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März 1916

’s gibt nur an Durchhalter!

Zu den grauslichsten Begleiterscheinungen des Durchhaltens, als wär’s kein Leiden, sondern eine Passion, gehört dessen tägliche Feststellung, Belobigung und behagliche Beschreibung. Wie der Wiener schon in Friedenszeiten davon durchdrungen war, daß er ein Wiener ist, sich das täglich zum Frühstück und zur Jause nicht nur selbst ins Ohr sagte, sondern es auch zweimal in der Zeitung zu lesen bekam, und in einer Art, daß wenn ihm erzählt werden sollte, viele Leute seien auf dem Stephansplatz herumgestanden, ihm statt dessen gesagt wurde, es seien viele Wiener gewesen — so wird in der Zeit der schweren Not keinem das Durchhalten so leicht gemacht wie dem Wiener, denn keiner trifft es so leicht wie der Wiener, weil er eben vor allem ein Wiener ist und wiewohl der Wiener nicht nur Bedürfnisse hat wie ein anderer, sondern auch speziell als Wiener einen speziellen Gusto auf Spezialitäten, diese Triebe doch spielend zu unterdrücken vermag, indem er eben ein Wiener ist und deshalb also natürlich auch zu seinem Kaffee, den er nicht bekommt, Hab’ die Ehre sagt und wenn er schon nicht mehr seine Kaisersemmel hat, so doch noch seinen Humor hat, mit dem er sich jederzeit nicht nur über die Teuerung, sondern auch über den Mangel leger hinwegsetzen kann und mit dem er erforderlichenfalls sogar ein Zigarettl, das er nicht kriegt, sich anzuzünden vermag, so fesch wie es außer ihm auf der weiten Erde eben nur er kann, der Wiener.

