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Fortschritt

Fortschritt. „Die Bestimmung des menschlichen Geschlechts im ganzen ist unaufhörliches Fortschreiten, und die Vollendung derselben ist eine bloße, aber in aller Absicht sehr nützliche Idee von dem Ziele, worauf wir der Absicht der Vorsehung gemäß unsere Bestrebungen zu richten haben“, Rezension von Herders „Ideen“ 2. T. (VI 4b). „Daß die Welt im ganzen immer zum Besseren fortschreite, dies anzunehmen berechtig keine Theorie, aber wohl die reine praktische Vernunft, welche nach einer solchen Hypothese zu handeln dogmatisch gebietet“, Fortschr. d. Metaph. Auflösung der Aufgabe. II. Fortschr. d. Theologie (V 3, 139 f.). „Ich werde also annehmen dürfen: daß, da das menschliche Geschlecht im Fortrücken in Ansehung der Kultur, als dem Naturzwecke desselben, ist, es auch im Fortschreiten zum Besseren in Ansehung des moralischen Zwecks seines Daseins begriffen sei, und daß dieses zwar bisweilen unterbrochen, aber nie abgebrochen sein werde.“ „Denn daß dasjenige, was bisher noch nicht gelungen ist, darum auch nie gelingen werde, berechtigt nicht einmal, eine pragmatische oder technische Absicht (wie z. B. die der Luftfahrten mit aerostatischen Bällen) aufzugeben; noch weniger aber eine moralische, welche, wenn ihre Bewirkung nur nicht demonstrativ-unmöglich ist Pflicht wird. Überdem lassen sich manche Beweise geben, daß das menschliche Geschlecht im ganzen wirklich in unserem Zeitalter in Vergleichung mit allen vorigen ansehnlich selbst zum moralisch Besseren fortgerückt sei (kurzdauernde Hemmungen können nichts dagegen beweisen); und daß das Geschrei von der unaufhaltsam zunehmenden Verunartung desselben gerade daher kommt, daß, wenn es auf einer höheren Stufe der Moralität steht, es noch weiter vor sich sieht, und sein Urteil über das, was man ist, in Vergleichung mit dem, was man sein sollte, mithin unser Selbsttadel immer desto strenger wird, je mehr Stufen der Sittlichkeit wir im ganzen des uns bekannt gewordenen Weltlaufs schon erstiegen haben.“ „Fragen wir nun: durch welche Mittel dieser immerwährende Fortschritt zum Besseren dürfte erhalten und auch wohl beschleunigt werden, so sieht man bald, daß dieser ins unermeßlich Weite gehende Erfolg nicht sowohl davon ahhängen werde, was wir tun (z. B. von der Erziehung, die wir der jüngeren Welt geben) und nach welcher Methode wir verfahren sollen, um es zu bewirken; sondern von dem, was die menschliche Natur in und mit uns tun wird, um uns in ein Gleis zu nötigen, in welches wir uns selbst nicht leicht fügen würden.“ Denn von ihr, oder vielmehr (weil höchste Weisheit zu Vollendung dieses Zwecks erfordert wird) von der Vorsehung allein können wir einen Erfolg erwarten, der aufs Ganze und von da auf die Teile geht, da im Gegenteil die Menschen mit ihren Entwürfen nur von den Teilen ausgehen, wohl gar nur bei ihnen stehenbleiben, und aufs Ganze als ein solches, welches für sie zu groß ist, zwar ihre Ideen, aber nicht ihren Einfluß erstrecken können: vornehmlich da sie, in ihren Entwürfen einander widerwärtig, sich aus eigenem freien Vorsatz schwerlich dazu vereinigen würden", Theor. Prax. III (VI 108 ff.).

