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Mai 1916

Das übervolle Haus jubelte den Helden begeistert zu, die stramm salutierend dankten1

Bürgertheater. Den Witwen und Waisen der Helden von Uszieczko galt der heutige Abend im Bürgertheater. Die Ersatzeskadron des k.u.k. Dragonerregiments Kaiser Nr. 11 (Oberleutnant Baron Rohn) hat für die Witwen und Waisen der bei Uszieczko gefallenen Kameraden eine Festvorstellung veranstaltet. In aller Erinnerung ist das ruhmvolle Heldenstück der Kaiserdragoner vor der Brückenschanze am Dnjestr. Gegen zahllose Stürme haben sie den vorgeschobenen Posten gehalten, der vielfachen Übermacht getrotzt, bis nach monatelangem heißen Streiten die Massen der Feinde die zu einem Trümmerhaufen gewordene Schanze endlich bezwingen konnten. Mitten durch die feindlichen Reihen bahnte sich das übriggebliebene Häuflein der Kaiserdragoner, von seinem Kommandanten Oberst Planckh geführt, dennoch den Weg zu den Unsrigen. Die Tapferen von Uszieczko grüßte heute das Wiener Publikum auf der Bühne des Bürgertheaters und brachte ihnen eine stürmische Huldigung dar. Dieser schöne Gedanke, die Helden von Uszieczko zu feiern, lag dem szenischen Vorspiel zugrunde, das die feinsinnige heimische Dichterin Irma v. Höfer für diesen Anlaß verfaßt hat. Sie hat die Örtlichkeit der heißen Kämpfe zum Schauplatz der Szene gemacht, und Maler Ferdinand Moser hat die Landschaft am Dnjestr mit glücklicher Hand auf die Bühne gezaubert. Vor der Schanze, hinter der sich im Dämmerlichte des Mondes der Dnjestr wie ein Silberfaden hinzieht, sind die Kaiserdragoner gelagert, und die heute die Bühne belebten, standen noch vor kurzem im fürchterlichen Ringen am Dnjestr. Die meisten von ihnen trugen die wohlverdienten Auszeichnungen. Hofburgschauspieler Skoda interpretierte in der Uniform eines Dragoneroffiziers den gehaltvollen und fesselnden Prolog von Irma v. Höfer. Er erzählt von dem Ruhme der Kaiserdragoner, von den Heldentaten der »Elfer«, von dem Ausharren in allen Angriffen, ist von zündender Begeisterung und tiefem Empfinden erfüllt. Während der Kaiserdragoner im Morgengrauen den Überfall des Feindes erwartet, denkt er an sein Heim, an Mutter, Gattin und Kinder, streichelt und küßt die letzte Postkarte von den Lieben und geht darauf vor den Feind. Das Vorspiel von Irma v. Höfer ist eine poetische, formschöne Darstellung der letzten Heldentat der Kaiserdragoner und gibt in großen Umrissen die Geschichte des ruhmvollen Regiments. Nach der glutvollen Ansprache des Offiziers, die Herr Skoda mit rhetorischem Schwung und pathetischer Steigerung hinreißend vortrug, wurde das neue Regimentslied von Rittmeister Zamorsky, einem Helden von Uszieczko, mit dem anfeuernden Text von Frau Rittmeister Elma Perovic gesungen. Dann zogen die Gestalten der Führer und Inhaber des berühmten Regiments vorüber, des Obersten Heißler, Prinz Eugen, Radetzky und schließlich unseres Kaisers. Der Regimentstrompeter blies »Zum Gebet!«. Die Soldaten auf der Bühne knieten nieder und stimmten die Volkshymne an, in deren Töne das Publikum, in dem man außer den höchsten militärischen Kreisen auch die Spitzen der Zivilbehörden und die Vertreter der vornehmsten Gesellschaft bemerkte, einfiel. Rauschender Beifall folgte diesem Vorspiel der Frau v. Höfer, welche die Ereignisse der jüngsten Tage mit lebender Kraft und greifbarer Plastik auf die Bühne gebracht hat. Dann mußte der Vorhang des öfteren in die Höhe gehen und das übervolle Haus jubelte den Helden begeistert zu, die stramm salutierend dankten. Irma v. Höfer war Gegenstand rauschender Ovationen und es wurde von vielen Seiten der Wunsch laut, daß die Dichtung durch weitere Aufführungen breiteren Schichten zugänglich gemacht werde. Dem szenischen Prolog folgte die Aufführung von Eyslers »Der Frauenfresser« mit Fritz Werner und Betty Myra in ihren bekannten Glanzrollen ....

