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Sprache ist Gedächtnis

Viel wichtiger ist für unsere Anschauungsweise der Unterschied zwischen Wort- und Sachgedächtnis. Ich meine aber, daß ein bloßes Wortgedächtnis ohne Sachgedächtnis, wenn es überhaupt in so radikaler Trennung vorkäme, etwas Papageienhaftes hätte und aus der menschlichen Geistestätigkeit auszuscheiden wäre; ich meine, daß ein bloßes Sachgedächtnis ohne das zugehörige Wortgedächtnis eine krankhafte Erscheinung ist. (In diesem Zusammenhange ist natürlich nur vom Gedächtnis im engeren Sinne die Rede, vom Gehirngedächtnis; das Gedächtnis im weiteren Sinne, wie es bei der Bildung und im Leben der Organismen, bei der Bildung von Kristallen tätig ist, hat mit Sprache nichts zu tun; es wäre denn, daß auch für dieses Gedächtnis irgendwelche Gedächtniszeichen aufzuweisen wären, die man dann freilich wieder eine Sprache im weiteren Sinne nennen könnte.) Bei dem normalen Menschen ist Sach- und Wortgedächtnis aufs engste miteinander verbunden. Ja diese Verbindung ist eine bloße Tautologie, wenn ich mit der Behauptung recht habe, daß die Sprache oder der Wortschatz eines Menschen eben nichts anderes sei als sein individuelles Gedächtnis für seine Erfahrung. Die Sprache ist nichts als Gedächtnis, weil sie gar nichts anderes sein kann. Man hat viel darüber nachgesonnen, an welchen materiellen Veränderungen eigentlich das Gedächtnis des Menschengehirns hafte. Der Satz, daß die Sprache das Gedächtnis sei, gibt die Antwort, soweit eine Antwort sich eben geben laßt. Wir wissen, daß das Gedächtnis in jedem einzelnen Falle, für jede einzelne Vorstellung durch Übung erworben wird. Diese Übung, diese Bereitschaft der Nervenbahnen für die Verbindung bestimmter Vorstellungen ist eben an das Wort geknüpft und in den neuerdings beobachteten Bewegungsgefühlen besitzen wir zum ersten Male ein Korrelat zu den unzugänglichen Gehirnvorgängen. Dabei wollen wir nicht vergessen, daß die Sprache, auch die wissenschaftliche, uns vollkommen im Stiche läßt, sobald wir von ihr etwas über das Wesen des Gedächtnisses erfahren wollen. Wenn wir ein Gedicht aus dem Gedächtnisse hersagen, so erinnern wir uns vielleicht einzig und allein des Gartens und der Stunde, da die Verse auswendig gelernt wurden. (Vergl. auch: H. Bergson, Matière et mémoire.) Was da allein in der bewußten Erinnerung haften geblieben ist, stört leicht die Gedächtnisarbeit. Gedächtnis ist aber nur Arbeit, nur eine besondere Form von Arbeit, von Gehirnarbeit. So wie das Leben eine besondere Form von Arbeit ist. Die Frage nach dem Wesen des Lebens wird deshalb immer falsch gestellt, weil sie, die Frage, erst nach ihrer Lösung in Worte gefaßt werden könnte. Nun ist die Arbeit des Organismus, die wir Leben nennen, wieder nicht ohne das unbewußte Gedächtnis des Organismus zu erklären. Leben ist Gedächtnis (im weiteren Sinne) ohne Hilfszeichen; Gedächtnis (im engeren Sinne) ist an Hilfszeichen gebunden, an Sinnesempfindungen, gern an Worte. Und mit den Worten unserer Sprache tappen wir bei diesen Untersuchungen um das Wort Gedächtnis herum wie um etwas Fremdes. So tappen Säuglinge nach ihren Füßchen und wissen nicht, wie diese Füßchen zu ihrem Ich gehören.

Auch ohne Kenntnis dieser Verbindung von Sprache und Gedächtnis würden wir ja das Wesen der Sprache darin auffinden können, daß es uns (wenn nicht im Gegensatze, so doch in außerordentlichem Vorteil zu den Tieren) unabhängig macht von der greifbaren Gegenwart der Wirklichkeitswelt, daß wir uns die abwesende Wirklichkeitswelt, also die Welt der Vergangenheit und der Zukunft oder auch nur die örtlich entfernte Welt, mehr oder weniger vorstellen und zu ihr Stellung nehmen können. Darin besteht das Wesen des menschlichen Denkens oder der menschlichen Sprache. Auch die Tiere ergreifen geistigen Besitz von der Außenwelt, indem sie auf bestimmte Dinge oder Tatsachen ihre Aufmerksamkeit richten. Nur daß der höherstehende Mensch auf unendlich mehr Tatsachen aufmerkt und sie sich für die Dauer unendlich besser merkt.