Mai 1916
Der tragische Karneval
Die Münchner Polizei hat bereits in zwei Fällen Veranlassung genommen, gegen auffallend gekleidete Damen einzuschreiten. Am Montag ereignete sich der dritte derartige Fall ... Sie trug einen blauen Kittel, einen kurzen weißen Rock, weiße Schuhe, blaue Strümpfe und am Kopf eine blauseidene Zipfelmütze ... Ein Polizist war über den Aufzug empört und führte die Dame zur Polizeidirektion. Der Polizeipräsident erinnerte das Fräulein daran, »daß wir nicht im Karneval leben«. Unter Tränen bat die Zurechtgewiesene um Entschuldigung.
Dem Siegeslauf der Schalek, die jetzt die Front am Isonzo abgeht und augenblicklich die Honveds auf Doberdo inspiziert, auch nur auf einem Abschnitt zu folgen, ist einstweilen, da die Wachsamkeit an hundert andern Einbruchsstellen der Kulturschande beschäftigt ist, unmöglich. Unmöglich auf andere Art, als das, was geschieht, unmöglich ist und die Schalek selbst ein Ding der Unmöglichkeit. Leicht macht sie es mir ja nicht. Versuch’ ich wohl sie diesmal festzuhalten und fasse ich sie satirisch, so meint man, ich hätte zur gegebenen Kontrastwirkung noch eins hinzugetan. Zitiere ich sie aber, so glaubt man, ich hätte den Text gefälscht. Sage ich, wie ich oben getan, die Schalek sei die Front abgegangen, so hält man es für meinen Witz; denn die Komik ihres Dabeiseins so auszudrücken, als täte sie es nicht bloß einem Soldaten gleich, sondern gar einem General, könnte doch nur Übertreibung sein. Zitiere ich sie aber, behaupte ich, sie habe neulich mit den Worten begonnen: »Schritt für Schritt bin ich die Front an Isonzo längs des Görzer Abschnittes abgegangen«, so wird man verwirrt, und der Humor der Erscheinung leidet durch den Zweifel, ob nicht eben das nur Erfindung sei. Es bleibt nichts übrig, als eine Kampfpause der Schalek abzuwarten, und indem ich sie selbst sprechen lasse, durch Ausführlichkeit die Echtheit zu beglaubigen. Vorläufig ist kein Ende abzusehen. Allen Einflüsterungen der Kommandierenden zum Trotz, die, statt zu kommandieren, ihr den Rat gaben: »Fahren Sie weg!«, ist sie geblieben, und wiewohl man ihr sagte: »Sie brauchen ja nicht im Schrapnellhagel zu schreiben!«, wollte sie nicht als Auskneiferin dastehen und treibt sich ausgerechnet überall dort herum, wo es am gefährlichsten ist. So steht die Schalek mitten im Kugelregen, ißt Spargel am Tisch des Divisionärs, schlüpft in Unterstände, scheut die Beobachter auf der Podgora nicht, besucht sie, und findet, wenn sie des Abends kampfmüde heimkehrt, ihr Zimmer, das keineswegs bombensicher ist, mit Rosen gefüllt. Der Niederschlag dieser vielfältigen Erlebnisse ist eine unerbittliche Serie von Feuilletons, die von der durchhaltenden Geschmacklosigkeit eines gegen Hohngelächter gepanzerten Herausgebers fortgesetzt wird, die sich aber durch den Vermerk »Nachdruck verboten« vergebens gegen das Schicksal zu schützen versuchen wird, als Zeitdokument schwersten Kalibers jenen kommenden Geschlechtern übermittelt zu werden, die vielleicht wieder zwischen Mann und Weib unterscheiden möchten — bewahrt zu werden als die nicht mehr steigerungsfähige Karikatur der Mißgestalt, in der ein völlig scham-, hemmungs- und verantwortungsloser Zeitgeist seine blutigen Possen getrieben hat. Denn sage ich, die Schalek habe nicht als Auskneiferin dastehen wollen, so wird man’s so lange für meinen Witz halten, bis ich dartue, daß es ihr Ernst ist. Ihre Worte in ihrem Druck fangen nicht: man lacht und vergißt. Meine in meinem sind nur meine Wirkung. Ihre Worte in meinem Druck werden es bezeugen! Wer vermöchte gleich mir die Welt zu erschüttern durch nichts als daß er alles, was sie schon weiß, wiederholt? Sieht man jetzt Weiber militärisch verkleidet und empfängt man, weil man sie trotzdem grüßt, statt eines Kopfnickens, das die Disziplin des Geschlechts noch immer vorschreiben sollte, ein stramm Salutieren, so mag man staunen, wie der abgestandene Operettenwitz, der veraltet war, ehe das soziale Leben den ersten Mißbrauch der Weiblichkeit ankündigte, der schale Ulk der komischen Alten als Feldwebel oder bemoostes Haupt, jetzt auf realen Leichenfeldern Zugkraft erhält. In dem schrecklichen Einzelfall der