April 1917
Hans Müller in Schönbrunn
Der Hans Müller, der nicht an die Front gehen mußte, um Briefe von dort zu schreiben — er wäre ein großer Vaterlandsverteidiger geworden, auch wenn er ohne Uniform auf die Welt gekommen wäre —, hat neulich dem Tod ins Auge gesehen. Er war nämlich in Schönbrunn, nämlich in der Menagerie und beschreibt, wie der Panther hinter den Gitterstäben dagelegen ist und ihn angeblickt hat. »Ich bin allein im Raum«, sagt Müller, der keinen Augenblick die Geistesgegenwart verlor, so lange bis sich das Feuilleton in ihm zu formen begann. Freilich war er mit der vorgeschriebenen Marschroute, sich über den Panther etwas einfallen zu lassen, was zu Vergleichen mit der Menschheit führen konnte, nach Schönbrunn gekommen. Die Gefahr lockte ihn, aber er hatte sie wohl unterschätzt. Nun, im Nachgefühl der heroischen Lage, setzt er das schlichte Wort hin: »Ich bin allein im Raum.« Man kann ihm das Abenteuer glauben, wiewohl er sich kürzlich erst zu der Behauptung verstiegen hat, daß er vom deutschen Kaiser in der Hofburg empfangen worden sei. Müller beschreibt nunmehr den Panther, dessen Eindruck er sich nicht entziehen kann, bis auf die Nüstern, »unter denen die Borsten nadelspitz wegstechen«. Fünfzehn Jahre war er nicht in Schönbrunn gewesen. »Damals war die Welt noch weit und offen ... O Vielfalt der Welt, eingefangen wie ein Tropfen Essenz in die Kapsel der Erinnerung ...« Beginnt er zu sinnen, wie nur ein Shakespearescher Königssohn oder wie ein Nestroyscher Handlungsgehilfe zu sinnen pflegen, wenn sie ein Müller’sches Theaterstück gesehen haben. Diese Gedanken Hans Müllers, die bis zu den Pampas schweifen und hierauf einen Abstecher nach Dänemark, Sorrent, Spanien und an den Vierwaldstättersee machen, scheinen den Panther zu langweilen. Denn »das Tier reißt seinen Rachen auf«, es gähnt. Müller mißdeutet es und glaubt, er befinde sich nunmehr in jener Todesgefahr, der er durch die Aufgabe seiner Feldpostbriefe in Wien und durch seine Tätigkeit im Kriegsarchiv glücklich entronnen ist. Es ist ein spannender Augenblick, welchem Müller mit dem knappen, aber inhaltsschweren Satz gerecht wird: »Es begibt sich, daß ich ganz dicht an die Gitterstäbe herantrete.« Diese Begebenheit einmal als wahr angenommen, warten wir nun auf das, was sich weiter begeben wird. »Der Panther schaut und regt sich nicht.« Es begibt sich nämlich zugleich, daß der Panther, der bis dahin kein Antisemit war, zum erstenmal im Leben einen Herrn von der Neuen Freien Presse sieht. Der Panther wartet, wir warten. »Sein Atem trifft den meinen in der unbewegten Luft«, berichtet Müller, während wir im Hinterland atemlos der Entwicklung harren. »Unsere Augen klimmen ineinander.« Der Panther, dem gewiß eine hübsche Beobachtungsgabe, aber kein Talent der Schilderung gegeben ist, hätte die Begebenheit, die auch auf ihn Eindruck gemacht haben muß, vielleicht nicht so impressionistisch, aber doch packend beschrieben. Nun aber habe, so behauptet Müller und der Panther widerspricht nicht, »etwas Ungeheures, etwas, was man« (Gottseidank) »in Worte nicht fassen kann, wie von der Urzeit der Schöpfung her, die ereignislose Minute mit Spannung gefüllt«. Was ist geschehn? Also doch? Hatte der Panther, der beim Anblick des Hans Müller eine Gebärde machte, die in der Sprache dieser Gattung »Oiweh!