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Mai 1917

Unser weltgeschichtliches Erlebnis

Da nun die Hamletfrage nach Sein oder Nichtsein zur letzten Frage aller Staatsweisheit wurde, könnte man sich darein finden, daß der Übermut der Ämter und die Schmach, die Unwert schweigendem Verdienst erweist, zu jenen täglichen Erfahrungen zählen, aus denen vor dem Einschlafen die tröstliche Erkenntnis gewonnen wird: Krieg ist Krieg. Was wollt ihr von der Menschennatur, die Macht und Maschine geschmeckt hat, anderes erwarten und verlangen? Wenn Krieg Krieg ist, hilft einem Weisen, der noch von früher her zur Melancholie neigt, dennoch die bessere Einsicht: daß die armen Tyrannen, die gemäß dem unerforschlichen Ratschluß ihrer Gottähnlichkeit uns das bißchen Dasein, wenn nicht verkürzt, so doch versperrt haben, am Ende die letzten Sklaven ihrer Laune gewesen sein werden. Was wollt ihr von einem Menschenschlag, der sein durchaus subalternes Machtideal durch Hoffnung auf anderweitige Revolutionen prolongieren möchte? Sie sehen gar nicht, wie kunterbunt ihre Ordnung ist. Im Angesicht sterbender Männer wird ein Wesen, das mit dem Lorgnon zuschaut, für Tapferkeit dekoriert; Finanzgauner, deren Sprache kaum zur Verständigung über die notwendigsten Berufspraktiken reicht, tragen das Kleid vorzeitlicher Ehre; Cafetiers nehmen mit Veteranen den Appell ab; Judenbuben sind die Dichter der Nation, der sie nicht angehören; und in der Plankengasse habe ich zugeschaut, wie ein Straßenkehrer einen Unterstraßenkehrer wegen vorschriftswidrigen Grußes gestellt hat. Ist nicht, was uns rings umgibt, die aufgewärmte Rache von Vorgesetzten, die Untergebene waren? Von Kellnern, die dem Pikkolo heimzahlen, was sie auszustehen hatten? Von einst selbst geschundenen Abrichtern? Deren Lust an dem Maß der Wehrlosigkeit wächst und in der Tierschinderei als im reinsten Ausgleich verhaltener Gefühle die eigentliche Erlösung findet? Dem letzten Knecht ist noch ein Untertan das Pferd. Nun denke man sich diese Sorten eines nach unten ausstoßenden Menschentums mit erhöhter Machtbefugnis und dem Dekorum, das diese bezeichnet, ausgestattet — sieht dann die Welt nicht plötzlich so aus, als ob die außenfeindliche Notwendigkeit nur eine Verabredung wäre, um das tiefere Bedürfnis des Nächstenhasses endlich auf eine inappellable Art zu befriedigen? Du lebst in einer Gegend, in der dein Portier Hausmeister ist und Wächter deines Leumunds. Wähnst du, daß diese Gegend in Zeiten, da sie sich gegen einen äußern Feind schützen zu müssen, also vitale Handelsinteressen durch Verwendung von Chlorgas klarstellen zu sollen meint, dir einen bessern Schutz deiner besseren Güter gewährleisten wird? Wird nicht im Gegenteil Menschenwürde jenes rarste, sofort vom Staat beschlagnahmte Lebensmittel sein, dessen Mangel erst ein Durchhalten durch ein so verwandeltes Leben ermöglicht? Da dich aber die Einführung von sieben wahrheitsfreien Tagen in der Woche um den Verstand bringen könnte, rette den Glauben an eine das Weltgeschehn lenkende Logik so: Angesichts der nicht mehr zu ignorierenden Tatsache, daß in einem Krieg der Maschinen die Menschen besiegt werden und alle an diesem Ausgang beteiligten Teile gleich schlechte Geschäfte machen, ohne daß sich der geringste Vorteil für jenen, der besser schießen, oder jenen, der länger warten kann, ergibt, bleibt nichts übrig