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Ethik

Ethik. Die Ethik als Moralphilosophie (als „reine Moral“) im Unterschiede von der empirischen Moralwissenschaft („moralische Anthropologie“) ist eine (apriorische) Vernunftwissenschaft. Sie gehört zur „Transzendentalphilosophie“, insofern sie die Voraussetzungen und Quellen des Sittlichen kritisch untersucht. Sie forscht nach dem Prinzip, das allen sittlichen Normen und Handlungen zugrunde liegt, sie bestimmt die „Form“ des Sittlichen, das, was Sittlichkeit überhaupt konstituiert, was in allen (historisch sich entfaltenden) moralischen Tatsachen das Kriterium wahrer Sittlichkeit (s. d.) bildet. Sie stellt den obersten Maßstab für das sittliche Sollen auf, begründet dieses einheitlich und formuliert das Prinzip des Sollens, aus dem sie sodann die Pflichten und Tugenden ableitet. Die Ethik ist formalistisch, aber bezieht sich dabei auf die Zwecke des Handelns, wenn auch das sittliche Prinzip selbst aus der Form des reinen Willens, unter Abstraktion von allem Stoffe des Willens, gewonnen wird. Die Ethik ist nicht empirisch, gibt aber die Grundlegung für die moralische Erfahrung, macht diese begreiflich und einheitlich-systematisch. „Die ersten Gründe der Moral sind nach ihrer gegenwärtigen Beschaffenheit noch nicht aller erforderlichen Evidenz fähig“, Nat. Theol. 4. Btr. § 2 (V 1, 143). Vgl. Sollen. — Die „moralische Weltweisheit“ nimmt noch eher wie die Metaphysik den Schein der Wissenschaft und Gründlichkeit an, weil „die Unterscheidung des Guten und Bösen in den Handlungen und das Urteil über die sittliche Rechtmäßigkeit geradezu und ohne den Umschweif der Beweise von dem menschlichen Herzen durch dasjenige, was man Sentiment nennt, leicht und richtig erkannt werden kann“. Die Versuche von Shaftesbury, Hutcheson und Hume, „welche, obzwar unvollendet und mangelhaft, gleichwohl noch am weitesten in der Aufsuchung der ersten Gründe aller Sittlichkeit gelangt sind“, sind präziser zu gestalten und zu ergänzen. Es wird erst dasjenige historisch und philosophisch erwogen, „was geschieht“, „ehe ich anzeige, was geschehen soll“, Nachricht v. d. Einrichtung seiner Vorles. 1765—1766 (VI, 158). „Die Moralphilosophie kann ..., soweit sie die ersten Grundsätze der Beurteilung bietet, nur durch den reinen Verstand erkannt werden und gehört selbst zur reinen Philosophie; und wer ihre Merkmale in dem Gefühl der Lust oder Unlust sucht, wird mit vollstem Rechte getadelt“, Mund. sens. § 9 (V 2, 101).

Die Ethik („Moral“) ist eine Wissenschaft, „die da lehrt, nicht wie wir glücklich, sondern der Glückseligkeit würdig werden sollen“, Theor. Prax. I (VI 73). Die „reine Moral“ enthält bloß „die notwendigen sittlichen Gesetze eines freien Willens überhaupt“. Wie die reine Logik zur angewandten Logik, so verhält sich die reine Moral zu der „eigentlichen Tugendlehre, welche diese Gesetze unter den Hindernissen der Gefühle, Neigungen und Leidenschaften, denen die Menschen mehr oder weniger unterworfen sind, erwägt, und welche niemals eine wahre und demonstrierte Wissenschaft abgeben kann, weil sie ebensowohl als jene angewandte Logik empirische und psychologische Prinzipien bedarf“, KrV tr. Log. Einl. I (I 109—Rc 129). — Die „Moral“ (oder „Moralphilosophie“ oder „Philosophie der Sitten“) hat es mit dem Endzweck, der ganzen Bestimmung des Menschen zu tun. Ihr Gegenstand ist „das, was da sein soll“. Die „Metaphysik der Sitten“ enthält „die Prinzipien, welche das Tun und Lassen a priori bestimmen und notwendig machen“. Sie ist die „reine Moral“, in welcher „keine Anthropologie (keine empirische Bedingung)“ zugrunde gelegt wird, ibid. tr. Meth. 3. H. (I 691 f.—Rc 846 ff.).

