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Stilles Denken

Wie Sehen und Greifen, so mögen auch Hören und Sprechen nur die beiden Richtungen eines und desselben Bewegungswunders sein. Es sind ja doch nur die beiden Richtungen der Sprache, die wir als das Gedächtnis oder Bewußtsein (nicht als ein Produkt des Bewußtseins oder Gedächtnisses) erkannt haben. Und da die Sprache oder die Wortmasse nichts ist, als eben das Gedächtnis oder die Masse, oder die Summe, oder das System von Erinnerungszeichen, und da die Erinnerungszeichen oder Nervengleise gar nichts anderes sein können als die Bewegungen in den Nerven, welche zu diesen Nervengleisen werden, so ist es wieder einmal ein tautologischer Satz, zu sagen: Die Worte der Sprache sind Bewegungserinnerungen.

Und wieder: so logisch, d. h. ja eben tautologisch, dieser Satz aus dem Bekannten hervorging, er konnte dennoch nicht erschlossen oder ausgesprochen werden, bevor er nicht als eine Beobachtung oder Selbstbeobachtung vorlag. Stricker (Studien über die Sprachvorstellungen) hat solche Selbstbeobachtungen darüber, daß Sprachvorstellungen immer motorische Vorstellungen sind, gesammelt, und ich will hier vereinigen, nicht was er lehrt, sondern was ich aus seinem Buche gelernt habe. Ich werde auch seine Ausdrucksweise verlassen müssen, weil ich manche eigene Beobachtung hinzufügen will und das Beobachtete anders nennen möchte.

Man sagt gewöhnlich, man könne denken, ohne zu sprechen. Versteht man darunter, man könne denken, ohne laut zu sprechen, so ist der Fehler geringer, als wenn man glaubt, ganz und gar ohne Worte denken zu können. Genauere Selbstbeobachtung zeigt jedoch, daß man auch das stille Denken nicht ohne wahrnehmbare, fühlbare Wortartikulationen vollziehen kann.

Wenn wir bei gespannter Aufmerksamkeit — in ruhender Lage und mit geschlossenen Augen — eine Melodie ohne Worte deutlich vorstellen, so empfinden wir begleitende Bewegungen im Kehlkopf; wenn wir ebenso einen bekannten Vers oder einen eben neu gebildeten Satz deutlich (tonlos) vorstellen, so empfinden wir begleitende Bewegungen genau in denjenigen Teilen unserer Artikulationsorgane, die sich beim lauten Sprechen sichtbarlich bewegen.

Ich bemerke sogleich, daß diese Bewegungen stark genug sind, um unter Umständen auch an Anderen wahrgenommen werden zu können, sowie auch vom Experimentator an sich selbst durch den Tastsinn. Zwischen dem lauten Sprechen und dem ganz unfühlbaren stummen Denken gibt es viele Abstufungen.

Mein beweisendes Experiment ist sehr einfach. Wenn ich meine Finger fest an die Knorpeln über dem Kehlkopf lege (mir oder einem anderen) und der Kopf, der zu dem Kehlkopf gehört, sehr distinkt Worte oder einzelne Laute vorstellt, so kann ich mit den Fingerspitzen die Bewegungen einzelner Konsonanten unterscheiden. Besonders ausgezeichnet sind G und R. Ich glaube, daß sehr feinfühlige Menschen mit den Fingerspitzen wirklich Gedanken lesen könnten, so wie doch auch Taube von den Lippen die Worte lesen, trotzdem nur wenige Laute mit den Lippen hervorgebracht werden.

Es gibt, wie gesagt, Abstufungen in der Stärke des Lautvorstellens, wie in der Stärke des Sprechens. Der Übergang vom stärksten stillen Denken zum noch so leisen Sprechen ist allerdings ein plötzlicher, aber doch nur durch den Hinzutritt des Atems, des Schallerzeugers. Die Bewegungen der Artikulationsorgane werden unmerklich stärker, wie man sehr gut bei den Vokalen O und I beobachten kann.

Wenn nun das Denken der Laute so schwach wird, daß es mit dem tastenden Finger nicht mehr wahrzunehmen ist, dann fühlt die Selbstbeobachtung immer noch die Innervation der Sprachorgane.

Es scheint nicht zu kühn, aus diesen Abstufungen zu schließen (nicht logisch, deduktiv, sondern induktiv, als wahrscheinlich zu schließen), daß auch die ganz leisen Lautvorstellungen von ebenso leisen, unbewußten Bewegungserscheinungen begleitet werden.

Solange also das stumme Denken nicht bis zu dieser Unmerkbarkeit herabgesunken ist, so lange fühlen wir bei der nötigen Aufmerksamkeit und Übung jeden Laut an sein bestimmtes Bewegungsgefühl in den Sprachwerkzeugen gebunden, und zwar sowohl die Konsonanten als die Vokale. Wir haben dieses Gefühl bei B in den Lippen, in beiden, bei M oder P ebenfalls in den Lippen, aber anders, immer genau so wie beim lauten Aussprechen. Bei G und K haben wir dieses Gefühl in der Zunge, nicht zugleich im Gaumen, nicht in den Zähnen. Wir fühlen die Laute eben immer in den beweglichen Teilen, in den Muskeln, mit denen wir die Laute hervorbringen.

Wir knüpfen also beim Denken unsere Wortvorstellungen nicht, wie die Volksmeinung sagt, an den Schall der Stimme, sondern an die Bewegungen unserer Sprachmuskeln. Dafür spricht auch der Umstand, daß wir uns gewöhnlich nicht an die Stimme erinnern, die einen Satz gesprochen hat, sondern an den Satz selbst; an die Stimme nur dann, wie ich beobachtet habe, wenn sie ungewöhnlich genug war, um unsere Werkzeuge zur Nachahmung zu reizen. Da auch mit Schriftzügen (Gesichtsvorstellungen) das Denken nur ganz ausnahmsweise assoziiert ist, so darf man allgemein aussprechen, das Denken sei nicht an Wahrnehmungen der Sinne geknüpft, sondern an Bewegungsgefühle.

Wenn nun auch die Befunde bei Leichen von Sprachkranken (an Aphasie Leidenden), ebenso die Vivisektionen an Affen u. s. w. nur mit äußerster Vorsicht zur Beurteilung gesunder Menschengehirne zu verwerten sind, so scheint doch aus den Forschungen von Broca, Hitzig, Ferrier und Munk hervorzugehen, daß die Lähmungen, welche Aphasie erzeugen, nicht Zerstörungen der Sinnesorgane, sondern solche des sogenannten Willens oder eines Bewegungszentrums sind; daß also die Fähigkeit der Sprache durch Bewegungsstörungen vernichtet wird, daß also Sprache oder Denken nichts anderes ist als Bewegungsbewußtsein, d. h. für mich Bewegungserinnerung. Dafür spricht nebenher auch die Tatsache, daß wir einen Laut nicht dauernd (in der Vorstellung) festhalten können, so wenig als laut sprechend; hier muß der Atem, dort die Bewegungsvorstellung immer aufs neue einsetzen.