Oktober 1916
Auf der Suche nach dem Menschen im Heros
Der Auswurf der gewiß nicht planetreinen europäischen Bevölkerung, also die Presse, ist, abgesehen von der kleinen Meinungsverschiedenheit, die zum Völkerblutbad geführt hat, völlig einig in dem Verlangen nach mehr Preßfreiheit, die bekanntlich eine der kostbarsten Errungenschaften der Menschheit bedeutet und von dem Gute der menschlichen Freiheit als solcher nicht zu trennen ist. Wiewohl nun das Recht, Mensch zu sein, nicht das geringste mit der Meinungsfreiheit, wie sie die Wegelagerer des Fortschritts propagieren, zu schaffen hat und man sich die vollkommenste Verfügung über die Lebensgüter recht wohl ohne eine tägliche Presse vorstellen könnte, wird dem Volk der unauflösliche Zusammenhang alles dessen, was der Mensch vom Leben zu fordern ein Recht hat, mit einer unzensurierten Journalistik so tief eingeleitartikelt, daß man sich wirklich eher Malkontente in einer presselosen Zeit als in einer brotlosen vorstellen könnte. Mehr denn je wagt es diese Profession von Tagdieben, die ihren Beruf verfehlt haben, geistige Freiheit in Verbindung mit dem Amt zu bringen, die Menschenwürde täglich ungestraft zur Kanaille zu machen. Daß eine Staatsanwaltschaft Nachrichten verbietet oder Kommentare, deren Lektüre vielleicht keinen Schaden am Staatsinteresse bewirken würde, deren Unterdrückung aber dort keinen edleren Teil verletzen kann, wird nur so laut beklagt, um die Leserschaft vergessen zu machen, daß eine Kulturanwaltschaft fehlt, die alles das zu verbieten hätte, was jene noch erlaubt. Die sittliche Verfassung, in der diese Gemeinschaft Anklagen gegen die Zensur erhebt, wird kaum besser als durch die Schrankenlosigkeit der Befugnisse illustriert werden können, die sie sich tagtäglich gegen die Überreste unserer Scham und unserer Vernunft herausnimmt. Auf einer einzigen Seite drängen sich täglich hundert Beispiele, die solches Übermaß an Freiheit beweisen wollen. Aber keines hat in den letzten, ach so reichen Kriegswochen so gellend nach Beachtung gerufen wie der Entschluß des Herrn Arpád Pásztor, Sonderberichterstatter des »Az Est« — totenübel wird einem schon vor der Fülle der Abenteuer, die solche Namens-, Berufs- und Firmenverbindung enthält —, also der Entschluß dieses Mutigen, »Casement in Berlin« für das ›Berliner Tageblatt‹ auszuforschen, Nachdruck verboten. Er macht sich auf den Weg, den Lebensspuren des Mannes nachzugehen, der den Märtyrertod gestorben ist, um den Würmern die Gelegenheit zu geben.
In Berlin verweilend fiel mir ein: Wäre es nicht zweckmäßig, fern von der Politik einen Mann zu suchen, der ihm nahestand, oder die Erinnerung, die von ihm zurückblieb, oder vielleicht die Hotels aufzusuchen, wo er lebte, die Frau, für die er vielleicht Neigung hatte, und dies alles noch heute? Ich möchte die noch vibrierenden Minuten erfassen, denn morgen, in ein paar Jahren, flieht schon die Zeit wie hundert Jahre vorüber, und in dem Heros sieht man nicht mehr den Menschen ... Und gerade der Mensch ist doch das ewige Problem ...
Bei der Wahl, einen Mann, eine Erinnerung oder ein Hotel zu suchen, entscheidet er sich für dieses, und der Hotelportier des eigenen Hotels hilft schon, das ewige Problem zu lösen.
Der Hotelportier denkt nach auf meine Frage, ob er wüßte, wo Casement gewohnt hat?
Der Hotelportier weiß es nicht, aber es wird festgestellt, daß Casement in der Bar des Hotel Bristol verkehrt hat. Die Kellner werden interviewt.
Anton Schramm und Willy Rhon kannten ihn. Ich gebe weiter, was diese mir erzählten.
Dann gehts ans Forschen.
»Trank er gern?« »Nein. Er trank nicht viel. Am liebsten Martini-Cocktail.«
Das ewige Problem ist aber damit beiweitem nicht erschöpft. Die Frage der Fragen bleibt noch offen:
»Sah man ihn in Damengesellschaft?«
Niemals. Schwere Enttäuschung bemächtigt sich Arpáds. Er wendet sich verdrossen der Politik zu und interviewt Herrn v. Puttkamer, dem er den Ausspruch entreißt:
»... Einen Casement hängt man nicht ... Einen Casement, wie irgendeinen Dieb oder Mörder? Das ist eine richtiggehende englische Niedertracht.«
Herr v. Puttkamer verwendet absichtlich den Vergleich mit Dieben und Mördern, weil man einen Journalisten noch nicht gehängt hat. Die Menschheit fühlt sich unter der Presse zu wohl, um ihre Tyrannen an den Galgen zu wünschen. Sie erträgt es gern, daß nach dem Tod eines Märtyrers der Reporter in die Hotels läuft und fragt, ob er Damenbesuche empfangen hat.
Hospiz am Brandenburger Tor. Hier wohnte er zuerst in Berlin. »Christliches Hotel ersten Ranges« nennt es sich, und möglich, daß Casements Wahl darum auf dieses Hospiz fiel.