Reporterin jedoch, die dank dem faulen Zauber der Hysterie (der die Menschheit anästhesiert und einzig zu jener aktiven und passiven Standhaftigkeit vor der Maschine befähigt, welche Heldentum heißt und größer ist als Hektors Mut, ders mit keinem Mörser aufgenommen hätte), in der Schreiberin also, die vermöge der antreibenden Gewalt seelischer Unterernährtheit alle Sensationen dieser welthysterischen Zerrüttung erleben kann und der glaubwürdige Gewährsmann dieses Krieges wird: in dem stärksten Monstrum dieser Ausnahmszeit ist der ganze tragische Karneval enthalten. Die Sage von uns wird erzählen, daß Frauen, die als Frauen, also auffallend gekleidet gingen, verhaftet wurden. Den Amazonen aber ward in der Kindheit die rechte Brust abgebrannt, um sie zum Bogenspannen, noch nicht zum Schreiben tauglich zu machen, und die Fabelphantasie keines Zeitalters hätte ausgereicht, die Schalek auf dem Kriegspfad zu erfinden.
Sie findet ihr Gegenstück etwa in den entmannten Männern der Wissenschaft, die dort, wo sie nur schießen hören, gleich mit einem Ehrendoktorat zur Stelle sind, und noch eine Begründung hiefür bereit haben. Nicht errötend folgen sie den geistigen Spuren der Schalek, die ja die kulturelle Gleichstellung Skodas mit Kant als erste befürwortet hat. Generale aber, die ihre Pflicht nicht zuletzt in deren Absonderung von anderen Idealen erkennen, für das Wesen und die mit keiner metaphysischen Sphäre vereinbare Fachlichkeit ihres Berufs ein korrektes und somit besseres Verständnis haben als Philosophieprofessoren, die die Ehre ihres Studiums an die Erfolge des Kriegs vergeben, Generale empfangen im düstern Umkreis ihres Wirkens nur dann einen heiteren Eindruck, wenn Rektor und Prodekan aus der Operette ins Quartier kommen und das Doktorat hervorziehen. Es wäre ihnen ja lästig, wenn sie nicht lachen müßten und ihnen nicht zur Revanche die Frage auf der Zunge läge, ob die Herren Philosophen vielleicht Lust hätten, länger zu bleiben und Feldwebel honoris causa zu werden. Kein Auftrag, als der der immer beunruhigten Streberseele und etwa noch die kindische Sucht, aus allem ein Ornament zu machen und eine Auszeichnung wenigstens am andern zu sehen, wiewohl sie zum Verdienst so paßt wie das Auge zur Faust — kein Auftrag, kein Zwang, kein Wunsch hats ihnen geschafft. Niemand hätte es vermißt, wenn’s nicht geschehen wäre. Die Generale wissen nicht, was sie damit anfangen sollen, aber die Philosophen, die mit jedem Tage seit dem Tod Schopenhauers und vor allem seit Kriegsbeginn größere Optimisten werden, sind unerschöpflich in der Hingabe ihrer Ehre, so daß es fast den Anschein hat, als wollten sie den Siegen zuvorkommen und als wären diese an den einstimmigen Beschluß der Fakultät geknüpft. Austauschprofessoren mögen unterwegs in Streit geraten, wer mehr Ehrendoktorate verliehen hat. Die Empfänger aber sind sich nicht im reinen darüber, ob das Doktorat der Philosophie für sie eine honoris causa ist. So viel nur wissen sie und haben auch sie aus der Philosophie gelernt, daß solche Gabe für die jetzt tief unter dem Niveau der Schopenhauerschen Mißachtung stehenden Verleiher in Wahrheit eine causa turpis ist! Wäre zum Glück nicht überall dort, wo der Rang ist, auch die Fähigkeit — was ja sogar von den Universitäten angenommen wird —, und gäbe es im Reich der Erscheinungen, in das jetzt die Philosophie mit Ehrendoktoraten eintritt, Unterschiede, wie etwa zwischen einem Napoleon und einem, dem der Krieg nur vom Kino bekannt wäre und der vor jedem Bild, das fallende Menschen vorführt, nichts zu sagen wüßte, als etwa: »Bumsti!« oder »Aha!« —, die Vertreter der optimistischen Weltanschauung würden manche Enttäuschung erleben. Ich spreche nicht aus Neid; ich weiß, daß es mir auf Lebenszeit versagt ist, das Ehrendoktorat der Philosophie zu erringen, selbst wenn ich nachweisen könnte, daß ich Leibniz für einen Fabrikanten von »Keks« halte. Denn dieses Verdienst würde reichlich aufgewogen durch meine Erkenntnis, daß Professoren der Philosophie, die dem Weltuntergang mit Ehrendoktoraten schmeicheln, von allen Karnevalstypen, auf die der Mond dieser Mordnacht grinst, die weitaus lächerlichsten und verächtlichsten sind.