Das hat sich am 28. April 1916 in Wien zugetragen. Gebt den Tag zurück; es kann nicht wahr sein! Es muß meine Erfindung sein, meine Übertreibung, mein unseliger Hang, überall Spitzen zu sehen und die Luftlinie zu ziehen zwischen Aufgang und Niedergang. Es kann nicht sein. Es stand als Vision des Entsetzlichsten, das im Kopfsturz der Menschenwürde dieser Zeit vorbehalten wäre, vor meinem Aug — es kann nicht leibhaftig worden sein! Will’s noch so tief hinunter, es kann nicht, weil auch das Chaos sein Reglement hat. Gebt den Tag zurück, es ist nicht wahr! Blutig ist der Ernst, bleiern die Langeweile dieser toten Saison. Aber daß Übriggebliebene durch die feindlichen Reihen sich den Weg zu den Unsrigen gebahnt haben, zu jenen furchtbaren Parkettreihen der Unsrigen, der Übriggebliebenen; daß sie sich durchgeschlagen haben bis zur Theatervorstellung — gerechter Gott im Himmel, straf meinen Unglauben mit der Hölle: ich glaub es nicht! Kriegsteilnehmer, auch hohen Ranges, von den Spitzen, sagten mir, sie glaubten es nicht. Es sei von mir, sagten sie. Ob ich denn das nicht wisse. Ich weiß nichts mehr, es ist alles so rapid gekommen, es ist alles so wahr geworden, womit ich die Zeit verleumdet hatte, ich habe den Überblick verloren. Aber ich denke wohl: wenn man mich schwören läßt, die Hand, womit ich schwöre, sei meine Hand — so ist es von mir. So kopfüber in den Abgrund — das erfindet der Tag nicht, wenn ihm nicht der Teufel hilft, und der Teufel nicht, wenn ihm nicht ein Schwarzkünstler Mut macht. Da flüstere ich ihm ins Ohr, was mir so durch den Kopf schießt, als sollte es mir das Hirn zerfetzen: daß ich denke, zwischen dem Blut und dem Nutzen bestehe ein Kausalnexus, auf das Sterben von je tausend komme einer, der Schweißfüße hat und sich infolgedessen ein Palais kaufen kann und da er liefert, wissend, wohin, nicht wissend, woher er liefert, das Recht hat, im Automobil zu sitzen, während Fürstinnen auf der Plattform eines Beiwagens stehen. Man sagt mir, es sei kein Kausalnexus, so sage ich: aber den Nexus müsse man schon bemerkt haben und wäre das Opfer noch so unerläßlich und willkommen, man müßte sich entschließen, auf alle Entbehrungen zu verzichten und sogar lieber nicht zu sterben, wenn solcher Wohlstand die Begleitung sei. Aber ich lasse von der Kausalität nicht, denn hier und dort stoße ich auf die Wurzel der losgebundenen Mechanik, nur daß sie dort den Trost und die Lockung der Ideologie fand und hier die ehrliche Rede des Wuchers führt. Aber dieses eine, dieses letzte glaube ich nicht: daß jene dort diesen hier vorgeführt wurden! Bis zum Kino gehe ich noch mit — nicht ins Theater! Wie? Den Gewehren entronnen, sollten sie sich vor Operngucker gestellt haben? So fräße, wenn die Seele hungert, sie sich ganz? Nein, das hat der Teufel aufgebracht und der hats von mir. Einer sagte: doch sei es geschehen, aber sie waren vom Kader. Unmöglich, sagte ich, noch unmöglicher, denn dann wäre es so: Der erste Blick auf den Bericht — — — aber habe ich nicht eben den erfunden? Als mir von der Irma von Höfer träumte oder von der Jarzebecka und von allem, was hienieden, jeds auf seine Art, der Glorie dient, und plötzlich von der schmachvollsten