„Der Fälle, die eine Vorhersagung enthalten können, sind drei. Das menschliche Geschlecht ist entweder im kontinuierlichen Rückgange zum Ärgeren, oder im beständigen Fortgange zum Besseren in seiner moralischen Bestimmung, oder im ewigen Stillstande auf der jetzigen Stufe seines sittlichen Wertes unter den Gliedern der Schöpfung ...“ „Die erste Behauptung kann man den moralischen Terrorismus, die zweite den Eudämonismus (der, das Ziel des Fortschreitens im weiten Prospekt gesehen, auch Chiliasmus genannt werden würde), die dritte aber den Abderitismus nennen...“ a) „Der Verfall ins Ärgere kann im menschlichen Geschlechte nicht beständig fortwährend sein; denn bei einem gewissen Grade desselben würde es sich selbst aufreiben.“ b) „Daß die Masse des unserer Natur angearteten Guten und Bösen in der Anlage immer dieselbe bleibe und in demselben Individuum weder vermehrt noch vermindert werden könne, mag immer eingeräumt werden — und wie sollte sich auch dieses Quantum des Guten in der Anlage vermehren lassen, da es durch die Freiheit des Subjekts geschehen müßte, wozu dieses aber wiederum eines größeren Fonds des Guten bedürfen würde, als es einmal hat? — Die Wirkungen können das Vermögen der wirkenden Ursache nicht übersteigen; und so kann das Quantum des mit dem Bösen im Menschen vermischten Guten ein gewisses Maß des letzteren nicht überschreiten, über welches er sich emporarbeiten und so auch immer zum noch Besseren fortschreiten könnte. Der Eudämonismus mit seinen sanguinischen Hoffnungen scheint also unhaltbar zu sein und zugunsten einer weissagenden Menschengeschichte, in Ansehung des immerwährenden weiteren Fortschreitens auf der Bahn des Guten, wenig zu versprechen.“ Der Abderitismus der Geschichte „möchte wohl die Mehrheit der Stimmen auf ihrer Seite haben“. „Geschäftige Torheit ist der Charakter unserer Gattung. In die Bahn des Guten schnell einzutreten, aber darauf nicht zu beharren, sondern, um ja nicnt an einen einzigen Zweck gebunden zu sein, wenn es auch nur der Abwechslung wegen geschähe, den Plan des Fortschritts umzukehren, zu bauen, um niederreißen zu können und sich selbst die hoffnungslose Bemühung aufzulegen, den Stein des Sisyphus bergan zu wälzen, um ihn wieder zurückrollen zu lassen.“ Das Gute und Böse würde hiernach durch Vorwärts- und Rückwärtsgehen so abwechseln, „daß das ganze Spiel des Verkehrs unserer Gattung mit sich selbst auf diesem Glob als ein bloßes Possenspiel angesehen werden müßte, was ihr keinen größeren Wert in den Augen der Vernunft verschaffen kann, als den die anderen TiergeschlechteT haben, die dieses Spiel mit weniger Kosten und ohne Verstandesaufwand treiben“. Durch Erfahrung ist die Aufgabe des Fortschreitens nicht aufzulösen, denn aus der Vergangenheit läßt sich nicht ohne weiteres auf die Zukunft schließen. „Denn wir haben es mit freihandelnden Wesen zu tun, denen sich zwar vorher diktieren läßt, was sie tun sollen, aber nicht vorhersagen läßt, was sie tun werden, und die aus dem Gefühl der Übel, die sie sich selbst zufügten, wenn es recht böse wird, eine verstärkte Triebfeder zu nehmen wissen, es nun doch besser zu machen, als es vor jenem Zustande war.“ Um direkt und gewiß hier vorherzusagen, müßten wir den „Standpunkt der Vorsehung“ einnehmen können, was unmöglich ist. Die menschliche Weisheit bedarf zur Erkenntnis den „Zusammenhang nach Naturgesetzen“, muß aber betreffs der künftigen freien Handlungen dieser Leitung oder Hinweisung entbehren. Es muß irgendeine „Erfahrung“ im Menschengeschlechte geben, „die als Begebenheit auf eine Beschaffenheit und ein Vermögen desselben hinweist, Ursache von dem Fortrücken desselben zum Besseren und (da dieses die Tat eines mit Freiheit begabten Wesens sein soll) Urheber desselben zu sein; aus einer gegebenen Ursache aber läßt sich eine Begebenheit als Wirkung vorhersagen, wenn sich die Umstände ereignen, welche dazu mitwirkend sind. Daß diese letzteren sich aber irgendeinmal ereignen müssen, kann, wie beim Kalkül der Wahrscheinlichkeit im Spiel, wohl im allgemeinen vorhergesagt, aber nicht bestimmt werden, ob es sich in