Wie die Beziehung des Wieners zur Natur sich in einer fortwährenden Berufung auf die »Anlagen« ausspricht, so ist die Beziehung des Wieners zum Leben eine unerschöpfliche Auseinandersetzung mit den Viktualien, und es muß einen tiefen Grund haben, daß jene häufige Redensart, durch die der Wiener dem Ernst einer Situation gerecht werden will, den keine Illusion übriglassenden Wortlaut hat: »Da gibts keine Würschteln!« Anstatt sich nun mit dieser Tatsache im gegebenen Zeitpunkt abzufinden, wird der Wiener nicht müde zu versichern, wie vortrefflich er die Würschteln zu entbehren verstehe und daß es direkt ein Hochgenuß sei, auf sie zu verzichten — eine Wiener Spezialität, ein Gustostückl, vom Schicksal eigens für den Wiener reserviert. Nicht nur davon überzeugt, daß ihn die Schöpfung als ihren eigentlichen Zweck beabsichtigt habe und daß der Stephansturm annähernd Sitz und Mittelpunkt der Verwaltung des Kosmos sei, ist es ihm gelungen, den berechtigten Glauben, daß es nur eine Kaiserstadt, nur ein Wien gebe — einen ähnlichen Hinweis hat bekanntlich unlängst der englische Zensor nach Deutschland mit einem »Gott sei Dank« durchgehen lassen —, daß es ferner nur eine Fürschtin gebe, die Metternich Paulin, in einer Art sangbar zu machen, daß es für ihn auf der Welt nur a Kaiserstadt, nur a Wien und nur a Fürschtin zu geben scheint, und durch den gerechten Zufall eines schlechtgebauten Couplets hat er sich des Unvermögens schuldig bekannt: nichts sonst zu sehen, wo immer er hinkommen mag, als eben diese ihm vertrauten Erscheinungen. Wien in jeder Stadt suchend, war er ungehalten, wenn er es nicht fand, nicht wiedererkannte, fuhr nach Paris, um »auf ein Rindfleisch« zu Spieß ins Restaurant Viennois zu gehen, verglich es mit dem von Meißl & Schadn, und kehrte an Selbstbewußtsein bereichert zurück. Wie der Deutsche, ohne auf besondere Wünsche des Berliners dabei Rücksicht zu nehmen, sich in jeder Lebenslage einen Deutschen nennt und auch vor Leuten, die nie daran gezweifelt, ja es auf den ersten Blick selbst bemerkt haben, so muß der Wiener nicht erst vor einem Spiegel stehen, um sich als Wiener zu erkennen. Man mag aber zugeben, daß der Deutsche in der Verwendung der Methode, sich aus sich selbst zu definieren, sparsam ist im Vergleich mit dem verschwenderischen Wiener, der seit einigen Jahrzehnten gewohnt ist, sein Gemüt sowohl wie sein Gemüse, seinen Schick sowohl wie seinen Schan als spezifisch wienerisch zu bezeichnen, und sehr wohl imstande wäre, bei der Ausfertigung eines Reisepasses, der ihn heute zwar nicht in Konflikt mit der Welt bringen kann, darauf zu dringen, daß sein Geburtsort zugleich als besonderes Kennzeichen notiert werde. Denn es gibt wohl kaum einen Wiener, der nicht felsenfest darauf bauen würde, daß er ein apartes Blut mitbekommen habe. Das wäre freilich noch keine Überhebung, sondern nur eine ethnologische Behauptung, die sich am Ende sogar beweisen ließe. Das Bedenkliche aber ist, daß er von sich überzeugt ist, daß überhaupt nur er ein Blut bekommen habe und kein anderer, denn er wäre wohl peinlich überrascht, wenn er eines Tages hörte, in den russischen Zeitungen sei etwas von einem feschen Petersburger Blut gestanden. Und mit ihm wäre die ganze Welt erstaunt, denn es ist Tatsache, daß so etwas noch nie vorgekommen ist. Es kommt eben nur in Wien vor, wo Leute, die daselbst schon 50 Jahre und mehr ansässig sind und längst nicht mehr ihre Zuständigkeit beweisen müssen, in der Zeitung plötzlich als »Wiener« agnosziert werden, während man doch noch nie gelesen hat, daß zur Begrüßung des Königs von Schweden sich ein Spalier von zahllosen Stockholmern gebildet habe. Höchstens die Schweizer noch haben diese Ehrlichkeit, ohne Umschweife sich selbst als »Schweizer Bürger« anzusprechen, wobei aber mehr die Anständigkeit, sich an einen einmal geleisteten Eid öfter zu erinnern, mitspielt, als die Selbstgefälligkeit einer unverantwortlichen Gegenwart. Auch sind die Schweizer die unvergleichlich besseren Hoteliers, die nicht so ungeschickt wären, Ausländer durch eine lästige Hervorhebung der eigenen Vorzüge vor den Kopf zu stoßen, während die Wiener den Fremdenverkehr, zu dem sie einen unglücklichen Hang haben, um jeden Preis heben wollen, ohne zugleich ihre Einrichtungen zu heben, deren Attraktion sie gerade darin erblicken, daß sie so wie sie sind geschätzt werden müssen, weil sie eben spezifisch wienerisch sind.

Dieses Monopol des Wieners auf Einzigartigkeit in allen Lebenslagen, und nun sogar im Verzicht auf die Lebensgüter, zu verteidigen und tagtäglich zu stützen, dazu hat vorzüglich die israelitische Presse einen Tonfall, dessen Überredungskraft es nicht nur gelungen ist, einen Menschenschlag, der einst an der noblen und weltsinnigen Lebensführung des Vormärz wie kein anderer teilnahm, kulturell einzukreisen, sondern ihm auch unter täglicher Entschädigung durch eine ekelhafte Liebedienerei einzureden, das Gegenteil sei der Fall und der Wiener habe vor dem allgemeinen Fortschritt, nämlich dem, der mit der Eisenbahn die Menschen weiterbringt, noch seine besondere »Note« voraus, weil er eben trotz der Fähigkeit, sich der Eisenbahn zu bedienen, doch mit Leib und Seele ein Wiener geblieben sei. Wie er jetzt nur auf die Seele angewiesen ist, um diese Eigenschaft zu betätigen, wie er ohne Fett selbstlos geworden ist, das bekommt er Tag für Tag bestätigt und gepriesen, und der Wiener fühlt sich, gebildet wie er ist, besonders geschmeichelt, wenn ihm sein Entbehrungsschmock nun erzählt, daß er, der Wiener, über alles Erwarten, nein mehr: wie man nicht anders von ihm erwarten konnte, und akkurat wie es von ihm zu erwarten war, die Opfer, die man von ihm eigentlich nicht verlangen dürfte, dennoch bringt und zwar deshalb, weil sie von ihm »geheischt« werden.

