Erziehung
Erziehung. „Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muß. Unter der Erziehung nämlich verstehen wir die Wartung (Verpflegung, Unterhaltung), Disziplin (Zucht) und Unterweisung nebst der Bildung.“ „Disziplin oder Zucht ändert die Tierheit in die Menschheit um. Ein Tier ist schon alles durch seinen Instinkt; eine fremde Vernunft hat bereits alles für dasselbe besorgt. Der Mensch aber braucht eigene Vernunft. Er hat keinen Instinkt und muß sich selbst den Plan seines Verhaltens machen. Weil er aber nicht sogleich imstande ist, dieses zu tun, sondern roh auf die Welt kommt, so müssen es andere für ihn tun.“ „Die Menschengattung soll die ganze Naturanlage der Menschheit durch ihre eigene Bemühung nach und nach von selbst herausbringen. Eine Generation erzieht die andere.“ „Disziplin verhütet, daß der Mensch nicht durch seine tierischen Antriebe von seiner Bestimmung, der Menschheit, abweiche.“ „Zucht ist also bloß negativ, nämlich die Handlung, wodurch man dem Menschen die Wildheit benimmt, Unterweisung hingegen ist der positive Teil der Erziehung.“ „Wildheit ist die Unabhängigkeit von Gesetzen. Disziplin unterwirft den Menschen den Gesetzen der Menschheit und fängt an, ihm den Zwang der Gesetze fühlen zu lassen. Dieses aber muß früh geschehen.“ „Bildung begreift unter sich Zucht und Unterweisung“, Über Pädagogik, Einl. (VIII 193 f.).
„Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht.“ „Vielleicht, daß die Erziehung immer besser werden, und daß jede folgende Generation einen Schritt näher tun wird zur Vervollkommnung der Menschheit; denn hinter der Edukation steckt das große Geheimnis der Vollkommenheit der menschlichen Natur.“ Die Idee einer Erziehung, „die alle Naturanlagen im Menschen entwickelt, ist allerdings wahrhaft“, ibid. (VIII 195 f.). „Es liegen viele Keime in der Menschheit, und nun ist es unsere Sache, die Naturanlagen proportionierlich zu entwickeln und die Menschheit aus ihren Keimen zu entfalten und zu machen, daß der Mensch seine Bestimmung erreiche. Die Tiere erfüllen diese von selbst und ohne daß sie sie kennen. Der Mensch muß erst suchen, sie zu erreichen; dieses kann aber nicht geschehen, wenn er nicht einmal einen Begriff von seiner Bestimmung hat. Bei dem Individuo ist die Erreichung der Bestimmung auch gänzlich unmöglich.“ „Nicht einzelne Menschen, sondern die Menschengattung soll dahin gelangen.“ „Die Vorsehung hat gewollt, daß der Mensch das Gute aus sich selbst herausbringen soll.“ „Sich selbst besser machen, sich selbst kultivieren, und, wenn er böse ist, Moralität bei sich hervorbringen, das soll der Mensch“, ibid. (VIII 197 f.). „Der Mechanismus der Erziehungskunst muß in Wissenschaft verwandelt werden.“ Die Pädagogik muß „judiziös“, ein Studium werden, ibid. (VIII 199). Ein Grundprinzip der Pädagogik ist: „Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglich bessern Zustande des menschlichen Geschlechts, d. i. der Idee der Menschheit und deren ganzer Bestimmung angemessen erzogen werden.“ Daher sollte auch die Einrichtung der Schulen „von dem Urteile der aufgeklärtesten Kenner abhängen“. „Alle Kultur fängt von dem Privatmanne an und breitet von daher sich aus“, ibid. (VIII 199 ff.). „Bei der Erziehung muß der Mensch also 1. diszipliniert werden. Disziplinieren heißt, suchen zu verhüten, daß die Tierheit nicht der Menschheit, in dem einzelnen sowohl als gesellschaftlichen Menschen zum Schaden gereiche. Disziplin ist also bloß Bezähmung der Wildheit.“ „2. Muß der Mensch kultiviert werden. Kultur begreift unter sich die Belehrung und die Unterweisung. Sie ist die Verschaffung der Geschicklichkeit“ (zu beliebigen Zwecken). „3. Muß man darauf sehen, daß der Mensch auch klug werde, in die menschliche Gesellschaft passe, daß er beliebt sei und Einfluß habe. Hierzu gehört eine gewisse Art von Kultur, die man Zivilisierung nennt.