Bewegungserinnerung
Auch für die Physiologie des Gehirns sollte es nicht gleich gültig sein, ob die Sprache Bewegungs- oder Schallerinnerung ist; denn das sensorische Zentrum, das man neben dem motorischen Sprachzentrum umschrieben hat, verliert an Bedeutung, fordert zum Aufsuchen ganz anderer Bahnen und Bahnstörungen auf, wenn auch beim Sprachhören motorische Erinnerungen das Wesentliche sind. Die Schemata werden wieder einmal umgezeichnet werden müssen.
Das Verständnis der ungeheuer komplizierten Arbeit, welche das Gehirn beim Denken oder Sprechen zu leisten hat, wird durch die Lehre, daß Worte Bewegungserinnerungen sind, nicht erschwert. Bei der Bewegung, die zu einem einzigen Laute gehört, sind viele tausend mikroskopische Muskelfasern in Tätigkeit, also (nach neueren Untersuchungen) wahrscheinlich ebensoviele Nervenfasern. Es läßt sich nun eher denken, daß jeder Laut sein Erinnerungszentrum im Gehirn hat, als daß jedes Wort eines habe. Wobei ich freilich den abenteuerlichen Einfall, den einzelnen Gehirnganglien — von denen wir eigentlich nichts wissen — einzelne Vorstellungen zuzuweisen, wahrhaftig nicht zu Gunsten der Laute nachahmen will. Die Worte entstehen erst beim Sprechen; die Laute sind vorgebildet. Noch genauer betrachtet, ist das nur ein geringer Unterschied; denn wie die Laute durch Übung, also durch Nervengleise, ausgelöst werden, so mögen auch sehr viele Lautgruppen oder Worte ihre ausgefahrenen Gleise haben, und so schließlich auch Wortgruppen oder Sätze oder Urteile. Man mag darum das Gehirn als Sprachmaschine immerhin mit dem Tastapparat einer Schreibmaschine vergleichen, nur daß (wie immer im Organismus) Schreiber (Spieler) und Maschine eins sind und der Mensch darum also doch keine Maschine ist.
Darum vergessen wir auch Worte, die wir selten gehört oder gesprochen haben; darum verlieren vielleicht Sprachkranke die Fähigkeit, Worte zu bilden, aber nicht die Fähigkeit, deren Laute zu bilden.
Wir stellen uns also jedes Wort, bevor wir es laut sprechen, still (denkend) durch die gleichen Bewegungen vor und geben diesen immer noch den Euck der ausgeatmeten Luft (mitunter der eingeatmeten), um sie zum Tönen zu bringen.