Es hieße Eulen nach Athen tragen, wollte man erst ausdrücklich betonen, daß die Schadenfreude unserer Gegner sich der bestimmten Erwartung hingab, der Aushungerungs- und Erschöpfungskrieg werde den als leichtlebig und genußsüchtig verschrienen Wiener als das erste Opfer zur Strecke liefern. Diese Hoffnung ist, wie wir alle wissen, gründlich vereitelt worden. Wien hat sich mit heiterer Unbefangenheit in alle Entbehrungen zu schicken gewußt, die der Krieg mit sich brachte. Nach einigen leicht begreiflichen Unsicherheiten schwenkte die ganze Bevölkerung mit einer Sicherheit und Promptheit, die auch unseren preußischen Bundesbrüdern Ehre gemacht hätte, in das System der Reglements und Verordnungen ein, die den Verbrauch der notwendigen Nahrungsmittel regelten. Die Brotkarte ist ebenso eine Selbstverständlichkeit geworden, wie die fleischlosen Tage. Ohne jede Sentimentalität gedenken wir des Wiener Gebäcks.

Freilich könnte die gute Laune noch gehoben werden, wenn man Eulen, die vielleicht ganz schmackhaft sind, statt immer nur nach Athen, wo man an einem embarras de richesse zugrunde geht, zur Abwechslung einmal nach Wien tragen wollte, und die Frage, ob die preußischen Bundesbrüder, auf die beim Einschwenken geschaut wurde, es nicht doch noch besser getroffen haben, da sie’s ja gleichzeitig üben mußten, bleibe unentschieden. Aber es läßt sich nicht leugnen, die Zeiten, wo einem das Herz aufging, wenn es einem Guglhupf geschah, sind vorbei, und auch in Bezug auf das Rindfleisch ist der Wiener aus einem Epikuräer ein Stoiker geworden. Und ich bin Zyniker genug, es zu beweisen:

Wir haben die liebevoll gehätschelten Idiosynkrasien des Wiener Geschmacks abgelegt, uns zum Schöpsernen und sogar zum Seefisch bekehrt. Fallen sehen wir Zweig auf Zweig! Nach dem mit verschwenderischer Auswahl auf den Tisch gestellten Gebäckkörbchen verschwanden die Kaisersemmeln, das Salzstangel und das mürbe Gebäck .... Wir haben die Maisperiode mit klassischem Stoizismus übertaucht und fühlen uns magenkräftig genug, eine neue Maiszeit mit der Hoffnung auf Wandel zu überstehen.

Man beachte die nur scheinbar scherzhafte, im Innern aber — oder muß man jetzt »Innerei« sagen — ganz ernsthafte Verwendung der religiös-philosophischen Sphäre. Der Mangel an Schweinernem ist Zuwag an Seelischem. Es gibt noch andere kriegführende Völker; aber keinem trägt das brave Durchhalten eine so gute Sittennote ein wie dem Wiener, dessen Reife nicht nur in der Entsagung, sondern auch in der heitern Würde, mit der sie sich vollzieht und die beinahe an die Seelengröße des in den Tod gehenden Sokrates hinanreicht, von allen Historikern bemerkt wird. »Ohne Deklamation, ohne Ruhmredigkeiten« haben die Wiener, nach der Versicherung des Herrn Saiten, auf den Jausenkaffee verzichtet. »Bitte« — könnte ein Wiener einem Londoner einmal vorhalten — »haben Sie damals kein Weißgebäck gehabt? No alstern, nacher reden S’ nix!« Heute aber beißt er die Zähne zusammen und schweigt. Denn so dulden kann nur er:

Nicht einmal das Wort Patriotismus wird um dieser Dinge willen bemüht. Man nimmt sie einfach hin, richtet sich danach ein und spricht nicht darüber.