« bedeutet, zu einem entscheidenden Schlag gegen das Ansehen der Neuen Freien Presse ausholen wollen? Nein, das arme Tier, das sich glänzend beobachtet fühlte, riß bloß seinen Rachen auf. Es gähnte, wie gesagt, Müller aber glaubte, es wolle ihn verschlingen, um das Feuilleton zu verhindern. Alle, die nicht schreiben können, zum Beispiel ich, sind so geartet, sagt man. Aber man tut uns unrecht. Wir sind nicht hungrig, wir gähnen bloß. Müller aber ist fasziniert. »Wie gebannt blicke ich in diesen schwarzen Schlund, der von den gelben Zahnmessern furchtbar bewacht ist.« Dies Bild ist aber keine Reklame für Odol, sondern Müller erkennt, daß »die Feindschaft zwischen Kreatur und Kreatur ewig währen wird«, denn »auf gleichem Stern gibt es dennoch niemals Nachbarschaft! Wem gehört die Erde —?« Diese pessimistische Erkenntnis, die an eines jener Probleme rührt, die wieder nur mit einer Frage beantwortet werden können, hat der Denker in einem furchtbaren Augenblick sozusagen aus dem Löwenrachen geholt, in einem Moment zwischen Tod und Leben, die nur durch Gitterstäbe voneinander getrennt waren. »Jetzt zieht der Panther mit einer schweren, wie trächtigen Bewegung die linke Vorderpranke unter dem Bauche weg und hebt sie hoch.« Schreckliches wird geschehn. »Eine Sekunde hält er den Tod erhoben, das grüne Glas seiner Augen wird flüssig.« Flieh, Müller! »Eine Sekunde ist es atemstill in der Wildnis. Todfeinde.« Wird Müller losgehen? »Brückenlose, die einander Blick in Blick gegenüberstehen.« Müller steht gegenüber und zögert. Seine Stimmung ist ernst, aber zuversichtlich. »Dann — vorüber.« Der Panther ist gerettet. Atmet auf. Froh, daß keine Brücke von ihm zu Müllern führt, während Müller sich das gewünscht hätte. »Müde legt die Riesenkatze ihren schönen Kopf in den Nacken zurück, der Arm gleitet an den Gefängnisstäben kraftlos hinab, und mit einem schweren, wie erschöpften Ton fällt der ganze Körper dumpf auf die Liegestatt des Käfigs.« Von Müller’s Blick bezwungen. Dem Panther ist mies. (Wie mies.) Was vermag ein Panther gegen einen Feuilletonisten? Wem gehört die Erde? Dem Feuilletonisten! Aber der Sieger ist nicht hoffärtig. Wenn auch noch so hoffähig. Er wird ihn gnädig behandeln. »Ein jähes Mitleid, von jener Art, die man nicht erklären kann, durchschüttert mich.« Er wälzt den Löwenanteil an dem Sieg über den Panther auf den Menageriedirektor ab, der den Panther gefangen hält und infolgedessen um die Möglichkeit gebracht hat, seine Kräfte frei zu gebrauchen. »Du armer Knecht« — Müller wird bitter — »hat man dir dein Leben fortgestohlen?« Müller erkennt, daß er über einen Wehrlosen gesiegt habe und wünscht den Panther frei. Er möchte ihm womöglich in Urforsten begegnen. Er beklagt eine Ordnung der Dinge, die ihn hieher geschleppt hat, »hieher zur Schau der Kinder«. Erst wenn alle heiligen Zeiten einmal ein Literat kommt, weiß der Panther, wozu er auf der Welt ist. »Kein Blick des Tieres verrät, daß es einen Menschen nahe weiß.« »Sinnlos liegt es da.« Ein Nebbich. Müller entfernt sich und denkt über das Leben und Gott über die Welt. Erkenntnisse, wie sie die Schalek an der Front gefunden hat, findet Müller vor diesem Käfig. Er weiß nun, was Glück ist, nämlich Freiheit. Von den Tieren erkennt er: »Nur, wo sie nicht wissen, daß sie dienen, dienen sie mit Munterkeit.« Anders als die Feuilletonisten, die wieder nur dort, wo sie wissen, daß sie nicht dienen, mit Munterkeit dienen. Müller hat einmal zwei Ferkel gesehen, die in einer Singspielhalle dressiert vorgeführt wurden, nennt ihren Dresseur mit Recht einen Mörder, weil er eine Kreatur zwingt, ihren Sinn zu vernichten, und fragt, ob es im modernen Staat kein Gesetz gebe, das solche Mörder abfaßt. »Denn was heute ihnen, den Tieren, auferlegt ist, könnte morgen uns selbst vom Schicksal zugemutet werden.