Und eins in dieser Erkenntnis sind mit mir jene Exponenten des Unglücks, deren menschlichem Sinn die Pflicht noch immer besser zusagt als die Abwechslung durch einen Firlefanz, der sie erschwert. Eins in der Ansicht, daß Philosophen und Weiber, die die Ehren ihrer Berufe dort ablagern, wo sie nicht hingehören und wo man sie nicht braucht, daß Dekane, die der Glorie noch den Doktorhut aufstülpen wollen, und Jourkoryphäen, die an Artilleriestellungen ihre Neugierde befriedigen möchten, nicht jene Botschaft aus dem Hinterlande bringen, die sie zum Dank für die Mühe, es zu schützen, von dort zu empfangen gehofft haben. Noch warten wir aber auf eine von ihnen, die uns die tröstende Gewißheit brächte, daß sie solche Zumutungen künftighin mindestens so mühelos abweisen werden, wie den Angriff des Gegners. Von einem Hinauswurf der Professoren haben wir noch nichts vernommen. Aber die günstige Nachricht sei weitergegeben, daß die Schalek nicht überall durchbrechen konnte, von der Südwestfront zurückgeworfen wurde und daß wenigstens dieser Teil des Kriegsschauplatzes zu einer unwirtlichen Gegend für den innern Feind geworden ist, von dem uns die Abwehr des äußern keineswegs befreit hat, den aber von einem bestimmten Punkte zu verjagen in beispielgebender Weise geglückt scheint. Die Schalek mußte zurückgehen, kein Unterstand wurde ihr gewährt und nichts zu essen gegeben. Wir entbieten den tapferen Offizieren für dieses Vollbringen unsern Gruß, wie es in jener Zeitung heißt, von der jetzt wenigstens das Totschweigen einer Front, deren Männer nicht imstande waren, der Schalek ins Auge zu sehen, gern zu erwarten ist. Allen, trotz allem äußeren Gelingen Verzagten sei diese Kunde von einer vorbildlichen patriotischen Tat gebracht, durch die es mit einem kühnen Handstreich geglückt ist, einmal die inneren Grenzen zu schützen. Wie schön wäre es, wenn sich in einer Zeit, die für Mitteilungen gegenteiligen Inhalts, für Interviews u. dgl., Rücksichten nicht kennt, kein formales Hindernis gegen die Beglaubigung solcher Nachricht stellte. Die Verhüllung hat sonst den Sinn, dem Gegner nicht mehr zu verraten als was er ohnedies schon weiß. Dem Todfeind sollte mit aller Deutlichkeit gesagt werden können, an welchem Punkt er keine Aussicht hat vorwärts zu kommen, aber die Sicherheit, mit der langen Nase, mit der er gekommen ist, abzuziehen. Es sollte der Gegenwart gemeldet werden, die solches noch nicht gehört und im Glauben an eine Macht, die bis zu den höchsten Spitzen der Natur und der Gesellschaft reichen müsse, allen Mut verloren hat. Es werde der Zukunft verkündet, die uns um des Beispiels willen, das mutige Männer auf dem vorgeschobenen Posten einer verlorenen Zeit gegeben haben, nicht ganz verwerfen wird, um des Vorzugs willen, in dem tragischen Karneval, den wir uns leisten konnten, doch einmal für einen Augenblick die Besinnung gefunden zu haben!
Vgl.: Die Fackel, Nr. 426-430, XVIII. Jahr
Wien, 15. Juni 1916.