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Juli 1916

Von einem Mann namens Ernst Posse

Der Sinn der waffenbrüderlichen Vereinigung wäre unvollkommen, wenn nicht zur Hebung des Fremdenverkehrs und zum Austausch der Professoren auch ein Wechselgastspiel von Redakteuren käme, etwa so, daß der Chef des ›Fremdenblatts‹ seinen informierten Mist in der ›Kölnischen Zeitung‹ ablagert und der Chef der ›Kölnischen‹ dafür seinen Kohl im ›Fremdenblatt‹ pflanzt. Pfingsten, ein Fest, das, wie Weihnachten und Ostern ihre Heiligkeit, längst seine Lieblichkeit unter Zeitungspapier begraben hat, war die Gelegenheit:

»Zum ersten Male nimmt der hervorragende erste Schriftleiter der ›Kölnischen Zeitung‹, jenes ausgezeichneten Blattes von wohlverdientem Weltruf, das in mehr als hundertjähriger ununterbrochener Überlieferung uneigennützig im Dienste großer und gerechter Sachen steht, im Weltkriege das Wort in der österreichischen Presse: wir sind ihm dafür zu besonderem Danke verpflichtet.«

Ähnlich dürfte sich an dem gleichen Tage Köln über Wien geäußert haben. Der geistige Vertreter jener Stadt, die, wie man gleich sehen wird, ihren Geruch in der Welt mit weit mehr Recht dem Kölnischen Wasser als der Kölnischen Zeitung anvertraut, heißt Ernst Posse, ist aber nur in seinem Zunamen ernst zu nehmen. Da das Fremdenblatt dem Aufsatz die Bemerkung nachschickt, daß Nachdruck mit Quellenangabe erlaubt und erwünscht sei, so will ich’s unternehmen. Man wird nicht nur daraus ersehen, was von einem Geisteszustand zu erhoffen ist, dessen maßgebendster publizistischer Vertreter mit Recht den Namen Posse führt, sondern auch erfahren, wie der Vorwurf, daß ich die Presse überschätze, an dem eigenen Machtwahn dieser Standesgenossenschaft zuschanden wird. Unter dem Titel »Wie gründen wir Mitteleuropa?« zeigt ein Schwätzer den einzig richtigen Weg, der zu solcher Gründung führen kann: mit der Phrase dort zu beginnen, wo man mit ihr geendet hat; denn neues Leben blüht aus den Ruinen. Wäre die Sorte Menschheit, die es probieren will, weil ihr dieser Wechsel vom Hörensagen bekannt ist, nicht völlig ausgehöhlt und auch nur eines Gedankens noch fähig, sie würde ihre Wortführer mit nassen Fetzen aus den Redaktionen des Weltbrands jagen. Der geistige Austausch der Herren Szeps und Posse hat aber seine Vorgeschichte:

Wir im Reiche werden uns erinnern, daß Minnesangs Frühling an der Donau blühte, daß Walther von der Vogelweide, der Preiser deutscher Art und deutscher Sitte, in Österreich singen und sagen lernte, daß unser nationales Lied von der Nibelungen Not und Tod zuerst am Wiener Hofe vorgelesen wurde; und in den verbündeten Ländern wird man jetzt noch tiefer empfinden als vordem, daß die Dichter und Denker der Wirkungszeit des großen Friedrich, mag ihre Wiege im geschmeidigen Süden, in Franken, in Schwaben oder im spröderen preußischen Norden gestanden sein, in ihrer Muttersprache auch für sie dichteten und dachten, daß ihre Werke deutsches Gemeingut sind.

