[Über die Homosexualität]
Gutachten:
E. F., 41 Jahre alt, verheiratet, Vater von zwei Kindern, teilt mit, daß er vor kurzer Zeit irrtümlich wegen mutueller Masturbation in einem öffentlichen Pissoir verhaftet worden sei. Sein Vergehen habe in Wirklichkeit darin bestanden, daß er einem masturbierenden Manne dort zugeschaut habe.
Der objektive Befund des kleingewachsenen Mannes, der deutliche Spuren einer überstandenen Rachitis aufweist, ergibt unter anderem Strabismus divergens.
Aus der Vorgeschichte des Patienten geht hervor, daß er das Kind blutsverwandter Eltern war, die eine schlechte Ehe geführt hatten. Der Vater litt an Diabetes mellitus, starb auch an dieser Krankheit, die Mutter starb nach mehrfachen Schlaganfällen unbekannter Ätiologie, nachdem sie ein verschwenderisches Leben geführt hatte.
Seine beiden Großmütter waren Schwestern, die Großväter Brüder, so daß Patient als das Kind einer potenzierten Inzucht anzusehen ist.
Seit sieben Jahren leidet Patient, wie sein Vater, an Diabetes.
Seit Kindheit ist sich Patient einer unerklärlichen Neigung bewußt, insbesondere normale, unbeschnittene, männliche Geschlechtsteile anzusehen. Über irgendeinen Sinn oder Zweck dieser unwiderstehlichen Zwangshandlung ist sich Patient keineswegs bewußt. Vielmehr scheint ihm ein solches Interesse natürlich und ohne alle Untersuchung gemeinverständlich. Patient führt dieses sein Interesse auf seine früheste Kindheit zurück, bringt es in irgendeinen losen Zusammenhang mit seiner jüdischen Abstammung und der an ihm vorgenommenen Beschneidung und erinnert sich, daß erste Mal als sechsjähriger Knabe diese anfangs mit Wollust, später auch mit Ejakulation verknüpfte Anwandlung verspürt zu haben, als er den Penis eines vierjährigen Bauernknaben erblickte. Später hinzugekommene Neigungen dieses Patienten zur Berührung und zur gegenseitigen Masturbation erscheinen in diesem Zusammenhang als Ausgestaltungen des ursprünglich zwanghaften »Voyeurtriebes« (Augenminderwertigkeit) .
Eine genauere psychologische Untersuchung des Patienten ergibt allerdings Zusammenhänge seelischer Art, die dem Patienten unbekannt geblieben sind, die uns die homosexuelle Haltung des Patienten als krankhaften Irrtum verstehen lassen, so daß er nicht imstande ist, seinen zwanghaften Impulsen zu entfliehen. Insbesondere lastet auf dem Patienten seit frühester Kindheit ein krankhaftes Minderwertigkeitsgefühl, das ihm die sichere Einordnung in die Gesellschaft im allgemeinen, zum weiblichen Geschlecht aber insbesondere unmöglich gemacht hat. Auch in seiner Ehe, zu der ihn die Mutter gedrängt hat, fand er niemals die unbefangene Haltung, sondern nur Unruhe, Zank und Mißvergnügen und glaubte sich stets in seiner Wahl getäuscht und in seinem Glück verkürzt.
Die gleiche Beobachtung, ein baldiges Fallenlassen jeder Bemühung um normale Ziele, können wir in seinen geschäftlichen Unternehmungen beobachten, die regelmäßig durch den Eintritt »fataler Hindernisse« mißglücken; dabei läßt sich aber jedesmal erkennen, wie er den normalen Weg verfehlt, weil er den Glauben an seine Kraft nicht mitgebracht hat.
Das gleiche Verhängnis zeigt sich schließlich in seinem Verhalten zu den Menschen überhaupt. Den Vater hat er gehaßt, mit der einzigen Schwester ist er verfeindet, mit seiner Frau lebt er in ewigem Streit. Er hat nie einen Freund gefunden, weil er, voll Mißtrauen gegen alle andern, von jedem Menschen annimmt, daß er ihnen zuwider und verhaßt sei.
Aus dieser krankhaften seelischen Bedrückung, die rein äußerlich zur Vereinsamung, zu ehelichem Zwist und zu materiellen Schwierigkeiten führen mußten, entspringt bei ihm, insbesondere bei akuten Verschärfungen seiner schlechten äußeren Situation, wie wir das ähnlich in vielen Fällen gesehen haben, der Zwangsimpuls zu einer befreienden, befriedigenden, sexuellen Handlung, die in unserem Falle entsprechend festwurzelnder Erlebnisse und subjektiv gewerteter Empfindungen an einen »Vorhautfetischismus« geknüpft ist.
Mit diesen Schlußfolgerungen stehen die oben erwähnten objektiven und subjektiven Erscheinungen des Patienten im Einklang. Und indem wir in unserem Falle eine psychopathische Minderwertigkeit mit Zwangsimpulsen homosexueller Art und Fetischismus konstatieren, sind wir uns gleichzeitig bewußt, daß auf dem Patienten der Eindruck seiner körperlichen und seelischen Minderwertigkeit seit der frühesten Kindheit lastet, so sehr lastet, daß er ihm die normalen Entwicklungsmöglichkeiten abgeschnitten hat.
Eine Beseitigung dieser krankhaften Haltung dem Leben gegenüber können wir uns nur durch eine solche Umerziehung und Veränderung der Persönlichkeit versprechen, die den Lebensmut des Patienten zu heben imstande ist. Dagegen wäre von einer gerichtlichen Bestrafung, die der Unverantwortlichkeit des vorliegenden Vergehens nicht Rechnung trüge, eine weitere Verschärfung des Minderwertigkeitsgefühls vorauszusehen. Der Patient würde die Strafe tragen im Bewußtsein, das Opfer einer unverschuldeten unabänderlichen Veranlagung geworden zu sein, wodurch einer zukünftigen Heilung große Schwierigkeiten erwachsen würden.
Seine homosexuellen Neigungen sind der letzte Rest, der ihm geblieben ist, da er sich von der normalen Betätigung abgedrängt fühlt. Der Zwang zur Homosexualität stammt — wie bei jeder Zwangsneurose — nicht aus der Homosexualität, sondern aus der zwangsmäßigen Abdrängung von normalen Beziehungen, in denen er eine sichere Niederlage voraussieht, vor denen er wie vor einem Abgrund steht.