Ende Oktober 1915
Schweigen, Wort und Tat1
Das mit dem Schweigen und dem Bruch des Schweigens verhält sich so. Es ist wie so vieles, was das Gewissen begehen kann, kein Widerspruch. Denn das Schweigen war nicht Ehrfurcht vor solcher Tat, hinter der das Wort, wofern es nur eines ist, nie zurücksteht. Es war bloß die Sorge: den Abscheu gegen das andere Wort, gegen jenes, das die Tat begleitet, sie verursacht und ihr folgt, gegen den großen Wortmisthaufen der Welt, jetzt nicht zur Geltung bringen zu können und zu dürfen. Und das Schweigen war so laut, daß es fast schon Sprache war. Nun fielen die Fesseln, denn die Fesseln selbst spürten, daß das Wort stärker sei. Es geschah unwillkürlich, es war kein Akt der Entschließung, kein Plan hier und dort; gibt es doch Augenblicke, da auch die Maschine Respekt hat und eben dort, wo man nur Eingaben gewohnt ist, auch für Eingebungen Raum wird. Ich hatte zu lange mir mein Teil gedacht; dann, als ich einen Sommermonat mitten im Schweigen der unberührtesten Landschaft lebte, da litt ich sehr daran, daß es sonst nur Lärm gab. Es mußte geschehen, daß nach fünfzehn Monaten, in denen bloß diese fürchterlichen Herolde des Siegs laut wurden, von dem besessenen Kassier der Weltgeschichte bis hinunter zu den unentrinnbaren Hilferufern der Extraausgaben, daß nach all der Zeit doch auch der Herold der größten Kulturpleite, die dieser Planet erlebt hat, sich hörbar mache, und wäre es nur, um zu beweisen, daß die Sprache selbst noch nicht erstickt sei. Wohl war ich mir bewußt: Wer vor gewissen Dingen seinen Kopf nicht riskiert, der hat keinen zu riskieren. Was aber hätte der Tausch des Kopfes gegen den Ruhm, einen gehabt zu haben, genützt? Wenn mit dem Kopf auch das Wort konfisziert würde, das er zu geben hatte! Wenn dieselbe Maschinerie, gegen die er anrennt, ihn noch rückwirkend zum Verstummen bringen kann! Er will ihr zeigen, daß in ihm denn doch etwas mehr Platz hat als ein Scherflein; daß sein Durchhalten ein ganz anderes wäre; daß er den Zustand einer Weltkinderstube, in der Gewehre von selbst losgehen, nicht mit dem Plan eines Gottes in Übereinstimmung bringen kann, der Geist und Gras wachsen ließ und der eine Menschheit verwirft, die beides niedertrampelt. Gewiß, lieber den Kopf anders wagen als durch die schweigende Zeugenschaft solcher Dinge in den Verdacht der Nachwelt zu kommen, man hätte keinen gehabt, man sei nur so schlechtweg ein deutscher Schriftsteller von anno 1915 gewesen. Da aber das tonlose Opfer in dieser allergrößten Zeit noch weniger Wert und Wirkung hat als das Wort; da es auch nicht einmal so beispielgebend ist wie der Mord, wie das, was jetzt jeder tun kann, darf und muß — eben darum ist das Wort von selbst frei geworden. Auch das Wort durfte in dem Augenblick, als es mußte; und ich bin bestechlich genug, einzuräumen: möglicherweise habe dieser Staat durch die Anerkennung einer Ausnahme vom Ausnahmszustand bewiesen, daß in ihm wie in jedem Staat mit absolutistischen Neigungen noch ein Endchen Gefühl für seine kulturellen Trümmer lebt. Daß er selbst noch eine letzte Träne hat, von einer wehen Ahnung her, wir würden, wenn dieses Abenteuer durchgeträumt ist, auf einem blutigeren Schlachtfeld erwachen, auf jenem unbegrenzten Absatzgebiet