Das gemeinste deutsche Gut dürfte die Anwendung dieses Wortes sein. Die Dichter und Denker im Reich, die Singer und Sager in Österreich — unter denen aber die Singer in der Majorität sind —: diese alte Wechselbeziehung in Ehren. In Wahrheit wird kein Mensch im »Reiche« sich je an einen andern geistigen Zusammenhang mit Österreich erinnern, als daß die Reinhardt und S. Fischer aus Budapest in Berlin reüssiert haben. Aber die Theaterdirektoren müssen sich aufs Kino verlegen und die Tage der Verleger sind gezählt. Dafür bricht die Zeit der Minnesänger wieder an. Hört, hört:

Uns Journalisten wird in einer Zeit, wo Bücher kaum noch gelesen werden, eine ähnliche Aufgabe zufallen wie die, welche unsere Vorläufer in den Jahrhunderten vor Erfindung der Druckkunst, als Bücher noch nicht gelesen wurden, zu erfüllen hatten, indem sie, fahrende Sänger und Vaganten, von Hof zu Hof zogen, um ihren Zeitgenossen in einer ihrem Verständnis und ihrem Geschmack angemessenen Form die Zeitung zu künden. Allen denen unter uns aber, die gedankenlos in den Tag hineinlebten, und den nicht minder Zahlreichen, die sich gegen den Einfluß der Presse wegwerfend spreizten und sperrten, hat der Krieg offenbart, welche Macht der moderne Zeitungsschreiber in der Hand hält. Man denke sich, wenn man kann, die Zeitung weg in diesem internationalen Aufruhr der Gemüter; wäre ohne sie der Krieg überhaupt möglich geworden, möglich in seinen Entstehungsursachen, möglich auch in seiner Durchführung? Ich will hier nicht untersuchen, ob der Offenbarer Krieg, der den Menschen und den Dingen bis auf den Grund ihres Wesens schaut, an der Presse mehr Schatten- als Lichtseiten erkannt hat. Jedenfalls wird für die Beurteilung der Zeitung die Beleuchtung, in die der Krieg sie gerückt hat, auf lange hinaus maßgebend sein.

Ach, daß wir’s hoffen könnten! Und daß wir’s endlich gehört haben! Endlich auch das schwarz auf weiß haben! Ohne die Presse wäre der Krieg überhaupt nicht möglich gewesen! In seinen Entstehungsursachen nicht und nicht in seiner Durchführung! Der Wiener Rädelsführer des Weltverbrechens hat einmal geschrieben:

»Vor einigen Tagen war in den englischen Blättern, die seit Jahren die Holzstöße zum Weltbrande herbeigeschleppt haben, zu lesen ....«

