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Anfang Februar 1915

Der Ernst der Zeit und die Satire der Vorzeit1

Als dieses umfangreiche Ereignis über die Menschheit hereinbrach und es allgemein hieß, daß die Maschine von einer Seele bedient werde und letzten Endes auch der Seele dienen werde, da war mein Scherflein der Zweifel, meine Bereitschaft das Schweigen und mein Mut, diesem Schweigen Ausdruck zu geben, damit man wisse, wie es gemeint sei. Was sich in mir scheinbar einem Zwang der Zensur entzog, war in Wahrheit das Bewußtsein, daß unter allen mißgeborenen Tatsachen eine einzige das Recht hat, ihre Negierung auszuschließen: der Krieg, solange es ihn gibt. Es war das Gefühl, daß es selbst unerlaubt wäre, einer Gesellschaft, die den Krieg mehr als eine Abwechslung denn als eine Umwälzung erlebt, einer sozialen Spielart, die das Unglück als Konjunktur schätzt und das Heroentum als die Basis für Armeelieferungen annehmbar findet — daß es unerlaubt wäre, einer solchen Zeit- und Ortsgenossenschaft anders als mit dem stillen Wunsche nach einem Erdbeben nahezutreten. Und noch so weit ließ ich mich in der Selbstbeherrschung hinreißen, zu schweigen vor dem Sprachgesindel, dem der Anblick unnennbaren Grauens nicht die Zunge gelähmt, sondern flott gemacht hat; stumm zu sein vor der verächtlichsten Brut, die sich je in ein Hinterland verkrochen hat, den Dichtern und Denkern und aller wortbereiten Unzucht, die den Morgen und den Abend schändet und von der ich im Innersten überzeugt bin, daß ohne ihr Dasein, ohne ihre grausamste antikulturelle Wirkung, neben der keine Geistesmacht der Zeiten standhielt, dieser Krieg der berauschten Phantasiearmut nicht entbrannt und nicht ins Überunmenschliche entartet wäre. Denn welches Unmaß von Greueln würde an diese Barbarei der Bildung hinanreichen und wäre durch sie nicht bedingt?

Mein strategischer Rückzug aus der Position der öffentlichen Meinung ließ sich optimistisch zurechtlegen als die Wartezeit eines, der zeitlebens verurteilt war, in der Hölle Gott zu vermissen, und dessen vielverkannter Sehnsucht vielleicht nun Erfüllung winke. Als die Atempause einer satirischen Qual, die sich vom Weltuntergang Erlösung erhofft hat und nun immerhin einen passablen Weltkrieg erlebt. Nun, glaubten manche, würde doch dem erdensicheren Verstand, dem meertiefen Behagen und der himmelhohen Moral, denen kein Messina, keine Titanic und kein chinesischer Lustmord etwas anhaben konnten, der Verstand, der Humor und der Hochmut vergehen! Es hat ja nie an Optimisten gefehlt, die meine Weltverneinung als eine Kritik reparabler Zustände auffassen wollten, und in einer Schrift über mich, die 1913 erschienen ist, findet sich die Stelle:

Wir wollen Gottes Ratschluß auch in Gedanken nicht vorgreifen; aber vielleicht tut, nach diesem Krieg, den Einer gegen die ganze Welt geführt hat, noch der Weltkrieg selber not. Fast scheint es, wenn es auch schauerlich ist, solche Not kommen zu sehen, als ob der Geist der Nächstenliebe darnach rufe: denn wohin jetzt in aller Welt mit allen diesen Intellektuellen und allen schon intellektualisierten Christen dazu! Denn sie haben wirklich das Grausige verübt, wovor aller Herzschlag, wo noch ein Herz schlägt, stille steht, sie haben wirklich verübt, wofür sie Karl Kraus — mortis in nomine laesae majestatis! — zum Tode verurteilt hat: sie haben mit dem Krieg Sechsundsechzig gespielt und aus sterbenden Soldaten haben sie Zeilenhonorar herausgeschlagen! Vielleicht also müssen die Soldaten und der Krieg muß über sie kommen.