« Daß es uns von Dresseuren längst zugemutet wird und daß das Schauspiel unsrer Produktion eben jene große Zeit ausfüllt, an der der Hans Müller Tantièmen verdient, ganz wie jene, die »noch an der Flamme, die vom Boden aufzuckt, sich die arbeitsscheuen Hände wärmen« — das ist unter allen Gedanken, die einem so in Schönbrunn kommen können, dem Hans Müller nicht eingefallen. Denn wenn er entrüstet den Dresseur fragt, »ob er die Natur der Ferkel als von Haus aus turnerisch empfinde«, müßte er sich selbst doch fragen, ob er die Natur der Menschen als von Haus aus wehrpflichtig empfinde, was er für sich selbst freilich verneinen würde; müßte er sich fragen, ob er etwa glaube, daß das Recht, einen Wehrmann oder Wehrschild zu benageln je nachdem, das Recht sei, welches mit uns geboren ist; und ob etwa die Verwandlung von geistigen Menschen, die ihre Feder nicht in den Dienst der guten Sache stellen wollten, in Stiefelputzer und Latrinenfeger dem Sinn der Kreatur entspreche. »Da ergeht es den Inwohnern der Menagerie Schönbrunn freilich bessser«, nämlich als den Ferkeln, meint Müller beschwichtigend. Ganz wie den Autoren des Kriegsarchivs. »Ein Traum ihrer Vergangenheit umgibt sie hier mit zarten Farben, und wo es möglich ist, erhalten sie Freiheit wie ein Elixier, das die Rasse am besten hochzüchtet.« Und er zitiert die Worte des Menageriedirektors: »Als erster Grundsatz der Wartung gilt es, den in Gefangenschaft befindlichen, zumeist aus fremden Zonen stammenden Tieren in unseren Breiten annähernd jene Lebensbedingungen zu gewähren, an die sie in der Freiheit gewöhnt sind.« Es gelte, ihnen »jenes Paradies zu schaffen, in dem sie ihre Heimat und ihre Jugend wiederzufinden glauben«. Ist da von Menagerie oder Pressequartier die Rede? Soll die Redaktion oder der Urwald ersetzt werden? Wird Hagenbeck zitiert oder Hoehn? »Sie erhalten frühmorgens außer ihrem Kaffee Weißbrot mit Biskuit, mittags ...« Wer? Die Affen, »unsere tragikomischen Karikaturisten«, wie Müller sie nennt. Allerdings sei das bei jenen, bei den Affen, nur im Frieden der Fall gewesen ... Wie nun das Wort vom Frieden fallt, erhebt sich Müllers — hoffentlich unerwiderte — Tierliebe auf jene höhere Warte, auf der der Dichter stehen soll, wenn er nicht gerade mit dem König geht, in welchem Falle er bekanntlich auf der Menschheit Höhn wohnt. An den Tieren, bei denen »die Ewigkeit rauscht, der Brunnen des Morgigen«, sollen sich die Menschen ein Beispiel nehmen, was ohne Zweifel eine vernünftige Forderung ist, weil die Menschen so etwas noch immer fressen, während doch jeder bessere malaiische Bär den philosophischen Zucker verschmäht hätte, den ihm ein Feuilletonist durch die Spalten reicht, und kein Panther, der auf sich hält, in mondheller Nacht über die Gemeinplätze des Hans Müller jagen würde. Tiere sind keine Schmöcke. Die Sehnsucht »nach der gemeinsamen Heimat aller Lebendigen«, als die dieser hier den nächtlichen Schrei der Tiere deutet, mögen sie wohl empfinden, aber sicherlich nur mit Ausschluß von Kriegsliteraten, die in dienstfreien Stunden das Weltall umarmen. Der Hans Müller, das weiß jedes Elefantenbaby, ist der erfolgreichste Autor der patriotischen Saison und identisch mit jenem Hans Müller, der öffentlich behauptet hat, daß ihn der deutsche Kaiser in der Wiener Hofburg empfangen habe. Da aber der deutsche Kaiser einen Dichter, der nicht im Feld war, nicht empfangen würde, und einen, der es fälschlich behauptet, schon gar nicht, so kann der Hans Müller so wenig in der Hofburg gewesen sein wie im Feld, während es durchaus glaubhaft ist, daß er in Schönbrunn war.
Vgl.: Die Fackel, Nr. 457-461, XIX. Jahr
Wien, 10. Mai 1917.