Wenn so etwas der englischen Presse nachgesagt wird, dachte ich, dann wird der Presse als solcher ja die Fähigkeit dazu nachgerühmt. Dieser indirekte Beweis für mein Recht, die Presse zu überschätzen, wird nun durch das direkte Geständnis übertrumpft. Und allerorten beginnt jetzt die Presse, sich des Einflusses rühmend, den sie der feindlichen Presse zum Vorwurf macht, sich stolz der Urheberschaft am Weltkrieg anzuklagen. Tua culpa, tua culpa, mea maxima culpa. Das Kinderspiel der Erwachsenen »Wer hat angefangen?« wird auch in den Lagern der internationalen Journalistik und hier mit dem berufsgenossenschaftlichen Stolz, der die fremde Schuld zum eigenen Ruhm macht, erörtert. Der Journalismus ist die einzige Internationale, die durchgehalten hat, denn Journalisten kämpfen ja nicht gegeneinander, sondern gegen die Völker der anderen. Einig bleiben sie in dem allgemeinen Siegerbewußtsein, daß es doch schön sei, in einer Welt zu leben, die man vermöge jener unumgänglichen Verbindung von Abhub und Druckerschwärze und jener unwiderstehlichen Wirkung von Druckerschwärze auf Geistesschwäche zerstören kann. Da und dort beeilen sie sich nun, ihre Opfer durch den Vorschlag von Reformen zu entschädigen, empfehlen internationale Überwachungsbüros, Journalistenakademien und natürlich den Austausch von Berufsgenossen, und einer versteigt sich sogar zu der Meinung, daß »die Hauptsache doch immer das Verantwortungsgefühl« sei. Wie sich jene aber eine Heilung des Weltkrebses durch kosmetische Scherze vorstellen, wie sich dieser das Fortbestehen einer Presse bei Züchtung einer Eigenschaft denkt, die den Lebensnerv der Presse zerstört, beides ist gleich rätselhaft. Journalistenakademien — das bedeutet die Graduierung der Schande; es ist das Projekt des Größenwahns, der mit einer Gewerbeschule des Verbrechens nicht mehr auskäme. Austausch von Journalisten — das wäre der Entschluß, im eigenen Staat das falsche Geld des andern anzuerkennen. Internationale Überwachungsbüros: die Überwacher der Presse hätten genug zu tun, sie auf Reklamenotizen für ihre Tätigkeit zu durchsuchen. Was soll aber vollends die Einführung eines Verantwortungsgefühls, da doch die Presse als ganze eben den mechanischen Ersatz eines solchen bedeutet? Schon meldet sich ein Gegner derartiger Reformen, der offen erklärt, daß es nicht angehen würde, beim Verantwortungsgefühl stehen zu bleiben, »ohne dessen Grenzen nach oben und unten zu untersuchen«. Das Verantwortungsgefühl muß seine Grenzen haben. »Die Mitschuld der Presse am Kriege ist nicht zu bestreiten — aber kann man ihn aus dieser Tatsache allein erklären?« Was der Presse — natürlich nur der feindlichen — an Verantwortungsgefühl gefehlt habe, habe ganz Europa gefehlt. Immerhin wird die Wirkung der Druckerschwärze, deren Verschleißer sich meinen Angriffen durch den Hinweis auf ihre Vergänglichkeit zu entziehen pflegten, jetzt unter die Kriegsursachen eingereiht, dem Feinde zur Schmach, dem Berufe zum Stolz. Beides aber, die Abwälzung der Schuld und die Reklamierung der Macht, ist wieder ein Teil von jener Kraft, die noch mehr Verderben durch die Phrase des Guten als durch den Effekt des Bösen hervorgebracht hat. Weil aber Gebärdenspäher und Geschichtenträger, die es schwarz auf weiß bringen, des Übels mehr auf dieser Welt getan haben, als Blausäure und Bomben in Fliegers Hand nicht konnten, so gibt es gegen die Presse keine andere Reform als die Abschaffung. Dieser Erkenntnis war ich der Rufer in der Wüste: jetzt, in einer Wüste gewordenen Welt ruft sie allenthalben das Echo. »Hätte man« — so bricht eine deutsche Frau jetzt aus — »nur zehntausend hetzerische Zeitungsschreiber aus allen Ländern zusammengetrieben ... hätte man sie nur rechtzeitig zusammengetrieben, die heute weiterkläffen von allen Ufern des Roten Meeres, das gespeist wird von dem Blute Millionen Unschuldiger ... ja, hätte man zehntausend hetzerische Journalisten aus allen Ländern zusammengetrieben und gehenkt, o wie viel wertvolle, hoffnungsvolle Menschen wären in all diesen Ländern heute am Leben! Statt dessen seid ihr es, die ihr noch lebt, die ihr einer bösen Schwäre gleich Europa von einem Ende zum andern überzieht, ihr, die Hetzer, die Mitschuldigen an diesem Kriege, deren Knochen wie die der Schacher hätten zerbrochen werden sollen, bevor wir zuließen, was jetzt geschieht!