der Zeithyänen, aus dessen unendlicher Ödigkeit die neue Macht aufsteigt, im Ghetto der Hölle niedergehalten durch Jahrhunderte, nun die Erde verwesend, die Luft erobernd und zum Himmel stinkend. Mögen die von Beruf oder Geburt Konservativen, Adel, Kirche und der Krieger selbst, den Mut verloren haben vor dem unerbittlichsten Feind, so daß sie sich mit ihm um angeblicher Notwendigkeiten willen verbünden. Mögen sie, wie aus einer rätselhaften Pflicht allgemeiner Wehrlosigkeit, tagtäglich das Falsche tun — irgendeinmal spüren sie doch den Wert des Wortes, das ihnen zwar nicht Mut machen kann, wohl aber Scham und jenes Gefühl, das an der allermaßgebendsten Stelle gar wohlgefällig ist: Reue. Darum Gnade den schwachen Mächtigen! Der Herr erleuchte sie im Schlafe! Wollten sie mir, wenn sie der Alpdruck dieser todgewissen Zukunft aufschreckt, in einem Augenblick instinktiver Einkehr, in solchem vom politischen Bewußtsein unbewachten Moment, wenn alle Klingklanggloria schweigt, wenn das Läuten der Kanonen und das Schießen der Kirchenglocken verstummt ist, wollten sie mir dann, einmal, leihweise, die Exekutive überlassen, die lange genug ein fauler Zauberlehrling in ihrer Vertretung innehatte — so verpflichte ich mich als alter Unmenschenfresser: den größten scheinbaren Widerspruch, den es jetzt gibt, aus der Welt zu schaffen, den zwischen der blutigen Mechanik der Taten und der flotten Mechanik der Seelen. Dann würde ich: damit das große Ereignis doch nicht so ganz unbeachtet vorüberrausche; damit es mehr sei als ein angebrochener Abend der Welt, den sie vor Kinokriegsbildern hinbringt; damit der Schrecken doch mehr Plastik habe als die einer Extraausgabe, und das Bombardement von Venedig mehr sei als ein heiserer Bubenschrei; damit der leibhaftige Wahn zerstiebe, die Armeelieferanten seien die wahren Schlachtenlieferer; damit Mord wieder einen zureichenden Grund bekomme und Blut wieder dicker sei als Tinte — ich würde für einen einzigen Tag ein Kommando übernehmen, das die Front in das Hinterland verlegt; die Brutstätten der Weltverpestung, die Gifthütten des Menschenhasses, die Räuberhöhlen des Blutwuchers, die man mit dem einzigen verabscheuungswürdigen Fremdwort Redaktionen nennt, täglich zweimal erfolgreich mit Bomben belegen lassen; und mit Hilfe von ausgeliehenen Kosaken, die sich aber, um die Grausamkeit voll zu machen, jeder Schändung zu enthalten hätten, durch einen herzhaften Griff in einen Ringstraßenkorso oder in alle jene Plätze, wo die am Krieg Verdienenden ihrer leiblichen Wohlfahrt opfern, der Fleisch- und Fettfülle ein Ende machen! Ich würde, um nicht eigensüchtiger Beweggründe beschuldigt zu werden, nicht davon essen! Aber aus reinster Menschenliebe und damit die täglichen hundert Hekatomben, die wahrlich kein gottgefälliges Opfer waren, endlich gesühnt werden, bin ich bereit, ein Scherflein beizutragen, gegen das ein Mörser ein Kinderspielzeug ist, und selbst Hand anzulegen, damit auch meinem Wort die Tat folge. Damit man nicht mehr sagen könne, ich sei nicht positiv. Und damit es dort am blutigsten sei, wo es auf dieser behaglich hungernden Welt am fettesten zugegangen ist!
Vgl.: Die Fackel, Nr. 413-417, XVII. Jahr
Wien, 10. Dezember 1915.
- Gesprochen am 30. Oktober 1915.↩