März 1914
Arzt und Künstler
Jener liberale Typus, dem mit dem Schuhabsatz auf die Plattform zu treten — ob mit Berson oder Palma ist gehupft wie gesprungen — die primitivste geistige Anstandspflicht bedeutet, der schöngeistige Mann der Wissenschaft, er hat mir kürzlich einen Tag lang die Aussicht verstellt. Unter diesem stützigsten aller Begriffe fasse ich jene Erscheinungen zusammen, denen der sogenannte Ernst des Lebens noch Muße zu einer Beschäftigung mit der sogenannten Kunst läßt, was sie dann zu einer scherzhaften Verwechslung von Muße- und Musestunden und sonstigen Allotria benutzen. Es sind Leute, die sich noch irgend etwas bewahrt haben, und bei der mir innewohnenden Schamlosigkeit, dem keuschesten Besitz, den ich mir bewahrt habe, bestehe ich darauf, daß sie es sehen lassen. Herzeigen oder ich bin grob! Da stellt sich denn heraus, daß siebzigjährige Strafrechtsprofessoren noch hin und wieder einen lyrischen Seitensprung machen und gleichalterige Chirurgen Herz auf Schmerz reimen oder sonst irgendwie den Musen auf den Busen greifen, pfui kaka schickt sich denn das? Auch kommt es vor, daß sie sich den Humor bewahrt haben, der dann irgend einmal plötzlich, man hat sich kaum umgedreht, in seine Rechte tritt, anstatt im Klosett zu verschwinden. Anerkannter Lebenszähigkeit aber, die in vollster geistiger und körperlicher Frische Jubiläen feiert, erfreut sich der warmfühlende Arzt, der zwischen Rezepten immer auch noch goldene Worte zu verschreiben fähig ist und wenn wir schon ganz matt sind, uns noch eine attische Salzinjektion verabreicht oder statt Pillen uns Perlen der Altersweisheit eingibt oder jene glitzernden Dinger, die er »Aphorismen« nennt, nicht geschenkt nehm ich sie. Nun mag ja, im Ernst gesprochen, der Professor Gersuny einer der besten Chirurgen sein, die es derzeit gibt; aber was gegen ihn einnimmt, ist das Gefühl, daß er seine Feder für schärfer hält als sein Messer und einen schlechten Lyriker für wertvoller als einen guten Chirurgen, wiewohl es doch vollkommen ausgeschlossen ist, daß man sich vertrauensvoll von einem das Bein wegnehmen lassen wird, der dem warmblütigen Hugo Salus in Prag enthusiastische Briefe schreibt. Salus selbst hat solches zum 70. Geburtstag Gersunys enthüllt und zu den ärgsten Greueln, deren das Geistesleben einer von Freundschaft, Gänseschmalz und Poesie triefenden Logenbrüderlichkeit fähig ist, gehört der Glückwunsch, den jener, anstatt ihn im Postkasten zu hinterlegen, dort veröffentlicht hat, wo solcher Herzenston zur Ablenkung von Börsenmanövern immer seinen Dienst tut. Peinlich ist es schon, wenn den Männern der Wissenschaft — Insassen eines verkehrten Harems, wo auf ein Frauenzimmer so viel Eunuchen kommen — »das Wort Nothnagels« (nur ein guter Mensch kann ein guter Arzt sein) als Marke angeheftet wird. Nun kann man sich aber gar nicht vorstellen, wie warmblütig es zwischen den Herren Gersuny und Salus, die noch dazu auch gute Dichter sind, zugehen muß. Zunächst neckt sich Salus mit der Neuen Freien Presse, die von seiner heimlichen Freundschaft mit Gersuny erfahren habe — du du du! — was »zu den Allwissenheiten des Märchens gehört«. Hierauf spricht er Gersuny »Sie Aphorismenpräger« an, vermutlich zur Unterscheidung von Salus selbst, der ein Präger schlechtweg ist, und meint, wie beseligend der Besitz von Briefen, zwanzig Seiten langen Briefen Gersunys wirke, wenn schon jeder einzelne Satz, den Gersuny geprägt habe, glitzernd sei. Gersuny hat ihm nämlich, ohne ihn noch persönlich zu kennen, einen begeisterten Brief über seine Gedichte geschrieben. Diesen Brief zeigte Salus damals allen möglichen Berufsgenossen und »fragte immer wieder ungläubig, ob dieser Briefschreiber denn wirklich der große Chirurg Robert Gersuny sein könne, der solche Worte für einen jungen Dichter gefunden hatte«. Man sollte es in der Tat nicht glauben. Dem klinischen Jünger hätte der große Chirurg vielleicht: Sie Patzer! zugerufen; dem Arzt, der Versfüße einrenken kann und ein paar o-beinige Gefühle notdürftig zum Hatschen bringt, schreibt er einen bewundernden Brief. So sind sie, diese Männer der Wissenschaft. »Denn es schien mir unglaublich, daß ein Chirurg überhaupt Gedichte lesen, daß er sich Muße (aha) und Stimmung absparen könne, um die skandierten Gefühle eines andern nach- und mitzufühlen, daß er dann, warmblütig wie ein Jüngling, seiner Freude an dem Gleichklang der eigenen Empfindungen mit den Stimmungen des jungen Dichters Ausdruck verleihen, daß er ihm einen Bewunderungsbrief schreiben mußte!