Nun ist er da und ich sage: Nie hätte ein Herz lauter im Gefühl seiner Entbehrlichkeit geschlagen! Was tun sie nun mit den sterbenden Soldaten? Sinken, die nicht fallen, auf die Knie? Laßt uns warten. Abwarten, was sie uns hinterlassen wird, die große Zeit, wenn sie eines Tages dahingeht, wie sie eines Tages gekommen ist. Warten wir’s ab, ob die Schande, die ich in Form gebracht habe, versunken sein wird und mit ihr — wie gern! — ihr Künstler. Erledigt sein, ohne daß mir der Krieg meine Aufgabe erledigt — das möchte ich nicht. Dann möchte ich lieber, da er mir nicht geholfen hat, wieder ihm beispringen. Aber laßt uns nicht die Geduld verlieren und nicht von heute auf morgen schließen, von den miserablen Begleiterscheinungen einer großen Zeit auf ihre Folgen. Wenn es jetzt auch den Anschein hat, daß sie den Mächten des Ungeistes eher Vorschub leiste; daß der Krieg nicht so sehr den Kampf gegen das Übel fortsetze als das Übel selbst; daß das begeisterte Einstehen einer entgötterten Welt für den Besitzstand des Teufels nicht just ihre ideelle Bereicherung verbürge — warten wir zu. Es könnte am Ende das Wunder geschehen — Dichter und Denker rücken aus, es anzusagen —, daß die im Dienst der Fertigware geopferte Seele durch das Opfer des Leibes neu ersteht. Bis dahin binde sich, mit tausend Fesseln binde sich der sprungbereite Geist, sei wehrlos, wenn ihm Denken, Fühlen, Atmen gesperrt wird, schweige zu den tausend Insulten, die jeder Tag dem lesenden Auge und dem hörenden Ohr ersinnt. Das nie geträumte Erlebnis, daß dieser Kot nicht erstarrt ist, als Regimenter marschierten, halte den Schrei zurück. Die Vorstellung, daß hinter der blutenden Quantität alles Leben unverändert ist und hinter der neuen Maschine ein altes Pathos noch den Tod zur Lebenslüge macht, sie hämmere in den Schläfen. Wenn dieses Leben nach wie vor die Gemeinheit hat, »seine Rechte zu fordern«, ich, der sie ihm zeitlebens bestritten habe, will schweigen!

Und ich muß. Denn ich bin nicht so feig, gegen die Zensur zu kämpfen. Ich habe den Mut, ihr zu weichen. Ja, sie zu beschwören, daß sie jetzt, endlich, statt meiner ihres Amtes walte und sich nicht bange machen lasse von den Knechten der Freiheit. Denn man wisse, hierzulande hat sich in dem, was im status quo der torkelnden Individualitäten als gemeinsam fühlbar ist, nur ein einziges Novum begeben. Ich denke nicht an das Opfer der Kaisersemmel, zu dem sich eine wahrhaft große Zeit ohne viel Aufhebens, aber mit viel Stimmungsnotizen entschließt. Ich denke nicht daran, daß eine beliebte Annonce zwar nach wie vor drei lachende Wiener Typen zeigt, aber die von ihnen gestellte Frage: »Wer hat ausg’steckt? Wo gibts an guten Tropfen und a Hetz?« jetzt die Worte »und a Hetz« zum Opfer bringt, wiewohl es nach wie vor a Hetz gibt. Ich denke nicht an den seelischen Aufschwung der sich freiwillig meldenden Armeelieferanten. Ich denke nur an den alle Geister bewegenden Kampf gegen die Zensur, die bekanntlich über ein Gewerbe, dessen Ausüber von Rechts wegen den gelben Fleck zu tragen hätten, bloß den weißen verhängt hat. Diese über alle Maßen anspruchsvolle Profession lehnt sich nun gegen die Milde einer Obrigkeit auf, die ihr täglich ein paar Wahrheiten verbietet: anstatt für die ungezählten Lügen und Schlechtigkeiten dankbar zu sein, die sie ihr nach wie vor erlaubt. Die Presse ahnt nicht, wie gut es ihr geht. Ja glaubt sie denn, daß es mir heute von der Zensur gestattet würde, nachzudrucken, was täglich in den Wiener Zeitungen steht?!