“ „4. Muß man auf die Moralisierung sehen. Der Mensch soll nicht bloß zu allerlei Zwecken geschickt sein, sondern auch die Gesinnung bekommen, daß er nur lauter gute Zwecke erwähle. Gute Zwecke sind diejenigen, die notwendigerweise von jedermann gebilligt werden, und die auch zu gleicher Zeit jedermanns Zwecke sein können“, ibid. (VIII 701 f.). Die Moralisierung darf nicht dem Prediger überlassen und die Moral nicht auf Verbote Gottes gegründet werden, sondern die Tugend muß lernen, das Gute um seiner selbst willen zu werten und auszuüben. Man kann die Menschen nicht glücklich machen, wenn man sie nicht sittlich und weise macht, ibid. (VIII 202 f.). „Eines der größesten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen könne. Denn Zwang ist nötig“, ibid. (VIII 206). „Die Pädagogik oder Erziehungslehre ist entweder physisch oder praktisch. Die physische Erziehung ist diejenige, die der Mensch mit den Tieren gemein hat, oder die Verpflegung. Die praktische oder moralische ist diejenige, durch die der Mensch soll gebildet werden, damit er wie ein freihandelndes Wesen leben könne ... Sie ist Erziehung zur Persönlichkeit, Erziehung eines freihandelnden Wesens, das sich selbst erhalten und in der Gesellschaft ein Glied ausmachen, für sich selbst aber einen inneren Wert haben kann.“ Die praktische Erziehung besteht also „1. aus der scholastisch-mechanischen Bildung, in Ansehung der Geschicklichkeit; ist also didaktisch (Informator), 2. aus der pragmatischen, in Ansehung der Klugheit (Hofmeister), 3. aus der moralischen, in Ansehung der Sittlichkeit.“ „Der scholastischen Bildung oder der Unterweisung bedarf der Mensch, um zur Erreichung aller seiner Zwecke geschickt zu werden. Sie gibt ihm einen Wert in Ansehung seiner selbst als Individuum, Durch die Bildung zur Klugheit aber wird er zum Bürger gebildet; da bekommt er einen öffentlichen Wert. Da lernt er sowohl die bürgerliche Gesellschaft zu seiner Absicht lenken, als sich auch in die bürgerliche Gesellschaft schicken. Durch die moralische Bildung endlich bekommt er einen Wert in Ansehung des ganzen menschlichen Geschlechts.“ Die moralische Bildung muß (implizite) schon bei der physischen Erziehung beobachtet werden, ibid. Abhandl. (VIII 207 f.). Die physische Erziehung muß möglichst naturgemäß sein; Abhärtung ist notwendig, alles muß vermieden werden, was den Menschen verweichlicht, verzärtelt, ungeschickt, zum Sklaven seiner Gewohnheiten, schwächlich, innerlich unfrei und dabei etwa unfügsam macht. Es müssen alle körperlichen und geistigen Kräfte geübt werden; eine Kultur der Sinne und der Seele ist notwendig; Wissen und Können müssen verbunden werden, ibid. V. d. phys. Erziehung (VIII 208 ff.). Das Kind soll Spiele (s. d.) ausüben, aber auch arbeiten lernen. Gedächtnis und Verstand müssen zusammen kultiviert werden, ebenso Gefühl- und Willenskräfte, ibid. (VIII 217 ff.). „Der Wille der Kinder muß... nicht gebrochen, sondern nur in der Art gelenkt werden, daß er den natürlichen Hindernissen nachgebe. Im Anfange muß das Kind freilich blindlings gehorchen.“ „Kinder werden verzogen, wenn man ihren Willen erfüllt, und ganz falsch erzogen, wenn man ihren Willen und ihren Wünschen gerade entgegen handelt“, ibid. (VIII 230 f.). Die moralische Kultur muß sich gründen „auf Maximen, nicht auf Disziplin. Diese verhindert die Unarten, jene bildet die Denkungsart. Man muß dahin sehen, daß das Kind sich gewöhne, nach Maximen, und nicht nach gewissen Triebfedern zu handeln“, ibid. (VIII 232); vgl. Anthr. 2. T. E, c (IV 282 f.), N 1473. Vgl. Mensch, Geschichte, Kultur, Frau, Katechismus (moralischer), Fortschritt.