Situation, in der eine siegende Front dem Hinterland preisgegeben wäre und vor ihm, um sich zu retten, salutieren müßte und dann doch umklammert würde unter Mißbrauch der Flagge des Roten Kreuzes und dergleichen. Ich lag in hohem Fieber, der Arzt schrieb ein Rezept und ich den Bericht. Aber dann las ich ihn doch in der Zeitung, wie ging das zu? Still, nehmen wir an, der Bericht sei ein Bericht. Aber die Zeit ist in die Zeitung verzaubert und in natura solcher Dinge nicht fähig. Dann wird sie’s, nach und nach. Im Bericht entwickelt es sich. Der erste Blick gibt noch Hoffnung: Skoda ist ein Schauspieler, hat einen Bombenerfolg, läßt alle Minen springen. Komödianten waren es, die haben Helden gespielt. Das geschieht täglich, es hat Zugkraft, es ist ein Greuel vor dem Herrn, aber für den Herrn wird nicht Theater gespielt, sondern für das Publikum. Es ist ein schöner Gedanke. Plötzlich läßt der Bericht erkennen, die Helden selbst seien es gewesen, sie hätten die Helden gespielt, sie seien die geborenen Heldendarsteller. Wie selbstverständlich grüßte heute das Publikum die Tapferen von Uszieczko, nachdem es bei der letzten Premiere etwa die Tapferen vom Isonzo gegrüßt hat, und rief sie stürmisch. Waren es aber nicht Komparsen und nicht die Helden selbst, sondern etwas drittes: Soldaten, die Soldaten spielten, Regimentskameraden, die für sie auf der Bühne standen unter Applaussalven, dann — dann war’s doch beiderlei, dann mußten sie spielen, was sie erst erleben werden, malen, was jene taten, dann hatten Soldaten Schminke und ihre Auszeichnungen waren wohlverdiente Bühnenrequisiten. Sie spielten nicht, wie sie die letzte Postkarte von den Lieben gestreichelt und geküßt haben dort oben am Dnjestr und darauf vor den Feind gegangen sind, sondern sie spielten, wie sie es erforderlichenfalls tun würden. Welche Vorstellung packt uns mit eisigerem Griff, die oder die? Einer, der nicht dabei war, es nicht las, nur hörte, es sei geschrieben gewesen, daß es geschehen sei, sagte, das Blut, das er dem Vaterlande zu weihen bereit war, sei ihm erstarrt, er könne nicht mehr. Einer aber, der dabei war, sagte, er wisse heute noch nicht, ob es Helden, Soldaten oder nur Komparsen waren, die doch vielleicht auch ihrerseits einmal in die Situation gelangen könnten; er glaube, es seien Traumgestalten gewesen, aus meinem Traum in die Zeit entsendet und nun verdammt, für ein Weilchen am Dnjestr zu lagern im Morgengrauen, da und dort, bis die Sonne dem Spuk ein Ende macht. Aber wie immer es zu deuten sei: nun lebe er einmal in diesem Übergang, und als die oben niederknieten zum Gebet vor dem Parkett und als die oben stramm salutierten und das Ungeziefer unten ihnen zujubelte und patriotische Lieder sang und in Smokingen dastand Brust neben Brust — da ergriff es ihn als der schauerlichste aller Kontraste, wie ein fürchterliches Ringen der Ehre Gottes mit den Argumenten des Satans und wie der Schmerz um eine delirante Menschheit, die sich um des eigenen Opfers willen höhnt. Er wisse nicht mehr, was geschehen sei, es war eine Panik. So viel habe er behalten, daß der Fritz Werner, der bestimmt kein Soldat sei und überall durchschlagenden Erfolg erzielt habe, nur nicht bei