« Salus hat so sehr recht, daß man ihm die Feder halten möchte, mit der er sich in ahnungsloser Banalität in den eigenen Leib schneidet. Ja, so fühlt Salus nach, so klingt Gersuny mit. Dieser konnte nicht anders, er mußte ihm schreiben. »Wieviel eigenes Künstlertum steckt in solch einem ganz uneigennützigen, freudigen Beifallszuruf! Sie sind selbst ein Künstler, schrieb ich Ihnen wohl damals ...« Und Gersuny habe geantwortet: »Ich bin ein latenter, ein passiver Künstler, der Kunstwerke genießen kann, sie befruchten meine Phantasie«. Salus kann sich nicht fassen: »Man denke: ein Chirurg mit Phantasie, den Gedichte befruchten können! O, es liegt in Ihren vielen genialen Operationsvorschlägen viel, viel Phantasie, ich bin ja selbst Arzt und kann das bewundernd würdigen. Und diese künstlerische Phantasie zeichnet Ihre Chirurgie vor vielen anderen aus.« Nun beachte man also, wie gut die Rollen verteilt sind. Gersuny ist selbst Künstler und würdigt deshalb die Gedichte des Salus, während Salus selbst Arzt ist und deshalb wieder die Operationen Gersunys würdigen kann, dessen künstlerische Phantasie allerdings von Salus selbst befruchtet ist. Ich bin nicht selbst Patient, muß aber sagen, daß ich mich trotzdem noch immer lieber von Gersuny operieren lassen wollte, als mit Narkose Gedichte von Salus zu lesen. In Salus hat sich selbstredend der reifende Mensch zu dem ernsten, reifen Manne hingezogen gefühlt, dessen eigene Jugend ernstere Wege gegangen war, der eigener Phantasie Zügel angelegt und aus dem glühenden Träumer Gersuny durch Selbstzucht den großen Chirurgen gemacht (ohne hat). Ich zitiere ohne Anführungszeichen, weil sich das besser macht und weil man sowieso glaubt, daß ich es erfunden habe. Wiederholt haben natürlich Salus und dessen Frau mit Gersuny größere Reisen unternommen, wobei sie sowohl im Bewundern der großen Natur wie der erhabenen Kunst geschwelgt (ohne haben). Daß Salus, nebenbei bemerkt, auch persönlich Gelegenheit hatte, in Gersuny den großen Chirurgen kennen und bewundern zu lernen, indem er nämlich von Gersuny selbst operiert wurde, scheint jetzt nach so vielen Jahren wie ein gütiges Regiekunststückchen des, wie sagt man nur, Puppenlenkers da droben. Gersunys Phantasie war von Salus’ Gedichten offenbar schon dermaßen zu den kühnsten Operationen angeregt, daß er sich am Dichter selbst vergriff und ihm den Blinddarm wegnahm, wobei sich aber herausstellte, daß der Blinddarm nicht jenes überflüssige Organ ist, von dem der lyrische Dreck kommt. Natürlich muß Salus jetzt wahrhaftig lachen, wenn er hört, daß Gersuny schon ein Greis sei, ha ha, er ist natürlich ein Jüngling, es müsse ein Wunder sein, es gebe so viele Wunder im Dasein, und wir Dichter haben das Glück, für diese Wunder offene Augen und ein offenes Herz zu besitzen. »Diesem Siebzigjahrewunder gegenüber wird auch der Lyriker in mir sprachlos« — verspricht Salus. Sonst muß man ihm schon eine Scholetkugel in den Mund geben. Die Sprache aber, die er als Gratulant findet, wird uns in Tagen, in denen angeblich ein Setzerstreik herrscht, mit einer Seelenruhe vorgesetzt, als ob wir wirklich bereits fühllos geworden wären gegen die Tortur der Phrase. Es muß faktisch so weit gekommen sein, daß diese Benediktion eines Onkels, der so gut bei einer Beschneidung wie zum Geburtstag eines alten Chirurgen seinen Mann stellt, als die Sprache der Kultur hingenommen wird. Ohne Krämpfe. Doch wem es just passieret, daß ihm von den Speiseresten des Heineschen Lyrismus übel wird, der muß sich unter den Zumutungen dieser warmblütigen Mischpoche förmlich winden und so wenigstens durch Gesten zu verstehen geben, daß er es satt habe. Ich würde ja noch weiter gehen. Gersuny operierte Salus; er tat es unter dem Eindrucke von Salus’ Gedichten. Ich wäre neugierig, ob Salus, der doch ein guter Mensch ist, es verweigern würde, mich zu behandeln, wenn ich ihn nachts rufen ließe und ihm sagte, daß mir von seinen Gedichten unwohl geworden (ohne sei). Das wäre aber ein Ausnahmsfall. Sonst bin ich dafür, daß man schöngeistige Männer der Wissenschaft, die für ihre Mußestunden sich noch etwas bewahrt haben, in den Ordinationsstunden aushungert. Von Chirurgen, die Aphorismen prägen, sich auch keine Hühneraugen schneiden läßt. Jedenfalls keinem einen Blinddarm zu verdienen gibt. Und so diese Leute zwingt, ganz der Schönheit zu leben!
Vgl.: Die Fackel, Nr. 393/394, XV. Jahr
Wien, 7. März 1914.