert. Ein Herzensschrei der von der Steuerbehörde verfolgten Humanität. Das Organ für die Interessen des in bedenklichster Weise gestörten Geschäftslebens hat ihn weitergegeben. Die Aufsichtsbehörde der medizinischen Moral hat ihn nicht mit der Erklärung beantwortet: Wir haben mit den verbrecherischen Anschlägen der Horde, die sich auf Bahnhöfen von Hotellohndienern vertreten läßt, um der galizischen Zuckerkundschaft habhaft zu werden, und die ihre Beschwerden dem Ekonomisten anvertraut, nichts zu schaffen! Zeitungsherausgeber mögen vor der Störung ihres Geschäftslebens zittern und fürchten, der Staat werde eines Tages Mut bekommen und sich nicht mit der Bucheinsicht begnügen, sondern außer dem Gewinn aus Abonnement und Annoncen auch die nicht gebuchten Bestechungsgelder berechnen und die hinterzogenen Millionen der Korruption dem schmählichen Ergebnis einer Besteuerung der Prostitution endlich vorziehen. Wir Ärzte haben keinen unsauberen Ertrag zu verheimlichen! — Diese Erklärung hat die Ärztekammer keineswegs abgegeben. Ja, nicht einmal die weiteren Drohungen, mit denen wir auf dem Gipfel der Schamlosigkeit noch verweilen, haben die Standesvertretung zu einem Einschreiten bewegen können. Es wird nämlich dem Publikum mit dem »ärztlichen Geheimnis« die Hölle heiß gemacht. Denn die Steuerbehörde könne auf diesem Wege auch dazu gelangen, »diese gesetzlich statuierte Pflicht zu umgehen«, indem sie sich beim Sanatoriumsbesitzer oder gar beim Patienten selbst darüber informiert, von wem und wieviel gezahlt wurde. Aber da die Ärzte gesetzlich statuierte Pflichten bis zum Eindringen der Steuerbehörde und darüber hinaus sorgsam zu wahren wissen, indem sie erforderlichenfalls zwar das Leben, aber nie den Namen des Patienten, den sie ohne antiseptische Maßnahmen operiert haben, preisgeben würden, so könne das Publikum, soweit es auf die Ärzte ankommt, vollständig beruhigt sein. Dennoch aber lasse sich nicht leugnen, daß die Haltung der Steuerbehörde auch diese Gefahr heraufbeschwört.
Die Ärztekammer hat das Publikum auch über die Beruhigung noch nicht beruhigt und mit keinem Ton verlauten lassen, daß diese Preßstimme nicht von der Meinung der Ärzteschaft, sondern von der Angst der Sanatoriumsseele inspiriert sei und daß hier nur jene Verworfenheit spreche, die die Medizin zu einem Hotelgeschäft macht, und jener Betrug, den ein System, an der Krankheit des Reichtums zu schmarotzen, von jeder Hemmung der Scham befreit hat. Aber die Ärztekammer kann einen Protest nicht wagen, weil sie nicht wissen kann, ob sie durch einen solchen Eingriff nicht edlere Teile verletzt. Und ob nicht wirklich in ihren Kreisen die Ansicht besteht, daß das ärztliche Geheimnis hauptsächlich das Geheimnis des ärztlichen Einkommens bedeute. Sie duldet ja auch, daß ein Entfetter Feuilletons schreibt, um den Konkurrenten auszuhungern. Daß also nicht nur schriftlich ordiniert wird, sondern im Wege der Zeitung auch der benachbarten Ordination die Patienten abgefangen werden. Sie duldet alles Mögliche und es kann wohl sein, daß es ihr gefällt. Vor ihr können es die Kapazitäten verantworten. Wenn aber die heutige Menschheit dereinst vor Gott stehen wird, so wird der Stand, der ihr dazu verholfen hat, einen schweren Stand haben! Ich empfehle alle jene, die Honorare einsacken, aber nicht Steuer zahlen wollten, der Nachsicht einer höheren Kontrolle. Und klage der arme reiche Mann, von dessen »Tuberkulose« hundert europäische Professoren gelebt haben, bis ihm ein japanischer Arzt einen Polypen aus der Nase zog, nicht zu schwer das endlose Gefolge jener an, die ihn marterten, weil sie auch leben wollten. Und Gnade dem Serumsünder, der zu einem kranken Kind geholt ward und da er sah, daß der arme Körper das Zaubermittel nicht behalten wollte und es umsonst war, wenigstens die zehntausend Kronen behielt, die man ihm rechtzeitig eingegeben hatte — dem Arzt! Wie? Sie wollen nicht, daß der Staat sich etwas davon nehme? Sie wollen lieber, daß einer am Blinddarm, der längst nicht dem Menschen gehört, sondern dem Arzt, sterbe, als daß sie am Ausfluß eines extremen Fiskalismus zu leiden haben? Sie wollen den Patienten lieber dort morden, wo der Staat nicht hinsehen kann, als ihn unter Finanzkontrolle zu heilen? Ärger als Raubmörder, die erst morden, ehe sie rauben, wollen sie den Beraubten ermorden, um auch den Staat zu berauben? Sie wollen, daß ein guter Arzt lieber ein schlechter Mensch sei als ein guter Steuerzahler? Ich glaube, daß sie dereinst viel zu fatieren haben werden!
Vgl.: Die Fackel, Nr. 395/396/397, XV. Jahr
Wien, 28. März 1914.