Uszieczko — wehe, die Sphären fließen ineinander — daß er anstatt wie sonst als Ulan, diesmal, zu Ehren der Mitwirkenden, als Dragoner verkleidet im »Frauenfresser« aufgetreten sei. Skoda auch, er gab Feuer, hatte mörderische Wirkung, ist ein Hofschauspieler. Niemand weiß Zuverlässiges. Alle äußeren Grenzen sind gesperrt, alle innern aufgemacht — und darum kein Entrinnen, denn wenn es schon Paßschwierigkeiten hat, nach der Adventbai zu entfliehen — innen verliert sich der Weg ins Grenzenlose. Es hängt zusammen. Wohin sich retten aus dieser Freiheit! Der Notausgang in die eigene Seele verrammelt! Weil Krieg ist. Protektion ausgeschlossen; nicht richten kann man sichs, zu sich selbst zu kommen. Außen aber fließt alles zusammen, durcheinander. So hat der Begriff »Vorstellung« zum tragischen Doppeldasein, zu dem ihn die Zeit verflucht hat — ach, alle Vorstellungen sind genommen — so hat er unvorstellbaren Zuwachs erhalten: das Ganze ist nur eine solche Vorstellung, über die eine Kritik erscheint. Der Witz, daß mit der Schlacht gewartet werde, bis der Ganghofer kommt, ist nicht mehr neu; er ist tägliche Wahrheit, die unerbittlichste, die die Welt ihrer leidenden Menschheit antun konnte. Aber nun wäre noch mehr geschehen: Der Reporter sitzt wieder wie einst im Parterre, die Front ist auf die Bühne gekommen, die Helden treten auf. Krieg war ein Theater, worin sie Freiplätze hatten mit dem Privileg, nicht selbst mitspielen zu müssen: sie, Kritiker und Autoren des Werks in einem, wie gewohnt. Nun hat der Krieg noch den Schauplatz gewechselt, der Berg ist zum Propheten gekommen, und der Theaterkritiker selbst schreibt den Schlachtbericht. Das übervolle Haus jubelte den Helden begeistert zu, die stramm salutierend dankten. Von vielen Seiten wurde der Wunsch laut, daß die Dichtung, von tiefem Empfinden erfüllt, auch breiteren Schichten zugänglich gemacht werde und daß die Gefallenen aufstehen, niederknien, stramm salutieren mögen vor den Hyänen, die das so haben wollen und die ja Hunger leiden müßten, wenn der Tod nicht wäre. Nein! Nein! Nein! Es kann nicht sein! Gebt den Tag zurück! Es war mein Geburtstag. Ich trat mit diesem Tag ins letzte Aufgebot, bin schon 42 Jahre. Wer weiß, vielleicht liege ich noch als Held auf der Bühne des Kriegertheaters, dem Schlachtfeld des Bürgertheaters. Aber ich werde es nicht beschreiben. Denn das kann ich nicht. Ich werde mittun, denn das will ich, wenn alle müssen, die es nicht beschreiben können. Es ist uns allen unbeschreiblich. Es ist uns allen gegeben. Mein Geist spürt die Erniedrigung der Menschheit, ihm ist sie angetan, nicht meinem Leib. Was am 28. April 1916 geschehen ist, hätte, wenn es geschah, den Sinn: tränenlosen Auges hatten wir uns zum Ungeheuren gewöhnt, dann aber sollten wir einmal weinen und da nahmen wir die Operngläser vor. Aber es geschah nicht! Es war eine Fata morgana auf meinem Wüstenweg. Es war zum Geburtstag. Ich sollte noch überrascht werden. Man hat mir das Bild des Unvorstellbarsten, was mich die Zeit hat fühlen lassen, zum Präsent gemacht.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 462-471, XIX. Jahr
Wien, 9. Oktober 1917.


  1. Nach Konfiskation erschienen im Oktober 1917.