Assoziation des Dichters
Niemand wird leugnen wollen, daß die Lebhaftigkeit der Assoziationen und die Sicherheit im Sprachgebrauche beim Schriftsteller in hohem Grade vereinigt sind; wir wollen darum die Erscheinung einmal beim Dichter, beim Redner und beim Gelehrten genauer ansehen. Und darüber wird wohl kein Streit mehr herrschen, daß die Phantasie des Dichters nicht etwa ein besonderes Seelenvermögen ist, sondern daß diese Phantasie nur die Erinnerungen in freier Weise verbindet, also eigentlich dieselbe Gedankenassoziation ist, die wir aus unseren Traumzuständen kennen. Es kann als bekannt vorausgesetzt werden, daß die Phantasie des Künstlers niemals ein völlig neues Motiv erfinden kann, daß z. B. auch der genialste Maler niemals ein Geschöpf der Phantasie erfinden kann, an dem nicht jedes kleinste Teilchen irgend einem Motiv der Natur entnommen wäre. Phantasie ist Gedächtnis. Nur der Grad der Anschaulichkeit ist beim Dichter stärker, oft sehr viel stärker ("unendlich stärker" wäre eine Phrase) als beim Rhetor; wie die Anschaulichkeit beim Maler farbiger ist als beim Zeichner.
Wir haben im vorigen Kapitel, vorläufig und fast ohne Begründung, bemerkt, daß die Assoziationen mitsamt ihren sogenannten Gesetzen der Subjektivität des Menschengeistes unterworfen sind. Wenn wir jetzt sehen werden, daß die Assoziationen des Dichters, des Redners, des Gelehrten sich nach seinem Individualgedächtnis ordnen, so wird uns das auf die Auffassung vorbereiten, die uns bald nicht mehr erschrecken soll: das eigentliche Subjekt aller Geistestätigkeit, das sogenannte Ich, wieder mit dem Gedächtnisse gleich zu setzen, das Ich — wenn man will — mit dem Rätsel des Gedächtnisses zu erklären. Es ist nicht meine Schuld, sondern die der menschlichen Sprache, wenn da Gedächtnis und Ich bald identisch sind, bald eins im anderen. Und ebenso Sprache (oder Gedächtnis) und Ich: bald identisch, bald eins im anderen.
Keine psychologische Beobachtung der dichterischen Tätigkeit kann uns im Zweifel lassen über die, wenn man will, melancholische Tatsache, daß die Wortfolge, welche ein Gedicht ausmacht, durch Ideenassoziation zu stände kommt und daß diese Ideenassoziation in jedem besonderen Falle durch Äußerlichkeiten beeinflußt werden kann. Ob der Dichter ein Goethe ist oder der letzte Skribler, so wichtig es für den Wert des gewordenen Gedichts sein wird, es ist gleichgültig für die psychologische Tatsache. Man stelle sich einmal vor, der Dichtersmann gehe von der Stimmung oder von der Absicht aus, den Eindruck des Frühlings in Versen auszusprechen. Er hat z. B. die Vorstellung vom blühenden Tal bereits gefaßt. Nun ist es doch ganz klar, daß ihm — unbewußt oder bewußt — die weiteren Vorstellungen sehr verschieden zuströmen werden, je nachdem ihm das werdende Gedicht als eine Reihe von Hexametern, als Reimstrophe oder als eine Kette von Stabreimen vorschwebt. Einem Goethe entsteht vielleicht das ganze Frühlingslied mit scheinbarer Plötzlichkeit so, daß der Dichter selbst nicht sagen könnte, wie er die Worte gefunden hat. Ein elender Reimschmied wird sich bewußt sein, daß er unter den möglichen Reimen nach einem suchte, dessen Begriff halbwegs zum Frühlingsliede paßte. Heinrich Heine wird das Frühlingslied wie ein Genie finden und einen besonderen Wohllaut wie ein Reimschmied hinzu erfinden. Bei allen dreien jedoch wird die Aufmerksamkeit, je nachdem sie auf den Rhythmus des Hexameters oder auf den Reim oder auf die Alliteration gelenkt ist, durch Ideenassoziation brauchbare Worte über die Schwelle des Bewußtseins bringen. Ich meine dabei nicht die Fälle, die beim Skribler die Regel sind und bei Goethe die seltenste Ausnahme, die Fälle nämlich, wo ein Flickreim dasteht, wo also die durch die Reimform erregte Ideenassoziation falsche Wege eingeschlagen hat; nein, auch das herrlichste Gedicht entsteht im Geiste des gewaltigsten Dichters so, wie es entsteht, nur dadurch, daß die vorschwebende Form oder die Richtung der Aufmerksamkeit die Gedankenassoziation lenkt. Man vergleiche einmal Verse aus Goethes schönsten Liedern mit den Knittelversen des Faust, mit den antiken Zeilen der römischen Elegien und etwa noch mit gewissen Spielereien aus dem Westöstlichen Divan, und man wird entdecken, daß dem Dichter nicht allein die Worte nach der Richtung seiner Ideenassoziation eigen zuströmen, sondern daß sogar ich möchte sagen die Sprachprovinzen, aus denen die Worte kommen, andere sind. Der boshafte Butler, der Dichter des Hudibras, hat ganz recht, wenn er einmal sagt: "Der Reim ist das Ruder der Verse, mit dessen Hilfe sie wie Schiffe ihren Lauf richten."