Form, formal
Form, formal. Erkenntniskritisch ist Form, die Art und Weise der Verarbeitung eines Gegebenen durch das erkennende Bewußtsein, die Art und Weise des Anschauens und Denkens im Unterschiede von dem, was zur Anschauung und zum Gedachtsein gebracht werden kann. Die Formen der Erfahrung sind nicht, wie die Empfindungen — die „Materie“ derselben — gegeben, sondern sind auf Rechnung des Subjekts zu setzen. Sie sind nicht Fachwerke, nicht angeborene Ideen, sondern Verknüpfungsweisen von Erfahrungsdaten, die nur und erst an der Hand dieser sich verwirklichen. Die Formen sind Arten, Weisen und Prinzipien der Ordnung des Erfahrungsmaterials und damit auch Ordnungsweisen der Gegenstände der Erfahrung, der Erscheinungen (s. d.). Die Formen der Sinnlichkeit, der Anschauung sind Raum und Zeit (s. Anschauungsformen), die des Verstandes die Kategorien (s. d.), die der Vernunft die Ideen (s. d.). Die beiden ersten Formen sind Bedingungen der Erfahrung, die apriorischen Faktoren derselben; sie selbst wurzeln in der Einheit der „transzendentalen Apperzeption“ (s. d.). Auch die praktische Vernunft hat ihre „Form“, ihre eigene Art der Ordnung. Regelung. Gesetzgebung (s. Imperativ); auf die „Form“ des (reinen) Willens kommt es im Sittlichen (s. d.) allein an, nicht auf die „Materie“ derselben, auf besondere Zwecke. Ebenso ist im Ästhetischen, Schönen die „Form“ das Wesentliche (s. Geschmacksurteil, Schönheit). — Die allgemeine Logik (s.d.) betrachtet die Form des Denkens überhaupt unter Absehung von allem Inhalt.
Der sinnlichen Vorstellung wohnt zunächst etwas inne, „was man den Stoff nennen könnte, nämlich die Empfindung, außerdem jedoch etwas, was man die Form nennen kann, nämlich die Gestalt des Sinnlichen, welche verrät, inwieweit das Mannigfaltige, was die Sinne affiziert, durch eine Art Naturgesetz der Seele zusammengeordnet wird. Sowie ferner die Empfindung, welche den Stoff der sinnlichen Vorstellung abgibt, zwar die Gegenwart von etwas Sinnlichem beweist, ihrer Beschaffenheit nach aber von der Natur des Subjekts abhängt, insoweit es durch den Gegenstand bestimmbar ist: so beweist auch die Form der nämlichen Vorstellung jedenfalls eine Beziehung oder ein Verhältnis des Empfundenen; aber sie ist eigentlich nicht ein Umriß oder eine Art Gestalt des Gegenstandes, sondern nur ein gewissermaßen der Seele eingepflanztes Gesetz, die aus der Gegenwart des Gegenstandes entsprungenen Empfindungen in ihrem Interesse zu ordnen. Denn durch ihre Form oder Gestalt erregen die Gegenstände die Sinne nicht; damit daher das Mannigfaltige des Gegenstandes, welches den Sinn affiziert, zu irgendwelchem Ganzen einer Vorstellung sich verbinde, bedarf es eines inneren Prinzips des Geistes, wodurch jenes Mannigfaltige nach festen und angeborenen Gesetzen eine gewisse Gestalt annimmt“, Mund. sens. § 4 (V 2, 97).
