März 1916
Weltwende
Das Schauspiel »Freier Dienst« von Leo Feld, das derzeit am Deutschen Volkstheater gegeben wird, ist soeben als Buch erschienen. Es ist Conrad v. Hötzendorf mit folgenden Worten zugeeignet: »Dieses Schauspiel ist aus den großen Eindrücken des letzten Jahres erwachsen. Aus der dankerfüllten und staunenden Ergriffenheit, mit der wir alle dem unbesiegbaren Opfermut unseres Heeres gefolgt sind. Aus einem Gefühl der Demut und des Stolzes, wie wir es nie gekannt haben. Aus dem Bewußtsein, daß eine neue Ordnung unserer inneren Mächte der letzte und versöhnende Gewinn dieser furchtbaren Tage sein muß. Das ist unsere Zuversicht. Wie unablässige Übung körperliche Kräfte erhält und steigert, so muß die Unnachgiebigkeit dieses harten Jahres alle sittlichen Kräfte der Pflichterfüllung und Hingabe gehegt und vertieft haben. Es hat den Menschen aus einsiedlerischer Beschaulichkeit oder Armut erlöst und ihn das größte Glück fühlen lassen, das uns gegönnt sein mag: opferbereiten Dienst für ein höheres als es das eigene Leben ist. Unser Heer ist uns die Verkörperung dieses Geistes, Eure Exzellenz sind uns das Symbol, das edle Beispiel dieses glorreichen Heeres. Indem ich mein bescheidenes Werk, das nichts will, als das allgemeine Gefühl dieser Tage in Worte fassen, Eurer Exzellenz verehrungsvoll zueigne, weiß ich, daß ich auch hierin nur einem Gefühl Ausdruck gebe, das heute jeden Österreicher erfüllt. In Eurer Exzellenz lieben wir das schlichte und lächelnde Heldentum unserer Offiziere.«
In dieser Zeit der Weltwende, in der die »Csardasfürstin« auf Monate ausverkauft ist und alle Anzeichen dafür sprechen, daß mit dem Fenriswolf noch ein kolossaler Rebbach zu machen sein wird, geschieht jeden Augenblick leibhaftig, was bis dahin aus dem Bereich des Unvorstellbaren nicht einmal in die Region fiebriger Halbschlafgesichte gerückt war. Zeichne allen Wurmfraß der Welt in das Dunkel deines Schlafzimmers, und er wird zur Hippokrene. Dann aber geh zu den Journalen, zu den Plakaten, zu den Passanten, sieh mit Augen und höre mit Ohren — so magst vor solcher Erfüllung des Unerfüllbaren, vor dem Hexentanz der Kontraste, vor dem Kopfstehen der Werte, vor solcher Heiligkeit des Unrechts und dieser unfaßbaren Ergebung unter die Tyrannei des Nichts du glauben, jetzt müsse doch gleich, nein jetzt, aber jetzt ganz sicher werde ein Zeichen am Himmel stehen, das den Ablauf der Zeit verkündet, nicht zu mißdeutende Absage des Universums an einen kompromittierten Planeten, der die Blutprobe so schlecht bestanden hat. Welche Hoffnung hält uns? »Gott, wer kann sagen: schlimmer kann’s nicht werden? ’s ist schlimmer nun, als je. Und kann noch schlimmer gehn; ’s ist nicht das Schlimmste, solang man sagen kann: dies ist das Schlimmste.« Wer noch eine ferne Erinnerung an Menschenwürde gefühlt, wer Luftbomben und Stinkgase nicht für den eigentlichen Sinn der Schöpfung gehalten, wer daran gedacht hatte, daß es Erdhöhlen, Wassergrab und Trommelfeuer gibt und daß von Rechts wegen jetzt jede Stunde mit dem letzten Schlag von tausend unschuldigen Herzen durch die Welt dröhnen müßte, der hatte hoffen können, solange dieser Zustand andaure, wenigstens dem Leo Feld nicht zu begegnen. Diese letzte Assoziation des sonst unentrinnbaren Feldlebens