Automatisches Gedächtnis
Ist dem wirklich so, so verlieren die beiden Begriffe Bewußtsein und Gedächtnis, die uns abwechselnd mit ihrer Gleichheit und ihrer Ungleichheit genarrt haben, zugleich ihre Schärfe und ihren Wert. Wir bemerken dann nur noch in der Geschichte des menschlichen Geistes sowohl, wie in den unbedeutendsten Vorkommnissen dieser Geschichte, z. B. in unseren täglichen Geistesgewohnheiten, eine Tendenz, die immer auf Arbeitsersparnis hinausläuft und die wir je nach unserem Interesse bald Bewußtsein, bald Gedächtnis nennen. Das Gedächtnis hat überall die Tendenz, ein automatisches Gedächtnis, also eine Art Instinkt zu werden. Wer von Noten spielen lernt, muß zuerst die einzelnen Notenzeichen und ihre Gruppierungen dem Gedächtnisse einprägen. Wir übersehen dabei gern, daß der Anfang dieses Auswendiglernens da ist, wenn das Notenzeichen in unser Bewußtsein eintritt, was ein sehr komplizierter Vorgang ist. Hat ein Schüler sich die Notenzeichen schnell gemerkt, so loben wir sein gutes Gedächtnis. Ist der Schüler später ein Virtuose geworden so hören wir auf, seine Kenntnis der Notenzeichen unter den Begriff des Gedächtnisses zu fassen. Er verbindet das sichtbare Zeichen mit dem entsprechenden Tone und dann wieder mit der entsprechenden Fingerbewegung so automatisch, wie beim normalen Menschen die komplizierten Bewegungen des Gehens oder des Essens automatisch geworden sind. Das Gehen und das Essen sollten wir unter die Instinkte rechnen; auch das Notenlesen würde instinktmäßig genannt werden, wenn es allgemein ererbt und nicht von einzelnen Menschen mühselig erworben würde. Automatisch ist es beim guten Klavierspieler sicherlich. Automatisch wird bei ihm jedoch auch unter Umständen das Auswendigspielen eines langen Stückes. Auch da neigt die Sprache dazu, von einem gedankenlosen Spielen zu reden, d. h. doch wohl von einem Spielen ohne Bewußtsein, ohne Besinnung, ohne bewußte Gedächtnisarbeit. In solchen Fällen hat das Gedächtnis sein Ziel erreicht, es hat sich selbst überflüssig gemacht, wie man das von einer guten Regierung verlangt. Noch auffallender ist dieser Weg bei solchen Übungen, die von größeren Menschengruppen oder die von allen Menschen angestellt werden. Das Bücherlesen geschieht heutzutage von allen gebildeten Menschen ohne Besinnung, ohne Gedächtnisarbeit. Das Wort Gedächtnis wenden wir dabei nur noch auf das besondere Auswendiglernen ganzer Stellen an. Das Gehen geschieht instinktiv, nachdem das Gehenlernen überwanden worden ist; wer später tanzen lernt, muß wieder Gedächtnisarbeit verrichten, bis auch das Tanzen automatisch wird. Das Essen geschieht instinktiv; wer aber später einen Fisch, eine Auster nach der jeweiligen Sitte essen lernen will, muß sein Gedächtnis anstrengen, bis ihm, das Fischessen, das Austernessen zur leichten Gewohnheit, bis es automatisch wird.
