März 1917
Goethes Volk
Berlin, 24. Februar. Ballin gewährte dem Mitarbeiter des »A Vilag« in Hamburg eine Unterredung, in der er erklärte, daß die Admiralität mit den Ergebnissen des unbedingt notwendig gewesenen U-Boot-Krieges außerordentlich zufrieden sei. Das Ziel des verschärften U-Boot- Krieges ist nicht das, möglichst viel Schiffe zu versenken, sondern den Verkehr von und nach England abzuschneiden, welche Absicht als vollkommen erreicht bezeichnet werden kann. Deutschland selbst schneide es bei jedem einzelnen Schiff tief ins Herz, nicht nur bei einem der neutralen, sondern auch bei feindlichen ....
Wess das Herz voll ist, dess gehet das Gemüt über:
Deutsche Art
Es zetern unsre Feinde
Ob U-Boots-Barbarei,
Die edle Hetzgemeinde
Brüllt Haß und schimpft dabei.
Doch hält ihr Wutgeheule
Nicht vor der Wahrheit stand:
Wir sind im Gegenteile
Nur leider zu galant.
Wer, dem ein Schiff zur Beute
Verfiel auf stürm’schem Meer,
Verteilt an dessen Leute
Zigarren und Likör?
Wer sieht die Schiffspapiere
Mit solcher Rücksicht ein?
Lotst Feindes-Offiziere
Ins Rettungsboot hinein?
Nur, wenn der Kapitän sich —
Wie’s jüngst von Zwei’n geschah —
Frech wehrte, griff man den sich
Selbst rücksichtsvoll noch da:
Denn da die Zwei, als Briten
Sich ödeten und wie,
Fing man noch einen Dritten —
Gibt eine Whistpartie!
Wer sorgt für solche Gäste
So, wie’s bei uns geschieht?! —
Gesprengt, versenkt wird feste —
Doch immer — mit Gemüt!
Georg Bötticher.
Mit diesem Gedicht hat die liebe »Jugend« das Jahr 1917 eröffnet. Nun mag ja die Bestie der Gegenwart, wie sie gemütlich zur todbringenden Maschine greift, auch zum Vers greifen, jene zu glorifizieren. Was in dieser entgeistigtesten Zeit Deutschlands, von den Hauptmann und Dehmel hinunter bis zum letzten Münchner Ulkbruder zusammengeschmiert wurde — und wär’s noch toller und mehr gewesen und wären auch täglich eine Million Tonnen des Geistes versenkt worden — es würde doch vor der letzten weltgeschichtlichen Instanz als unerheblich abgewiesen werden, wenn es sich zu ungunsten der deutschen Sprache gegen das Dasein der Luther, Gryphius, Goethe, Klopstock, Claudius, Hölty, Jean Paul, Schopenhauer, Bismarck behaupten wollte. Ja, wenn zugunsten Deutschlands nichts weiter geltend gemacht würde, als daß auf seinem Boden das Gedicht »Über allen Gipfeln ist Ruh’« gewachsen ist, so würde ein Prestige, auf das es schließlich mehr ankommt als auf jene zeitgebundenen Vorurteile, zu deren Befestigung Kriege geführt werden, heil aus der Affäre hervorgehen. Was die Lage kritischer machen könnte, wäre eine einzige vom Ankläger enthüllte Tatsache. Daß nämlich dieses Zeitalter, das als verstunkene Epoche preiszugeben und glatt aus der Entwicklung zu streichen wäre, um die deutsche Sprache wieder zu einer gottgefälligen zu machen, sich nicht damit begnügt hat, unter der Einwirkung einer todbringenden Technik literarisch produktiv zu sein, sondern sich an den Heiligtümern seiner verblichenen Kultur vergriffen hat, um mit der Parodie ihrer Weihe den Triumph der Unmenschlichkeit zu begrinsen. In welcher Zone einer Menschheit, die sich jetzt überall mit dem Mund gegen ein Barbarentum sträubt, dessen die Hand sich beschuldigt, wäre ein Satanismus möglich, der das heiligste Gedicht der Nation, ein Reichskleinod, dessen sechs erhabene Zeilen vor jedem Windhauch der Lebensgemeinheit bewahrt werden müßten, wie folgt der Kanaille preisgibt:
(»Unter allen Wassern ...«) Im »Frankfurter Generalanzeiger« lesen wir:
FREI NACH GOETHE!
Ein englischer Kapitän an den Kollegen.
Unter allen Wassern ist — »U«
Von Englands Flotte spürest du
Kaum einen Rauch ...
Mein Schiff versank, daß es knallte,
Warte nur, balde
R-U-hst du auch!