Die „Ethik“ („Sittenlehre“) ist die Wissenschaft von den Gesetzen der Freiheit, d. h. von den Gesetzen, nach denen alles geschehen soll. Insofern die Bedingungen erwogen werden, unter denen dies öfters nicht geschieht, hat die Ethik einen empirischen Teil, der „praktische Anthropologie“ heißen kann. Die Ethik als „reine Philosophie“ (d. h. ihrem rationalen Teile nach), die eigentliche „Moral“, ist (apriorische) „Metaphysik der Sitten“, die der praktischen Anthropologie als Grundlage vorausgeht, daher (als „reine Moralphilosophie“) von allem Empirischen, zur Anthropologie Gehörenden völlig gesäubert sein muß. Die moralischen Gesetze müssen „absolute Notwendigkeit“ haben, nicht bloß für Menschen, sondern für alle vernünftigen Wesen gelten. Es ergibt sich, daß „der Grund der Verbindlichkeit hier nicht in der Natur des Menschen oder den Umständen in der Welt, darin er gesetzt ist, gesucht werden müsse, sondern a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft“. Die reine Moralphilosophie entlehnt also nichts aus der Anthropologie, sondern gibt dem Menschen als vernünftigem Wesen „Gesetze a priori, die freilich noch durch Erfahrung geschärfte Urteilskraft erfordern, um teils zu unterscheiden, in welchen Fällen sie ihre Anwendung haben, teils ihnen Eingang in den Willen des Menschen und Nachdruck zur Ausübung zu verschaffen“. „Eine Metaphysik der Sitten ist also unentbehrlich notwendig, nicht bloß aus einem Bewegungsgrunde der Spekulation, um die Quelle der a priori in unserer Vernunft liegenden praktischen Grundsätze zu erforschen, sondern weil die Sitten selber allerlei Verderbnis unterworfen bleiben, solange jener Leitfaden und oberste Norm ihrer richtigen Beurteilung fehlt.“ Die Metaphysik der Sitten soll „die Idee und die Prinzipien eines möglichen reinen Willens untersuchen“. Sie geht nur auf die moralischen Beweggründe, d. h. jene, welche „völlig a priori bloß durch Vernunft vorgestellt“ werden. Die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ist nur „die Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität“, GMS Vorr. (III 3 ff.). Man kann die „reine Philosophie der Sitten (Metaphysik)“ von der „angewandten (nämlich auf die menschliche Natur)“ unterscheiden. Man sieht dann, „daß die sittlichen Prinzipien nicht auf die Eigenheiten der menschlichen Natur gegründet, sondern für sich a priori bestehend sein müssen, aus solchen aber, wie für jede vernünftige Natur, also auch für die menschliche praktische Regeln müssen abgeleitet werden können“, ibid. 2. Abs. 1. Anm. (III 31). Es ist theoretisch und praktisch richtig, die ethischen Begriffe und Gesetze „aus reiner Vernunft zu schöpfen und unvermengt vorzutragen“, sowie den Umfang der praktischen Vernunfterkenntnis, das „ganze Vermögen der reinen praktischen Vernunft“ zu bestimmen. Die moralischen Gesetze sind „schon aus dem allgemeinen Begriffe eines vernünftigen Wesens überhaupt abzuleiten“. Nur zu ihrer Anwendung auf Menschen bedarf die Moral der Anthropologie, ibid. 2. Abs. (III 32 f.).

Die Sittengesetze gelten nur, „sofern sie als a priori gegründet notwendig eingesehen werden können“, als Gesetze; die Begriffe und Urteile über uns selbst und unser Tun und Lassen sind nicht moralischer Art, wenn sie auf Erfahrung beruhen. Die Lehren der Sittlichkeit können daher nicht Glückseligkeitsregeln sein; sie gebieten für jedermann, „bloß weil und sofern er frei ist und praktische Vernunft hat“. „Die Belehrung in ihren Gesetzen ist nicht aus der Beobachtung seiner selbst und der Tierheit in ihm, nicht aus der Wahrnehmung des Weltlaufs geschöpft: von dem, was geschieht und wie gehandelt wird ..., sondern die Vernunft gebietet, wie gehandelt werden soll, wenngleich noch kein Beispiel davon angetroffen würde; auch nimmt sie keine Rücksicht auf den Vorteil, der uns dadurch erwachsen kann, und den freilich nur die Erfahrung lehren könnte.