als die Überzeugung: daß der Kampf um ideale Güter geht! Denn wenn es schon heute in Fachkreisen ausgemacht ist, daß das künftige Europa, wie immer es sich gestalten möge, von Japan mit Zündhölzchen versorgt werden wird, so ist es klar, daß das jetzige weit eher für Ideale als für Zündhölzchen gekämpft hat. Bei so falscher Rechnung muß die Hoffnung gut sein. Enttäuschung ist nur der Vorspann wahrer Erfüllung. Ist der Handel schlecht, nimm den Verdruß in Kauf, sonst stehst du deinem Glück im Weg. Wir haben einen ungünstigen Planeten gezogen, aber wir brauchen nur weiter zu lesen und alles geht noch gut aus. Um nicht rasend zu werden, sage dir immer wieder, daß das Sterben einen dir vorläufig verborgenen Sinn gehabt hat, weil doch so viele Menschen nicht ausschließlich deshalb gestorben sein können, um ein Hinterland von Schreibern und Wucherern zurückzulassen; und daß jene, die nicht sterben mußten, weil sie schreiben konnten, und jene, die wuchern durften, weil sie nicht sterben mußten, die Instrumente einer kulturellen Mission waren, deren Bedeutung wir darum allein nicht schlecht machen sollen, weil sie uns vorläufig unbekannt ist. Sei weise und bedenke, daß es der Staat nicht sein kann, denn Weisheit würde ihn entwaffnen. Begreife, daß Krieg jene Probe auf den Fortschritt ist, durch die das Instrument frei wird und der Knecht sich entschädigt. Wenn Krieg ist und Krieg Krieg ist, so ist nicht der Feind allein, sondern jedermann dein Feind. Shakespeare hat zwar »Maß für Maß« geschrieben, aber er war nie auf dem Korridor des Wiener Landesgerichts, sonst hätte er, unweise genug, gestaunt, wie sein guter Schließer sich im Krieg verändert hat, wie er nur deshalb einen Bernardino anbrüllt, weil Krieg ist und in solchen Zeiten vor dem Tod auch noch etwas Grobheit den Leuten nicht schaden kann, die sonst leicht gar zu übermütig werden. Ich habe solch einer Szene beigewohnt und mich, unweise genug, über die vorbeigehenden Juristen gewundert, die doch auch irgend einmal von Müttern geboren wurden, weil die Abtreibung der Leibesfrucht strafgesetzlich verpönt ist, und die, wo unsereins zagen Sinnes zwei Fragezeichen setzt, daraus einen einzigen Paragraphen schlingen können. Aber Shakespeare, der ihn gelöst hat, meint nur die Richter, nicht die Krieger, wenn er eine wilde Anklägerin rufen läßt: »Könnten die Großen donnern wie Jupiter, sie machten taub den Gott!« Da es heutzutag gelungen ist, so muß wohl eine Fähigkeit des Donnerns in die Welt gekommen sein, die in keiner früheren Kulturepoche, wo’s eben noch keine Donnermaschine und keinen Jupiterersatz gegeben hat, denkbar war. Groß und Klein verfügt über die nötigen Behelfe, deren praktikable Art auch die Kleinen groß gemacht hat. Was Shakespeare des weiteren sagt, macht jede Stunde, jeder Fußbreit unseres täglichen Weges zum Erlebnis: »... doch der Mensch, der stolze Mensch, in kleine, kurze Majestät gekleidet, vergessend, was am mind’sten zweifelhaft, sein gläsern Element — wie zorn’ge Affen, spielt solchen Wahnsinn gaukelnd vor dem Himmel, daß Engel weinen, die, gelaunt wie wir, sich alle sterblich lachen würden.