Unsere Erfahrungserkenntnis selbst ist ein Zusammengesetztes aus dem, „was wir durch Eindrücke empfangen“, und dem, „was unser eigenes Erkenntnisvermögen (durch sinnliche Eindrücke bloß veranlaßt) aus sich selbst hergibt, welchen Zusatz wir von jenem Grundstoffe nicht eher unterscheiden, als bis lange Übung uns darauf aufmerksam und zur Absonderung desselben geschickt gemacht hat“, KrV Einl. I (I 47—Rc 45). „In der Erscheinung nenne ich das, was der Empfindung korrespondiert, die Materie derselben, dasjenige aber, welches macht, daß das Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann [I.A.: geordnet, angeschaut wird], nenne ich die Form der Erscheinung. Da das, worinnen sich die Empfindungen allein ordnen, und in gewisse Form gestellt werden können, nicht selbst wiederum Empfindung sein kann, so ist uns zwar die Materie aller Erscheinung nur a posteriori gegeben, die Form derselben aber muß zu ihnen insgesamt im Gemüte a priqri bereit liegen, und daher abgesondert von aller Empfindung können betrachtet werden.“ Die „reine Form der Sinnlichkeit“ heißt auch selbst „reine Anschauung“ (= Anschauungsform, s. d.). Wir erhalten diese Form durch „Isolierung“ 1. der Sinnlichkeit vom Verstand, 2. der reinen Anschauung von aller Empfindung, ibid. tr. Ästh. § 1 (I 76 f.—Rc 93 f.). In der Erfahrung sind „zwei Stücke“: „die Form der Anschauung (Raum und Zeit), die völlig a priori erkannt und bestimmt werden kann, und die Materie (das Physische), oder der Gehalt, welcher ein Etwas bedeutet, das im Raume und der Zeit angetroffen wird, mithin ein Dasein enthält und der Empfindung korrespondiert“. Betreffs dieser „Materie“ der Erfahrung „können wir nichts a priori haben, als unbestimmte Begriffe der Synthesis möglicher Empfindungen, so fern sie zur Einheit der Apperzeption (in einer möglichen Erfahrung) gehören“. Betreffs der „Form“ der Anschauung hingegen „können wir unsere Begriffe in der Anschauung a priori bestimmen, indem wir uns im Raum und der Zeit die Gegenstände selbst durch gleichförmige Synthesis schaffen, indem wir sie bloß als Quanta betrachten“, KrV Meth. 1. H. 1. Abs. (I 606 f.—Rc 752). Die „intellektuelle Form“ der Erkenntnis ist das Gesetz der synthetischen Einheit in den Kategorien, KrV 1. A. tr. Anal. 1. B. 2. H. 3. Abs. Summarische Vorstellung ... (I 728 f.—Rc 220 f.). — Der transzendentale Idealismus (s. d.) bisweilen auch „formaler Idealismus“ genannt, KrV tr. Dial. 2. B. 2. H. 6. Abs. Anm. (I 439—Rc 570).
„Form“ und „Materie“ sind „Reflexionsbegriffe“ (s. d.). Sie werden aller anderen Reflexion zugrunde gelegt, „so sehr sind sie mit jedem Gebrauch des Verstandes unzertrennlich verbunden“. „Materie“ (im allgemeinen) bedeutet „das Bestimmbare überhaupt“, „Form“ „dessen Bestimmung“. „Der Verstand nämlich verlangt zuerst, daß etwas gegeben sei (wenigstens im Begriffe), um es auf gewisse Art bestimmen zu können.“ Im Begriffe des reinen Verstandes geht daher die Materie der Form vor. Sind es aber nur sinnliche Anschauungen, in denen wir alle Gegenstände lediglich als Erscheinungen bestimmen, so geht die „Form der Anschauung“ vor aller Materie (den Empfindungen), also auch vor allen Daten der Erfahrung vorher und macht diese „allererst möglich“. Diese Form ist „ursprünglich“, „für sich allein gegeben“, ibid. tr. Anal. Anh. 4. Von der Amphibolie (I 295 f.—Rc 359 f.). „In jedem Urteile kann man die gegebenen Begriffe logische Materie (zum Urteile), das Verhältnis derselben (vermittelst der Kopula) die Form des Urteils nennen. In jedem Wesen sind die Bestandstücke desselben (essentialia) die Materie; die Art, wie sie in einem Dinge verknüpft sind, die wesentliche Form“, ibid. (I 295—Rc 359). Vs. Urteil. „Forma dat esse rei. Denn das Wesentliche der Sache kann nur durch Vernunft erkannt werden; nun aber muß alle Materie der Erkenntnis durch Sinne gegeben sein; also ist das Wesen der Sachen, sofern sie durch Vernunft erkannt werden, die Form“, N 3850; vgl. 3852. Diese Form dependiert von der Tätigkeit des Bewußtseins, N 3851. — Der Begriff der Form gehört zu den „Reflexionsbegriffen“ (s. d.).
