III. [Die Änderungen der Distanz zwischen dem Ich und den Dingen als Ausdruck für die Stilverschiedenheiten des Lebens]
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Eines der häufigsten Bilder, unter denen man sich die Organisation der Lebensinhalte deutlich zu machen pflegt, ist ihre Anordnung zu einem Kreise, in dessen Zentrum das eigentliche Ich steht. Es gibt einen Modus des Verhältnisses zwischen diesem Ich und den Dingen, Menschen, Ideen, Interessen, den wir nur als Distanz zwischen beiden bezeichnen können. Was uns zum Objekt wird, das kann, inhaltlich ungeändert bleibend, nahe an das Zentrum heran- oder bis zur Peripherie unseres Blick- und Interessenkreises abrücken; aber dies bewirkt nicht etwa, daß unser inneres Verhältnis zu diesem Objekt sich ändere, sondern umgekehrt, wir können gewisse Verhältnisse des Ich zu seinen Inhalten nur durch das anschauliche Symbol einer bestimmten oder sich ändernden Distanz zwischen beiden bezeichnen. Es ist von vornherein schon ein symbolischer Ausdruck für einen an sich unsagbaren Sachverhalt, wenn wir unser inneres Dasein in ein zentrales Ich und darumgelagerte Inhalte scheiden; und angesichts der ungeheueren Unterschiede der sinnlich-äußerlichen Eindrücke von den Dingen je nach ihrem Abstand von unseren Organen - Unterschiede, nicht nur der Deutlichkeit, sondern der Qualität und des ganzen Charakters der emfangenen Bilder - liegt es nahe, jene Symbolisierung dahin auszudehnen, daß die Verschiedenheit auch der innerlichsten Verhältnisse zu den Dingen als Verschiedenheit der Distanz zu ihnen gedeutet werde.
Von den Erscheinungen, die von hier aus gesehen eine einheitliche Reihe bilden, hebe ich zunächst die künstlerischen hervor. Die innere Bedeutsamkeit der Kunststile läßt sich als eine Folge der verschiedenen Distanz auslegen, die sie zwischen uns und den Dingen herstellen. Alle Kunst verändert die Blickweite, in die wir uns ursprünglich und natürlich zu der Wirklichkeit stellen. Sie bringt sie uns einerseits näher, zu ihrem eigentlichen und innersten Sinn setzt sie uns in ein unmittelbareres Verhältnis, hinter der kühlen Fremdheit der Außenwelt verrät sie uns die Beseeltheit des Seins, durch die es uns verwandt und verständlich ist. Daneben aber stiftet jede Kunst eine Entfernung von der Unmittelbarkeit der Dinge, sie läßt die Konkretheit der Reize zurücktreten und spannt einen Schleier zwischen uns und sie, gleich dem feinen bläulichen Duft, der sich um ferne Berge legt. An beide Seiten dieses Gegensatzes knüpfen sich gleich starke Reize; die Spannung zwischen ihnen, ihre Verteilung auf die Mannigfaltigkeit der Ansprüche an das Kunstwerk, gibt jedem Kunststil sein eigenes Gepräge. Ja, die bloße Tatsache des Stiles ist an sich schon einer der bedeutsamsten Fälle von Distanzierung. Der Stil in der Äußerung unserer inneren Vorgänge besagt, daß diese nicht mehr unmittelbar hervorsprudeln, sondern in dem Augenblick ihres Offenbarwerdens ein Gewand umtun. Der Stil, als generelle Formung des Individuellen, ist für dieses eine Hülle, die eine Schranke und Distanzierung gegen den anderen, der die Äußerung aufnimmt, errichtet. Diesem Lebensprinzip aller Kunst: uns den Dingen dadurch näher zu bringen, daß sie uns in eine Distanz von ihnen stellt - entzieht sich auch die naturalistische Kunst nicht, deren Sinn doch ausschließlich auf Überwindung der Distanz zwischen uns und der Wirklichkeit gerichtet scheint. Denn nur eine Selbsttäuschung kann den Naturalismus verkennen lassen, daß auch er ein Stil ist, d.h. daß auch er die Unmittelbarkeit des Eindrucks von ganz bestimmten Voraussetzungen und Forderungen her gliedert, und umbildet - unwiderleglich durch die kunstgeschichtliche Entwicklung bewiesen, in der alles das, was eine Epoche für das wörtlich treue und genau realistische Bild der Wirklichkeit hielt, durch eine spätere als vorurteilsvoll und verfälscht erkannt worden ist, während sie nun erst die Dinge, wie sie wirklich sind, darstelle. Der künstlerische Realismus verfällt demselben Fehler wie der wissenschaftliche, wenn er meint, ohne ein Apriori auszukommen, ohne eine Form, die, aus den Anlagen und Bedürfnissen unserer Natur quellend, der sinnlichen Wirklichkeit Gewandung oder Umgestaltung zuwachsen läßt. Diese Umformung, die sie auf dem Wege in unser Bewußtsein erleidet, ist zwar eine Schranke zwischen uns und ihrem unmittelbaren Sein, aber zugleich die Bedingung, sie vorzustellen und darzustellen. Ja, in gewissem Sinn mag der Naturalismus eine ganz besondere Distanzierung den Dingen gegenüber bewirken. Wenn wir nämlich auf die Vorliebe achten, mit der er seine Gegenstände im allertäglichsten Leben, im Niedrigen und Banalen sucht. Denn da er eben zweifellos auch eine Stilisierung ist, so wird diese für ein feineres Empfinden - das im Kunstwerk die Kunst und nicht seinen, auch auf beliebig andere Weise darstellbaren Gegenstand sieht - um so fühlbarer, an je näherem, roherem, irdischerem Materiale sie sich vollzieht.
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