hatte man sich ersparen wollen. Nicht war man darauf gefaßt, daß dieser Feld, dessen einzige Beziehung zur vaterländischen Idee und zum Kriegsgedanken das Opfer seines Namens war und die Verstümmelung zu einem nom de guerre, sich aus einem Hirschfeld gar zu einem Schlachtfeld entpuppen könnte. Man hätte geglaubt, daß eine so unerbittliche Gegenwart, wenn sie schon die Kraft habe, Armeelieferanten aus der Erde zu stampfen, doch wenigstens auch die Energie aufbringen werde, Literaten nicht aufkommen zu lassen und so zu schrecken, daß sie sich aus einem durchsichtigen Pseudonym in das finsterste Inkognito zurückziehen. Man hat das Gegenteil erlebt und die große Zeit war zu klein, die Kriegsgreuel des Wortes zu fassen. Aber auf den Leo Feld war man nicht vorbereitet! Von Blut Tantièmen kriegen — daß solches geschehe, hat eine erbarmungslose Untermenschheit geduldet. Daß sich unter den Auspizien des Sternenhimmels eine Operette des Namens: »Gold gab ich für Eisen« abspielen konnte, diese Tatsache wird den Nachlebenden mehr über den Weltkrieg, den wir gleichzeitig führten, zu denken geben als alle Geschichtsbücher aller Friedjungs, die da kommen werden. Daß an dem Tag, an dem vierzigtausend Söhne von Müttern an elektrisiertem Draht gestorben sind, eben dies im Zwischenakt von der Gerda Walde Smokinghemdbrüsten vorgelesen und eben dafür der Viktor Leon hervorgejubelt wurde, wird, wenn in Äonen noch ein Menschenherz geboren würde, ihm mehr über uns sagen als die Taten selbst, die unser Erfindergeist ermöglicht hatte. Mit dem Abscheu der Ahnung von einem vorweltlichen Brei, aus dem einstens Menschenleiber, Maschinen und Druckwerke nach Bedarf gebildet wurden, als ob sie noch den Schleim und Aussatz an ihren Fingern fühlte, wird die künftige Menschheit an die Betonperiode zurückdenken, in der die gepanzerte Hinfälligkeit Gott zum Narren gehalten hat. Da hoffe ich denn zuversichtlich, daß das Drama des Leo Feld, wenn es einmal den Weltkrieg überlebt hat, auch noch den Anschluß an jene ferne Gelegenheit finden wird, die sich doch irgend ergeben mag, um unsere sittliche und geistige Verlassenschaft zu sichten. Ich persönlich kenne die Dichtung nicht, denn ach die Zeiten sind vorbei, wo ich das Leben vom frischen Quell einer Volkstheaterpremière bezogen und noch nicht mit müdem Blick in der papierenen Nacht gesucht habe. Ich spreche von dieser Angelegenheit wie der Blinde von einer Farbe, die ihn geblendet hat. Aber indem ich weiß, daß es jetzt auch so viele Menschen gibt, die im Auftrag eines für Exportinteressen tätigen Fatums das Augenlicht hingeben mußten und darum nie mehr in der Lage sein werden, zu sehen, was im Deutschen Volkstheater aufgeführt wird, so bescheide ich mich, und wenn ich dann überdies höre, daß es ein Stück ist, dessen Autor von einem Sturmangriff Prozente bekommt, während ein darin auftretender polnischer Jude gratis und aus purem Edelmut Spionage gegen Rußland treibt, so habe ich doch einen gewissen Eindruck und sage mir, daß Blut dicker ist als Schmalz, daß Rußland wissen dürfte, warum es die Juden nicht in die Zivilisation läßt, und daß diese nur selbstlos sind, solange sie Spionage und nicht bereits Literatur treiben. Der »Freie Dienst« von Feld brauchte aber nichts zur Repräsentation