Man wird wohl einsehen, daß wir da überall mit dem abstrakten Worte Gedächtnis nicht auskommen können. Unter Gedächtnis stellt man sich immer noch etwas wie eine Kraft vor, die Vorstellungen wiederholt, die mühsam einübt; und doch erkennen wir jetzt die Mühelosigkeit, das automatische Wiederholen als dasjenige, was erst Gedächtnisarbeit heißt. Und wieder vergißt die Sprache das Wort Gedächtnis anzuwenden, sobald das Ziel erreicht ist und das Gedächtnis gut funktioniert. Der Grund liegt darin, daß jeder Anfang der Einübung mühsam, also bewußt vor sich geht und daß wir, auf diese Mühsamkeit oder Bewußtheit aufmerksam geworden, die Arbeit von der Mühelosigkeit, das Bewußtsein vom Gedächtnis trennen. Ich muß freilich gestehen, daß eine solche sprachkritische Betrachtung nahe an den sprachlichen Nihilismus hinführt, weil wir da von den einzig wirklichen physiologischen Vorgängen nichts wissen und alle Begriffe für die psychologischen Vorgänge schwanken, was dann allerdings natürlich ist. Wir haben vorhin gesehen, daß alles Gedächtniswerk oder Denken ein Vergleichen ist, jedes Vergleichen eine Bewußtseinsänderung, bei welcher wir eine Art von Ruck als Beziehung der Ungleichheit und das Ausbleiben des Rucks als eine Beziehung der Ähnlichkeit oder Gleichheit empfinden. Der Ruck weckt unser Bewußtsein oder vielmehr er ist ein Zustand, den wir einen Bewußtseinszustand nennen. Vielleicht ist alle Tätigkeit des Gedächtnisses ein Bemühen unseres egoistischen Organismus, diesen Ruck abzuschwächen. Alles Wachstum des menschlichen Geistes, welches doch real nur im Wachstum der Individualgeister bestehen kann, vollzieht sich also in einer ewigen Gegenbewegung: jede ungewöhnliche oder uneingeübte Wahrnehmung wird mit einer Anstrengung oder mit Bewußtsein apperzipiert und behufs Klassifikation dem Gehirnschatze übergeben, welcher, insofern er ein lebendiges Ganzes ist, Gedächtnis heißt; und dieses lebendige Ganze macht sich sofort an die Arbeit, die Benützung der neuen Wahrnehmung unbewußt oder automatisch zu machen, Arbeit zu ersparen.
Ist schon das Lesen für uns Büchermenschen eine automatische Tätigkeit, so ist das Sprechen fast völlig so automatisch und instinktiv wie das Essen. Stumme Menschen rechnet man in das Gebiet der Pathologie, wie man Menschen ohne Speiseröhre dahin rechnen würde; daß solche Menschen aus Mangel an Nahrung zu Grunde gehen müßten, ist ein relativer Zufall, der die Ähnlichkeit nicht aufhebt. Daß die Sprache nur innerhalb einer Volksgenossenschaft brauchbar ist, dürfte denn doch auch in der Kunst des Essens eine Analogie haben; man denke sich einen städtischen Robinson, ohne Robinsons romanhaften Scharfsinn, auf eine kleine Insel verschlagen, die ihm weder Vogeleier noch Muscheln, noch Lamamilch zur Nahrung böte und deren nahrhafte Wurzeln und anderes dergleichen er nicht kannte; er würde sich mit der Natur nicht verstehen und so wenig essen können, als ein Deutscher in China sprechen kann. In normalen Fällen jedoch übt der Mensch die Kunst seiner Muttersprache so automatisch wie die Kunst des Essens. Er hat jedes Wort mit einer gewissen Arbeit, mit einem gewissen Bewußtsein lernen müssen, um es nachher unbewußt zu gebrauchen; wir können wohl nicht daran zweifeln, daß ihm dieses Lernen durch eine ererbte Anlage erleichtert worden ist, durch ererbte Instinkte in den Nervenbahnen. Zwischen dem Sprachgebrauche der italienischen Bäuerin, welche etwa das Vaterunser als Strafpensum zum hundertsten Male hundertmal aufsagt, und dem Gebrauch der Sprache bei einem Philosophen, der ein altes Wort neu definiert oder zu einem neugefundenen Begriffe ein passendes Wort findet, liegen unendlich viele Gradunterschiede der Intelligenz, der geistigen Arbeit. Wir haben ja eben erfahren, daß es auch in der Kunst des Essens solche Gradunterschiede gibt; wer die Austergabel erfunden hat, hat die Technik des Essens bereichert. Aber alle Gradunterschiede zwischen der Bäuerin und dem Philosophen lassen sich auf den einen Unterschied zurückführen, daß die Bäuerin und mit ihr bis hoch hinauf alle studierten Geschäftsleute, Pfarrer, Lehrer, Richter, Ärzte, wenn sie sich nicht freiwillig anstrengen wollen, die Sprache oder das Gedächtnis der Menschheit aus Arbeitsscheu oder im unbewußten Dienste der nach Arbeitsersparnis drängenden sogenannten Kultur, automatisch gebrauchen, — daß dagegen der Philosoph, und mit ihm jeder intelligente Arbeiter, der das Besondere seiner gegenwärtigen Arbeit beachtet, die Mühe des Apperzipierens nicht scheut, seiner Sprache oder dem Gedächtnisse der Menschheit eine neue Wahrnehmung anklassifiziert und so an seiner Stelle das Gedächtnis der Menschheit um einen Zug vermehrt. Er lernt das Austernessen, er erfindet die Austerngabel.
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