So wird der Portier ins Gebet genommen.
»... Was für Menschen kamen her zu ihm?«
»Amerikaner, und ein-, zweimal ein Hindu ...«
»Damen niemals?«
»Nie ...«
Die drei Punkte sollen die Sprachlosigkeit des Fragers ausdrücken. Im Hotel Fürstenhof aber ist noch weniger herauszukriegen. Zum Glück wird in einem andern Hotel ein Amerikaner aufgetrieben, der etwas zu wissen scheint.
»War er aufgeregt, als er sich von Ihnen verabschiedete ... Weinte er vielleicht?«
»Ja. Aber lassen wir das, wir stehen ja den Ereignissen so nahe, und diese sind ja so private Angelegenheiten ...«
»Bitte!... Werden Sie es nicht aber einmal beschreiben?«
Arpád ist auch taktvoll, wenn einer grob wird oder es speziell verlangt; aber es wäre ihm sehr unangenehm, wenn dieser selbst schreiben wollte, was er nicht sagen will. Er wickelt sich los von dem unwirtlichen Amerikaner. Es gibt noch Informationsmöglichkeiten!
Frida Scholtz, Stubenmädchen im »Hotel Saxonia«. — Casement wohnte im Zimmer 416, und Frida Scholtz hat auch sein Zimmer aufgeräumt.
»Erinnern Sie sich noch an ihn? Was für ein Mensch war er?«
Das liebe deutsche Mädchen lächelt:
»Ja, der Herr war ein komischer Mensch ... Nicht so wie die übrigen Gäste, man kann ihn nicht so rasch vergessen.«
»Um wieviel Uhr stand er auf?«
»Jeden Morgen um 9 Uhr. Dann mußte man ihm den Tee hereintragen. Er zog sich an, ging ins Lesezimmer oder etwas spazieren, während dieser Zeit mußte sein Zimmer in Ordnung gebracht werden.«
Nun ist der Moment gekommen, wo Arpád die vibrierenden Minuten erfassen kann. Man sieht bereits in dem Heros den Menschen, wie er »jeden Früh, wenn er aufkommt und aufsteht, seinen Tee trinkt«, den man ihm hereintragen muß, und später verlangt er, daß sein Zimmer in Ordnung gebracht wird. Aber das ewige Problem ist noch nicht ganz gelöst. Frida Scholtz gibt sich alle Mühe.
»... nie wurde er vertraulich, immer verschlossen.«
Jetzt ist Arpád am Ziel.
»Damen haben ihn nicht aufgesucht?«
»Nein. Nie ... Nur Frau B. vom Zimmer 405. Sie schickte Herrn Casement oft Blumen, nach dem Mittagbrot kamen Casement und seine Freunde bei ihr zusammen, plauderten.«
»Moment!« denkt Arpád, das wollen wir doch ein wenig untersuchen.
»Wie alt war die Dame?«
»Über vierzig ... Nein, nein, mein Herr, das war keine Liebe ... Nur eine große Freundschaft. Bewunderung ... Wir wüßten es ja ...«
Frida hat Arpáds Gedanken, die sich in drei Punkten in einem Punkt zusammenfassen lassen, erraten. Er beeilt sich, noch ein paar Daten über Frau B. zu erraffen, und kommt dann wieder auf das Problem zurück.
»War Herr Casement zerstreut?«
Sie verneint es. Er hat sogar nicht vergessen, ihr vor der Abreise ein Trinkgeld zu geben. Sie weiß darüber eine interessante Mitteilung zu machen.
»Hier, Fräulein, sagte er, als er ging, und gab mir 2 Mark 50 Pfennig als Trinkgeld.«
Nun wäre ja alles so ziemlich festgestellt. Bleibt nur noch eins.
Der Hotelportier Planner erzählt von der Abreise.
Dies und das.
Das ist alles, was ich in Berlin über Casement erfuhr. In der weiten, geschichtlichen Perspektive habe ich die kleinen, menschlichen Züge zu schildern versucht. Wie sein Wagen vom Hotel Saxonia durch die Budapester Straße fuhr ...
Die früher auch anders geheißen haben dürfte.
Das Übrige, was geschah, ist ja schon ein düsterer Shakespearescher Akt.
Bis dahin ist es von Arpád Pásztor, Sonderberichterstatter des »Az Est«, austauschweise dem »Berliner Tageblatt« zugeteilt, und so ehrt man in den Zentralstaaten die Märtyrer des perfiden Albion, indem man herauszukriegen sucht, ob sie Damenbesuche empfangen haben. Ein Akkord in Moll klingt nach:
Beim Morgengrauen am Karfreitag. In den hügeligen irischen Häfen ...
Im Morgenblatt des 20. August. Im Berliner Tageblatt ... Und wenn man nach dieser Stimmungspause bedenkt, daß da einer für seine Überzeugung gehängt wurde und so etwas, mit solcher Moralität und Manier, überlebt, Einfluß hat, von Ministern und Generalen so leicht Auskunft bekommt wie von Hotelportiers und Stubenmädchen, uns belehrt, ergötzt, durchs Leben und in den Tod führt — so ist es wahrlich höchste Zeit, mehr Preßfreiheit zu verlangen!
Vgl.: Die Fackel, Nr. 437-442, XVIII. Jahr
Wien, 31. Oktober 1916.