vor der Nachwelt als sein Geleitwort, diese feierliche Ansprache, die ein vom Felddienst Freier an den Generalstabschef zu halten so frei war. Solche im Staat bloß als Verbrechen gegen die Kriegsmacht qualifizierbare Demonstration geht nämlich über die Grenzen des blutigen Faschings, den die noch immer nicht gelangweilte Menschheit nun schon durch zwei Spielzeiten tanzt. Es war nicht vorauszusehen, daß ein Armeebefehl des Herrn Leo Feld kundgemacht würde, worin er sich selbst unter jene einreiht, die zwar nicht dem Heere, jedoch dessen unbesiegbarem Opfermut »gefolgt« sind. Aber nun ist er erschienen und in der Theaterrubrik angeschlagen worden. Und in der Tat — das heißt in jener Tat, die die andern tun müssen —: solange das Heer unbesiegbar ist, kann ein Theaterschmierer noch auf den »letzten und versöhnenden Gewinn dieser furchtbaren Tage« hoffen. Die Zuversicht eines solchen Bürgers ist mit Recht unerschütterlich, denn er kann den »opferbereiten Dienst für ein höheres als das eigene Leben« nicht nur empfehlen, sondern auch aufführen lassen. Und sein »bescheidenes Werk will nichts als das allgemeine Gefühl dieser Tage in Worte fassen«. Da aber das allgemeine Gefühl dieser Tage der Wunsch ist, abgewandt allem nun einmal systemisierten Grauen und Leiden und durch eben dieses einen letzten und versöhnenden Schab zu machen, wobei das Friedensrisiko ohnehin ein großes ist und die Aktualität der bezüglichen Waren und Stoffe jeden Tag eine Passivpost sein kann, so bleibt das Volkstheaterrepertoire so ziemlich in Übereinstimmung mit dem Weltgeschehen. Und wie die Sprache noch als Lüge die Wahrheit sagt und der Satz noch als Aussatz die Verwahrlosung der Seele beschreibt, so erschüttert uns wie ein letzter Ausdruck unserer Erdennot das Bekenntnis, welches ein Gemeiner der Zeit vor dem Generalstabschef ablegt: dieser Krieg habe »den Menschen aus einsiedlerischer Beschaulichkeit oder Armut erlöst«, je nachdem. Fürwahr, Worthändler waren Trappisten, ehe er begann, und Börseaner waren Bettler! Aller Orte und Meere, zu Land und Luft stirbt es sich wohl für den Aufschwung jener, die ihr Leben nicht nur gerettet, sondern auch bezahlt haben wollen, Söldner fremden Blutes, die sich in Nachrufen, für welche sie noch honoriert werden, neidlos durch die Anerkennung der »Helden« revanchieren. Denn zu Hause ist das Talent und draußen »das schlichte und lächelnde Heldentum«: so sind die Gaben und Berufe verteilt. Wie nun die, welche im Granatenfeuer gelegen sind, es tatsächlich hinnehmen, daß ihnen einer, der ein dreckiges Saisonstück daraus macht, das schlichte und lächelnde Heldentum attestiert, das weiß ich nicht. Wohl aber wünsche ich: Das Heldentum, dem es zu Gesicht oder Geruch kommt, sollte nicht mehr lächeln. Nicht in eine Lache ausbrechen. Nicht schelten, nicht fluchen. Sondern es sollte, um nicht wahnsinnig zu werden vor Schmerz über diese Hinterbliebenen, heimgekehrt alle Waffen zusammenraffen, die ihm das Ingenium der Zeit beigebracht hat, und den heiligen Krieg erst beginnen! Mit dankerfüllter und staunender Ergriffenheit dieser Bewegung, dieser Erhebung, dieser Vergeltung folgend, will ich ihrem Generalstabschef mein Werk widmen. Oder er selbst sein!
Vgl.: Die Fackel, Nr. 418-422, XVIII. Jahr
Wien, 8. April 1916.