Bis wir so weit halten, daß ich es darf und mir selbst erlaube — denn Infames, das in großer Zeit geschieht, zu zitieren, wäre ja unwürdig — bis wir so weit sind, bleibt die Frage zu beantworten, wie ich mich zu meinem bereits getanen Werk, das ja eigentlich auch nur aus Nachdrucken besteht, verhalten soll. Ich hatte zu Beginn der großen Zeit die Empfindung, daß ich auch dieses — wie immer sich heute der Leser dazu stellen möge — dem Hörer entziehen müsse, weil eine lautere Stofflichkeit ihm jetzt in den Ohren liegt und weil jene größeren Anlässe, die ich noch nicht gestalten darf, dem Auge meine kleineren, deren Identität ich noch nicht beweisen darf, verdecken. Nun aber stellte sich eines Tages heraus, daß unser Publikum sich an die Größe der Zeit schon so sehr gewöhnt hat, daß sich nicht mehr »Gruppen bilden« und die Überraschung einen nicht mehr inkommodieren muß. Das in Taten und Leiden Ungewöhnliche wird dem gnadenlosen Blick der herrschenden Kulturmacht, für die es geschieht, als Lektüre unterbreitet, das Opfer ist ein Film, und das Leben sieht in der Todesbereitschaft nur seine Extraausgabe, auf die es auch nicht mehr hereinfällt. Und da sich nichts um mich verändert hat, sollte ich nicht sagen dürfen, wie es war? Nein, angesichts der erschütternden Stabilität jener Erscheinungen, aus deren Gebiet meine Rohstoffe in den letzten fünfzehn Jahren bezogen waren, sehe ich mich nicht veranlaßt, nachträglich deren Verarbeitung zu bereuen, bin ich nicht gesonnen, das Erschienensein der Fackel einzustellen. Nein, ich bin nicht verpflichtet, den Haß zu arretieren, wenn die Schande am Tage bloß geht! Mögen jene, die anderer Ansicht sind und schon der Gegenwart, der hiesigen, den seelischen Aufschwung zuerkennen, den sich geduldigere Optimisten erst von der Zukunft erwarten, mögen solche Leute meine Gestaltungen mit ihren längst verwehten Anlässen als kulturhistorische Kuriosa hinnehmen. Warum soll man sich denn nicht dafür interessieren, wie es in alten Zeiten, vor dem 1. August, in Wien ausgesehen hat? Denn so gnädig wird kein Weltfreund sein, daß er vermöge einer Art geistiger Amnestie schon in der Vergangenheit, die ich meine, Spuren künftiger Heldengröße entdeckt. Nein, bleiben wir bei der Kulturgeschichte, und stellen wir uns — für einen Abend kann’s ja gelingen — auch vor, daß sie die frischeste, aktuellste Wiener Wirklichkeit bedeutet. Stellen wir uns vor, daß wir den Fasching in uns, wenn er auch behördlich inhibiert ist, noch nicht überwunden haben und daß wir höchstens, wenn uns der Ruf: Extraausgabee! trifft, uns im Schrecken der Schlacht befinden, sonst aber im horror vacui, den die Entziehung eines Narrenabends des Männergesangvereins uns beigebracht hat. Besinnen wir uns doch, ob unser ganzes gutgelauntes Dabeisein nicht einfach als Liste der Anwesenden aus dem Ballbericht in die notgedrungene Wohltätigkeit transferiert ist und bloß der »Rahmen« verändert, aber das Bild noch immer und immer mehr zum Sprechen ähnlich. Werfen wir einen Blick auf unser Nachtleben, übersehen wir aber auch unser Tagleben nicht; bemerken wir, wie geschickt wir aus der Gefahr ins Couplet ausweichen, und beachten wir, wie wir schon jetzt an dem Wiederaufbau unserer Ideale, vor allem des Fremdenverkehrs, arbeiten; horchen wir auf die Gespräche der Zeitgenossen, blicken wir auf die Plakatwände und fragen wir uns dann, ob das nicht lebendigste Wirklichkeit ist und ob wir vom Weltkrieg nicht träumen.

Leben nicht solche, deren Kriegsdienstleistung der Wucher ist? Leben nicht solche, für die der Schützengraben in die Kärntnerstraße einbiegt? Werden sie nicht demnächst ihr Scherflein beitragen in Form eines Nagels, mit dem ein Ritter aus Holz zu wohltätigem Zweck benagelt werden soll, nachdem die Behörde gegen die beabsichtigte Benagelung auf dem einstweiligen Aufstellungsplatz zum Zwecke der Sammlung keine Einwendung erhoben hat, so daß ein Wahrzeichen errichtet werden kann, das sich gewaschen hat, und fünfhunderttausend, sage fünfhunderttausend Namen, von denen sonst keine Krone, sage kein letztes Kranl für einen blinden Soldaten zu haben wäre, auf die Nachwelt kommen werden und Wien im Begriffe steht, eine Sage zu bilden — der Schmock im Eisen —, eine Sage sag ich Ihnen, die schon jetzt den Fremdenverkehr nach 700 Jahren ins Auge faßt und die dann beim Portier für 20 Heller zu haben sein wird, bei jenem Portier, von dem, wenn er dereinst seine goldene Hochzeit feiern wird, es in der Zeitung stehen wird, weil eben bei einer sagenumwobenen Bevölkerung alles beim Alten bleibt, höchstens daß es mehr Armeelieferanten gibt, als früher auf den ersten Blick zu erkennen waren, und daß so manche jetzt ein Scherflein beitragen, die später ein Vermögen davontragen werden. Halten wir uns dies und das und noch etwas gegenwärtig und alle die hunderte »und«, mit denen jener grauenhafte Kassier der Weltgeschichte jeden Tag Blutbilanz macht, dann — o dann werden wir der qualgeborenen Heiterkeit meiner Gestalten mehr Aktualität, mehr vom Gefühl, im Krieg zu leben, zuerkennen, als diese ganze Wirklichkeit enthält! Nicht jene erbärmliche Lache, deren Geschäft es ist, von Ernst und Erbarmen abzulenken, wagt sich hier hervor. Sondern eine, die ihre Opfer der Prüfung aussetzt, ob sie tragfähig waren für den Ernst, für die große Trauer und für die über Nacht erwachsene Größe. Hier ist Humor kein Gegensatz zum Krieg. Diesem können die Opfer entrinnen, jenem nicht. Er befreit keinen Schlechten, er befreit die Guten, die da leiden. Er kann sich neben dem Grauen sehen lassen. Er trifft sie alle, die vom Tod unberührt bleiben. Bei diesem Spaß gibts nichts zu lachen. Aber weiß man das, so darf man es, und das Lachen über die unveränderten Marionetten ihrer Eitelkeit, ihrer Habsucht und ihres niederträchtigen Behagens schlage auf wie eine Blutlache!

Vgl.: Die Fackel, Nr. 405, XVI. Jahr
Wien, 23. Februar 1915.


  1. Zum Eingang eines Leseabends gesprochen am 13. Februar 1915.