“ Die praktische (s. d.) Philosophie setzt eine (apriorische) Metaphysik (s. d.) der Sitten voraus, die von Anthropologie (s. d.) unabhängig, aber auf sie anwendbar ist, MS Einl. II (III 16 ff.). Die Gesetzgebung, „welche eine Handlung zur Pflicht und diese Pflicht zugleich zur Triebfeder macht“, ist „ethisch“, während jene, welche eine andere Triebfeder zuläßt, „juridisch“ ist; darauf beruht der Unterschied von „Moralität“ (s. d.) und „Legalität“, von Tugendlehre (Ethik im engeren Sinne) und Rechtslehre. Alle Pflichten (s. d.) als solche gehören zur Ethik, aber ihre Gesetzgebung ist nicht allemal in der Ethik enthalten. Die Ethik lehrt nur, daß, wenn die Triebfeder, welche etwa die juridische Gesetzgebung mit einer Pflicht verbindet, nämlich der äußere Zwang, auch weggelassen wird, die Idee der Pflicht allein schon zur Triebfeder hinreichend sei. „Die ethische Gesetzgebung (die Pflichten mögen allenfalls auch äußere sein) ist diejenige, welche nicht äußerlich sein kann; die juridische ist, welche auch äußerlich sein kann.“ Die Ethik hat ihre besonderen Pflichten (z. B. die gegen sich selbst), aber auch Pflichten mit dem Rechte, doch nicht „die Art der Verpflichtung“, gemein. „Denn Handlungen bloß darum, weil es Pflichten sind, ausüben und den Grundsatz der Pflicht selbst, woher sie auch komme, zur hinreichenden Triebfeder der Willkür zu machen, ist das Eigentümliche der ethischen Gesetzgebung. So gibt es also zwar viele direkt-ethische Pflichten, aber die innere Gesetzgebung macht auch die übrigen alle und insgesamt zu indirekt-ethischen“, ibid. Einl. IV (III 21 ff.). Die Moral als „System der Pflichten überhaupt“ gliedert sich in: 1. Elementarlehre (Rechts-, Tugendpflichten), 2. Methodenlehre (Didaktik, Asketik) MSR Einl. Einteilung der MS III (III 48). „Ethik“ bedeutete einst die „Sittenlehre (philosophia moralis)“ überhaupt, welche man auch die Lehre von den Pflichten benannte. Später hat man diesen Namen dem Teil der Sittenlehre gegeben, der von den nicht unter äußeren Gesetzen stehenden Pflichten handelt und den man nun als „Tugendlehre“ bezeichnet. Das „System der allgemeinen Pflichtenlehre“ gliedert sich in das der „Rechtslehre (ius)“ und der „Tugendlehre (ethica)“, MST Einl. am Anfang (III 217). Die Rechtslehre hat es bloß mit der formalen Bedingung der äußeren Freiheit zu tun. „Die Ethik dagegen gibt noch eine Materie (einen Gegenstand der freien Willkür), einen Zweck der reinen Vernunft, der zugleich als objektiv-notwendiger Zweck, d. i. für den Menschen als Pflicht vorgestellt wird, an die Hand.“ Es handelt sich um einen den Neigungen entgegengesetzten „moralischen Zweck“ a priori, der „an sich selbst Pflicht“ ist. Die Ethik kann daher auch als „das System der Zwecke der reinen praktischen Vernunft“, definiert werden, ibid. Einl. I (III 219 f.), vgl. Zweck. „Man kann sich das Verhältnis des Zwecks zur Pflicht auf zweierlei Art denken: entweder von dem Zwecke ausgehend, die Maxime der pflichtmäßigen Handlungen, oder umgekehrt, von dieser anhebend, den Zweck ausfindig zu machen, der zugleich Pflicht ist. — Die Rechtslehre geht auf dem ersten Wege. Es wird jedermanns freier Willkür überlassen, welchen Zweck er sich für seine Handlung setzen wolle. Die Maxime derselben aber ist a priori bestimmt: daß nämlich die Freiheit des Handelnden mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen könne.“ „Die Ethik aber nimmt einen entgegengesetzten Weg. Sie kann nicht von den Zwecken ausgehen, die der Mensch sich setzen mag, und danach uber seine zu nehmenden Maximen, d. i. über seine Pflicht verfügen.“ „Also wird in der Ethik der Pflichtbegriff auf Zwecke leiten, und die Maximen in Ansehung der Zwecke, die wir uns setzen sollen, nach moralischen Grundsätzen begründen müssen“, ibid. Einl. II (III 221 f.). „Die Ethik gibt nicht Gesetze für die Handlungen (denn das tut das Jus), sondern nur für die Maximen der Handlungen.“ Den Begriff des Zwecks, der zugleich Pflicht ist, begründet ein Gesetz für die Maximen der Handlungen, indem der subjektive Zweck dem objektiven untergeordnet wird, ibid. Einl. VI (III 229 f.). Die Philosophie ist in ihrem praktischen Teil genötigt, zu einer „Metaphysik (der Sitten), als einem Inbegriff bloß formaler Prinzipien des Freiheitsbegriffes“, zurückzugehen, „ehe noch vom Zweck der Handlungen (der Materie des Wollens) die Frage ist“, Fried, i. d. Ph. 2. Abs. (V 4, 38). Vgl. Imperativ, Rigorismus, Glückseligkeit, Autonomie, Ethikotheologie, Moral, Vollkommenheit.