meinem Leben zutragen und ich die Erfahrung davon haben werde, die jene Vorhersagung bestätigte. — Also muß eine Begebenheit nachgesucht werden, welche auf das Dasein einer solchen Ursache und auch auf den Akt ihrer Kausalität im Menschengeschlechte unbestimmt in Ansehung der Zeit hinweise, und die auf das Fortscbreiten zum Besseren, als unausbleibliche Folge, schließen ließe, welcher Schluß dann auch auf die Geschichte der vergangenen Zeit (daß es immer im Fortschritt gewesen sei) ausgedehnt werden könnte, doch so, daß jene Begebenheit nicht selbst als Ursache des letzteren, sondern nur als hindeutend, als Geschichtszeichen (signum rememorativum, demonstrativum, prognosticum) angesehen werden müsse und so die Tendenz des menschlichen Geschlechts im ganzen, d. i. nicht nach den Individuen betrachtet (denn das würde eine nicht zu beendigende Aufzählung und Berechnung abgeben), sondern wie es in Völkerschaften und Staaten geteilt auf Erden angetroffen wird, beweisen könnte“, Str. d. Fak. 2. Abs. 3—5 (V 4, 126—130). — Es gibt nun tatsächlich eine Begebenheit, „welche die moralische Tendenz des Menschengeschlechts beweiset“, nämlich die „Denkungsart“ der Zuschauer der französischen Revolution. Diese Denkungsart beweist eine allgemeine und doch uneigennützige Teilnahme, einen moralischen Charakter wenigstens in der Anlage, „der das Fortschreiten zum Besseren nicht allein hoffen läßt, sondern selbst schon ein solches ist, soweit das Vermögen desselben für jetzt zureicht“. Der Enthusiasmus für diese Revolution (s. d.) kann nur eine „moralische Anlage im Menschengeschlecht“ zur Ursache haben. „Diese moralische einfließende Ursache ist zwiefach: erstens die des Rechts, daß ein Volk von anderen Mächten nicht gehindert werden müsse, sich eine bürgerliche Verfassung zu geben, wie sie ihm selbst gut zu sein dünkt; zweitens die des Zwecks (der zugleich Pflicht ist), daß diejenige Verfassung eines Volkes allein an sich rechtlich und moralisch gut sei, welche ihrer Natur nach so beschaffen ist, den Angriffskrieg nach Grundsätzen zu meiden, welche keine andere als die republikanische Verfassung, wenigstens der Idee nach, sein kann, mithin in die Bedingung einzutreten, wodurch der Krieg (der Quell aller Übel und Verderbnis der Sitten) abgehalten und so dem Menschengeschlechte bei aller seiner Gebrechlichkeit der Fortschritt zum Besseren negativ gesichert wird, im Fortschreiten wenigstens nicht gestört zu werden“, ibid. 6. (V 4, 131 ff.); vgl. Staatsverfassung, Krieg. „Nun behaupte ich, dem Menschengeschlechte nach den Aspekten und Vorzeichen unserer Tage die Erreichung dieses Zweckes und hiermit zugleich das von da an nicht mehr gänzlich rückgängig werdende Fortschreiten desselben zum Besseren auch ohne Sehergeist vorhersagen zu können. Denn ein solches Phänomen in der Menschengeschichte vergißt sich nicht mehr ...“ Diese Begebenheit ist auch zu groß, „zu sehr mit dem Interesse der Menschheit verwebt und ihrem Einflüsse nach auf die Welt in allen ihren Teilen zu ausgebreitet, als daß sie nicht den Völkern bei irgendeiner Veranlassung günstiger Umstände in Erinnerung gebracht und zu Wiederholung neuer Versuche dieser Art erweckt werden sollte...“ Es ist also anzunehmen, „daß das menschliche Geschlecht im Fortschreiten zum Besseren immer gewesen sei und so fernerhin fortgehen werde“, ibid. 7. (V 4, 134 f.). Der Ertrag des Fortschritts wird sein „nicht ein immer wachsendes Quantum der Moralität in der Gesinnung, sondern Vermehrung der Produkte ihrer Legalität in pflichtmäßigen Handlungen, durch welche Triebfeder sie auch veranlaßt sein mögen“. Dieser Fortschritt wird nicht nur die Mitglieder eines Staates betreffen, sondern auch die Völker im äußeren Verhältnis zueinander. Erfolgen wird der Fortschritt nicht durch die Erziehung der Jugend („von unten hinauf“), sondern „von oben herab“, von der Staatsmacht aus, wozu gehöre, „daß der Staat sich von Zeit zu Zeit auch selbst reformiere und, statt Revolution Evolution versuchend, zum Besseren beständig fortschreite“, ibid. 9—10 (V 4, 139 ff.); vgl. Böse, Unsterblichkeit, Geschichte, Kultur.