« Nun, ich höre die Engel weinen. Lachen tu ich an ihrer Statt. Zwischendurch schreibe und spreche ich. Und was ich schreibe und spreche, das ist doch schon um ein weniges lauter und lauterer, als was so gemeinhin die Leute schreiben und sprechen. Aber was ich mir denke, was ich mir denke — wenn Gottes Zeugenschaft hiefür zur Stelle wär’, dann fiele wohl die Entscheidung zwischen mir und der Macht! Während wir heute noch so miteinander leben können. Aber es ist kein beneidenswerter Zustand, vor eben den Dingen, die zu beweinen sind, über das ganze Gesicht lachen zu müssen und ohne auch nur sagen zu können, warum man in der Laune ist. Ich war immer für die Herrschaft über den niedrigen Menschen eingenommen, und nun drängt es mich mit aller Gewalt, die dieses Schrecknis über die Seele vermag, zu sagen: daß ich für die Herrschaft des niedrigen Menschen nicht eingenommen bin! Daß ich ins Angesicht einer Tyrannei der Tölpel Revolution machen wollte. Und was, wahrlich, ist alles Ekrasit eines Weltkriegs gegen den Sprengstoff, den jede Stunde nach mir wirft, drängend zu sagen, was nicht mehr zu tragen ist! Denn der Eindruck, dem ich nicht entrinnen kann und gäbs hundertfache Erlaubnis dem Gebiet zu entrinnen, ist nicht das Grauen, sondern die Gleichzeitigkeit einer unberührten Daseinsform, die durch einen mechanischen Eingriff von jenem sich entbunden hat. Bluttaten, die zu verantworten, einst den Täter zum Herrscher gemacht hat, wird nun jeder bessere Diurnist hinter sich haben, denn er hatte sie hinter sich, da er sie beging. Die Menschheit drückt auf den Knopf, wo Tod steht, und weil dies Können ihr die Vorstellung geraubt hat, wie der Tod schmeckt, drückt sie um so beherzter. Ich werde nie für der mit einem gutmütigen, übelriechenden, triefäugigen Buchhalter sprechen können, weil er plötzlich zu erzählen anfinge, was er bei Belgrad geleistet hat. Jeder, der’s getan und nicht erlebt hat, weil er es nur in der Minute erlebt hätte, da er’s an sich selbst erlebte, aber dann nicht mehr erzählen könnte, trägt das Ungeheure als fetten Titel mit sich fort und nicht als Alpdruck. Letztes Einssein im Chaos: Blut und Druckerschwärze über dem Kopf der Menschheit; Werke, an denen er nicht Teil hat, wenn er sie verrichtet! Was von keinem Willen zu verantworten wäre, geschieht jenseits aller Verantwortlichkeit. Für das, was wir können, können wir nicht mehr: so hat Technik mit einem Handgriff die Seele bewältigt. Was erleben wir? Die verdient haben, Zeitgenossen des Menschenmords zu sein, weil wir tatlose Zeugen des Tiermords und des Kindermordes waren! Geschähe im elenden Winkelleben unserer Geistigkeit ein Millionstel von dem, woran sie tätig war, es wäre der heiß ersehnte Untergang zu Gunsten jener Seele, der die Fibelbetrüger den Aufschwung eingeredet haben. Nicht daß solches Volk von Kinobesuchern, Zeitungslesern und Maulaffen der Weltgeschichte seinen Suppentopf auf dem Herd fremder Revolutionen kochen will; aber daß es seinen Machtwahn durch fremden Umsturz fortfretten möchte, ist der Humor davon. Unser verlorenes Paradies war ein Irrgarten der Macht, selbst die Schlange war eine Phrase, und es ist der Fluch aller Kreatur, die kriecht und glänzt, sich unversehens in den Schwanz zu beißen. Mag’s anderswo, wenn fremder Hunger uns denn sättigt, aus Brotmangel stürmisch werden. Die bessere Revolution wäre unser Teil, wenn wir noch so viel Geistesgegenwart hätten, zu bemerken, was in unsern Gehirnen vorgeht. Aber die effektivste Blockade ist die einer Welt, die durch Taten ihre Vorstellung ausgehungert hat!

Vgl.: Die Fackel, Nr. 457-461, XIX. Jahr
Wien, 10. Mai 1917.