« Und ein biederes Provinzblatt, das zugibt, die Presse habe sich »in ihrer überwältigenden Weltmacht noch nie so gezeigt wie in diesem Kriege« und es sei »sicher, daß die Freunde des Friedens mit einem schlauen und heimtückischen Feind zu tun haben, der mit Holzpapier und Druckerschwärze arbeitet«, bedauert doch, daß es »nicht an Leuten fehlt, wie z.B. die erwähnte Fürsprecherin einer radikalen Maßregel, die aus Ärger, daß sich das gedruckte Wort oft stärker erweist als unumstößliche Tatsachen, das Kind mit dem Bade ausschütten«. Der Schwachsinn entschuldigt die Presse mit ihrem Verbrechen und hält es nicht für richtig, das Kind mit eben jenem Blutbad, das es angerichtet hat, auszuschütten. Aber die Harmlosigkeit, die Anklage und Verteidigung in einem besorgt, schreibt mit derselben roten Tinte wie der Mord. Und die Hetzarbeit der Weltpresse hat nicht ärgeren Schaden gestiftet als die allgemeine Möglichkeit, durch eine Suggestion des Tonfalls verschwommener Meinung geistige Werte zu ersetzen. Durch falsche Tatsachen die Völker zu verhetzen, würde nicht gelingen, wenn es nicht schon längst gelungen wäre, durch falschen Geist das Volk zu verderben. Was noch knapp vor einem Krieg geschieht, wenn die Menschheit einmal für ihn reif geworden ist, wäre das Geringste, und die schlimmsten Greuel sind durch Jahrzehnte wahr gewesen, ehe andere erlogen wurden. Das Resultat des leiblichen Mords gibt freilich den Weg an, wie dem Übel künftig zu steuern wäre. Es empfiehlt die einfache Schätzung: was vernünftiger ist, hunderttausend intellektuell mittelwüchsige, ethisch wertlose Individuen in soziale Berufe zu zwingen, auf die Gefahr hin, daß die Neugierde der Massen und die Eitelkeit der Führenden um die Nährväter gebracht würden, oder zehn Millionen Menschen zu opfern. Deren Erhaltung ist, wie sich gezeigt hat, ohne die Beseitigung der Presse nicht möglich. Wird die Menschheit eine andere Entschuldigung als die des Irrsinns haben, wenn sie in einem lichten Augenblick gewahr wird, daß sie die Fülle ihrer Besten geopfert hat, und schlimmer: daß ihr die Gruppe ihrer Schlechtesten, die es bewirkt hat, übrig blieb? Daß diese überleben, weil sie an einem Krieg nicht teilnehmen mußten, den sie gemacht und dem sie den Frieden ferngehalten haben? Schreibt sich die Wehrfähigkeit aller noch immer nicht von der Schreibfähigkeit der vielen her? Hat es die Welt noch immer nicht schwarz auf rot, und ist ihr, was es an Papier auf Erden gibt, noch immer nicht das Leichentuch für Menschheit und Wälder? Was hülfe der Frieden den Nationen, wenn seine erste Bedingung nicht der Krieg aller gegen die Presse wäre? Die Verpflichtung, jenen, die uns künftig noch »die Zeitung künden« wollen, sie rechtzeitig zu kündigen? Mehr Beweis, um ihnen den Prozeß zu machen, braucht man nicht als ihr freches Geständnis, »der Krieg habe offenbart, welche Macht der moderne Zeitungsschreiber in seiner Hand hält«, als die hämische Aufforderung, »sich, wenn man kann, die Zeitung in diesem internationalen Aufruhr der Gemüter wegzudenken«, als die Frage des Siegers über allen Staaten, »ob der Krieg ohne sie überhaupt möglich gewesen wäre«. Ich hab’s ja immer mit Ernst behauptet. Aber daß es jetzt auch der Posse zugibt, ist erschütternd. Ernst Possart — das war ehedem die Bezeichnung für den durchschnittlichen deutschen Tragödienspieler. Der Weltkrieg wird einst Ernst Posse geheißen haben! Man denke sich, wenn man kann, die Zeitung weg aus dem Weltkrieg. Nein, ich kann es nicht! Ich konnte es nicht, ehe er ausbrach! Ultra Posse nemo tenetur. Aber wenn die Beleuchtung, in die der Krieg die Presse dank dem Krieg und der Fackel gerückt hat, noch durch etliche Laternenpfähle ergänzt werden könnte, so würde die Bevölkerung aller ehedem befreundeten und verfeindeten Staaten einen internationalen Austausch von Chefredakteuren als einen Glanzpunkt des Friedensfestes ansehen. Die Form dazu würde sich, wenn sie ohnedies wieder als fahrende Sänger von Hof zu Hof ziehen, um die Zeitung zu künden, leicht finden lassen, man würde sie, da infolge der rapiden Hebung des Fremdenverkehrs kein Obdach für sie vorhanden wäre, einladen, unter freiem Himmel zu übernachten, und eine Menschheit, deren Machthaber es versäumt hatten, Zeitungsartikel niedriger zu hängen, wäre es zufrieden, dafür die Verfasser höher hängen zu sehen.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 431–436, XVIII. Jahr
Wien, 2. August 1916.