Nur täglich bißl in den Zeitungen. Eine »Haltung, die in ihrer gleichmäßigen Ruhe wie in ihrer Würde bewundernswert und, nebenbei, ergreifend ist«, rühmt jener Salten dem Wiener nach.

Natürlich redet man vom Krieg, wo zwei Menschen beisammen sind, allein Gespräche über Mehl, Butter, Milch und ähnliche Dringlichkeiten gibt es fast gar nicht. Wollte jemand in Gesellschaft oder sonstwo feierlich erklären: wir müssen durchhalten! ... er würde dem gleichen kühlen Schweigen begegnen, wie ein effekthaschender Schauspieler. Denn das Durchhalten ist selbstverständlich, es wird einfach geschafft. Aber man liebt es nicht, daß darüber mit Pathos geredet wird ....

Vielleicht unter jenen, die Hunger haben. Aber nicht unter den Armeelieferanten und Salten-Lesern, also in der Gesellschaft.

Eine Wiener Eigenschaft hat sich übrigens auch während des Krieges nicht verändert. Sie stellen ihr Licht noch immer geflissentlich hinter den Scheffel und nennen das: Diskretion.

Sie nennen es Diskretion und machen draus ein Feuilleton. Der Wiener tut seine Pflicht, aber er sagt nicht, daß er seine Pflicht tut, sondern er sagt, daß er nicht sagt, daß er seine Pflicht tut — wer sagt, daß er nicht seine Pflicht tut? »Mit humorvollem Lächeln« verstehe man hier, so heißt es, Lasten zu tragen, man mache aber »kein Reklamegeschrei«. Nun, wenn einer in alle Welt hinausruft, daß er ein großer Schweiger sei, so hat die Welt allen Grund, es zu bezweifeln. Und vielleicht auch, ob er wirklich tue, wovon er so lärmend zu schweigen versteht. Aber die Welt täte dem Wiener Unrecht. Er duldet nicht nur, er duldet nicht nur still, sondern so dulden und so still dulden, mit einem Wort so schön dulden, das kann nur er. Schauen wir uns um in unserm Weltblatt weit und breit, ob’s einer dem Wiener nachmacht! Wenn in Petersburg die Musik abgeschafft und die Speisekarte geändert wird, so ist es, ganz abgesehen von solchen Symptomen des Zerfalls, ein »Tändeln mit dem Krieg« und beileibe »kein Zeichen innerer Teilnahme, zu der die Genußmenschen in Petersburg gar nicht fähig sind«. Wie anders der Wiener. In dem Bewußtsein, daß er ein Wiener ist und daß ihm mit Rücksicht auf diesen Umstand nichts Ärgeres geschehen kann, benimmt er sich auch danach, hält er die paar selbstlosen Tage in der Woche und schweigt. Gibts keine Würschteln, so hat er doch noch seine Extrawurst. Es ist schwer genug ein Licht zu haben, wenn Not an Kerzen ist, und es noch unter den Scheffel zu stellen, in dem kein Getreide ist. Aber man tut’s, man lebt weiter, man schafft’s, und schafft man’s nicht, so wird’s einem geschafft. So ist der Wiener. Und weil es seine Haupteigenschaft ist, ein Wiener zu sein, so kann er sie nun bewähren wie nie zuvor, so daß er auch jetzt noch etwas vor der Welt voraus hat, nämlich: ein Durchunddurchhalter zu sein.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 418-422, XVIII. Jahr
Wien, 8. April 1916.