Das „Formale in unserer Erkenntnis“ ist das „hauptsächlichste Geschäft der Philosophie“. „In der Form besteht das Wesen der Sache (forma dat esse rei, hieß es bei den Scholastikern), sofern dieses durch Vernunft erkannt werden soll. Ist diese Sache ein Gegenstand der Sinne, so ist es die Form der Dinge in der Anschauung (als Erscheinungen), und selbst die reine Mathematik ist nichts anderes als eine Formenlehre der reinen Anschauung; sowie die Metaphysik als reine Philosophie ihre Erkenntnis zuoberst auf Denkformen gründet, unter welche nachher jedes Objekt (Materie der Erkenntnis) subsumiert werden mag. Auf diesen Formen beruht die Möglichkeit aller synthetischen Erkenntnis a priori, welche wir zu haben doch nicht in Abrede ziehen können. — Den Übergang aber zum Übersinnlichen, wozu uns die Vernunft unwiderstehlich treibt, und den sie nur in moralisch-praktischer Rücksicht tun kann, bewirkt sie auch allein durch solche (praktische) Gesetze, welche nicht die Materie der freien Handlung (ihren Zweck), sondern nur ihre Form, die Tauglichkeit ihrer Maximen zur Allgemeinheit einer Gesetzgebung überhaupt, zum Prinzip machen. In beiden Feldern (des Theoretischen und Praktischen) ist es nicht eine planoder gar fabrikenmäßig (zum Behuf des Staats) eingerichtete willkürliche Formgebung, sondern eine vor aller das gegebene Objekt handhabende Manufaktur, ja ohne einen Gedanken daran vorhergehende fleißige und sorgsame Arbeit des Subjekts, sein eigenes (der Vernunft) Vermögen aufzunehmen und zu würdigen“, V. e. vorn. Ton (V 4, 21 f.).
Die Form des reinen Wollens ist dessen Allgemeinheit, Allgemeingültigkeit, GMS 2. Abs. (III 63); Tauglichkeit zu einem allgemeinen Gesetze, ibid. (III 72); zu einer allgemeinen Gesetzgebung, KpV 1. T. 1. B. 2. H. (II 86). Das Prinzip der Allgemeingültigkeit der Maximen als Gesetze ist die „Form einer reinen praktischen Vernunft“, GMS 3. Abs. Von d. äußersten Grenze... (III 92). Die „bloße Form des Gesetzes“ wird nur von der Vernunft vorgestellt; ihre Vorstellung ist das alleinige Motiv (s. d.) sittlichen Wollens, KpV 1. T. 1. B. I. H. § 4 (II 34 f.). Das Prinzip der Sittlichkeit besteht in der „Unabhängigkeit ... von aller Materie des Gesetzes (nämlich einem begehrten Objekte) und zugleich doch Bestimmung der Willkür durch die bloße allgemeine gesetzgebende Form, deren eine Maxime fähig sein muß“, ibid. § 8 (II 43 ff.). Vgl. MST Einl. IX (III 237). „Die Triebfeder, welche der Mensch vorher haben kann, ehe ihm ein Ziel (Zweck) vorgesteckt wird, kann doch offenbar nichts anderes sein als das Gesetz selbst, durch die Achtung, die es (unbestimmt, welche Zwecke man haben und durch dessen Befolgung erreichen mag) einflößt. Denn das Gesetz in Ansehung des Formalen der Willkür ist ja das einzige, was übrig bleibt, wenn ich die Materie der Willkür (das Ziel...) aus dem Spiel gelassen habe“, Theor. Prax. I (VI 77). — Vgl. Anschauungsformen, Kategorie, Idee, Idealismus, Erfahrung, A priori, [Apperzeption](apperzeption- transzendentale), Synthese, Wille (reiner), Imperativ, Ethik, Recht, Sittlichkeit, Autonomie, Geschmacksurteil, Schönheit, Erhaben, Gestalt, Zweck.