Wo in aller Welt ließe sich so wenig Ehrfurcht aufbringen, den letzten, tiefsten Atemzug des größten Dichters zu diesem entsetzlichen Rasseln umzuhöhnen? Die Tat, die es parodistisch verklären soll, ist eine Wohltat, verglichen mit der Übeltat dieser Anwendung, und hundert mit der Uhr in der Hand versenkte Schiffe wiegen eine Heiterkeit nicht auf, die mit Goethe in der Hand dem Schauspiel zusieht. Die Ruchlosigkeit des Einfalls, der den Sieg jener Richtung bedeutet, die mit dem Abdruck von Klassikerzitaten auf Klosettpapier eingesetzt hat, ist über alles erhaben, was uns das geistige Hinterland dieses Krieges an Entmenschung vorgeführt hat. Und wie um den Rohstoff einer Gesinnung, die solcher Tat fähig war, nur ja handgreiflich zu machen, ergänzt das Wiener Saumagenblatt, das Schere an Schere die Verpflanzung des Generalanzeigergeistes in unsere Region besorgt, die Beschwörung Goethes noch durch diese Anekdote:
Zwischen zwei anderen englischen Kapitänen spielte sich folgendes Zwiegespräch durch Flaggensignal ab: Der eine fragt: »Wohin gehst du?« — »Zu Grunde«, antwortete der andere kurz und bündig!
Am nächsten Tag aber wird — vermutlich aus Sympathie mit dem Namen des Admirals Scheer — eine Nachricht weitergegeben, von der jeder deutsche Patriot, der die sentimentalere Auffassung des Herrn Ballin mitmacht, überzeugt sein muß, daß sie eine Lüge ist:
(Admiral Scheer zum U-Boot-Lied der »englischen« Kapitäne.)
Das »Lied des englischen Kapitäns«, das wir gestern in unserem Blatte veröffentlichten — »Unter allen Wassern ist U« —, hat auch den Beifall des Siegers in der Seeschlacht am Skagerrak, des Admirals Scheer, gefunden. Unterm 18. Februar richtete er an die Schriftleitung der »Dresdner Nachrichten« folgende Zeilen: »Über das ›Lied des englischen Kapitäns‹ aus den ›Dresdner Nachrichten‹ habe ich mich herzlich gefreut. Hoffentlich behält der gute Mann recht. Scheer, Admiral, Chef der Hochseestreitkräfte.«
Nun aber geschieht ein Übriges, das den Literarhistorikern zu schaffen machen wird. »Unter allen Wassern« taucht in allen Blättern auf und wohl in der Absicht, einen authentischen Text festzustellen und zugleich den Namen des Dichters, der Deutschlands nationale Enttäuschungen an Goethe wettgemacht hat, der Vergessenheit zu entreißen, veröffentlicht das Berliner Tageblatt, in der Gaunersprache des neuzeitlichen Verkehrs auch B.T. genannt, die folgende Fassung:
LIED DES ENGLISCHEN KAPITÄNS.
(Frei nach Goethe)
Unter allen Wassern ist — »U«!
Von Englands Flotte spürest du
Kaum einen Hauch ...
Mein Schiff ward versenkt, daß es knallte —
Warte nur, balde
Versinkt deins auch!
Ludwig Riecker (München).
Nehmen wir an, daß er der Urheber ist und dieses sein Wort, an dem man nicht drehn noch deuteln soll. Ehe ich es las, habe ich eine andere Mitteilung des B.T. für den Rekord jener findigen Entwicklung gehalten, die wie die Kunst in den Dienst des Kaufmanns, alle wehrlose Größe in den Dienst der Niedrigkeit gestellt hat:
ELEFANTEN IM DIENSTE DES »BERLINER TAGEBLATTS«.
Um die Schwierigkeiten zu mindern, die sich gegenwärtig bei der Heranschaffung der großen, für die Herstellung des »Berliner Tageblatts« nötigen Papiermassen ergeben, haben wir mit Herrn Hagenbeck ein Abkommen getroffen, wonach er uns vier seiner Elefanten mit den dazugehörigen indischen Führern zur Verfügung stellt. Heute vormittag haben die Elefanten zum erstenmal ihren Dienst brav und fleißig verrichtet. Sie brachten mehrere mit Papierrollen hoch bepackte Wagen vom Anhalter Bahnhof zu unserer Druckerei. Drei Elefanten waren mit starken Riemen als Zugtiere eingespannt, der vierte Elefant betätigte sich, indem er mit seiner breiten Stirn den Wagen schob. Natürlich erregte diese neue, oder wenigstens für Europa neue Beförderungsart in den Straßen sehr viel Aufsehen und Interesse.
Welch ein Schauspiel! Für Europa neu; in Indien bedienen sie längst die Presse. Welch ein Aufzug! Anstatt den Dichter des U-Boot-Liedes mit dem Rüssel emporzuheben oder doch wenigstens so stark zu nießen, daß er sich unter allen Wassern vorkommt, anstatt die Papiermassen so zu zerstampfen, daß sie unbrauchbar werden, oder doch wenigstens so laut zu brüllen, daß die jüdischen Führer erschrocken fragen: Nanu, was is denn los? — tragen diese geduldigen Riesen, ihrer heiligen Herkunft vergessend, dem Mosse die Betriebsmittel ins Haus. Und einer betätigt sich gar als Schieber! Urwälder werden kahl geschlagen, damit der Geist der Menschheit zu Papier werde, und die obdachlosen Elefanten führen es ihr zu. Bei Goethe! Es ist der Augenblick, aus einer Parodie wieder ein großes Gedicht des Abschieds zu machen.
Vgl.: Die Fackel, Nr. 445-453, XVIII. Jahr
Wien, 18. Januar 1917.