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Bewußtes Denken

Der gelehrte Logiker unterscheidet gern das laienhafte natürliche Denken vom eigentlichen, vom bewußten Denken. Für mich ist auch Selbstbewußtsein identisch mit Erinnerung, einer unerklärten Tatsache, die Hering eine Funktion der organischen Materie genannt hat, ohne sie dadurch besser zu erklären. Erinnerung ist in jedem Organismus. Wenn ich kaum geboren zu atmen beginne, so ist diese ganze Bewegungskomplikation ererbte Erinnerung der Muskeln und Nerven. Wenn der Klavierspieler mit Sicherheit ein Stück zu Gehör bringt, so arbeitet der ganze Mechanismus vom Gehörzentrum (mitunter auch ohne Gehörzentrum) bis zu den Fingerspitzen nach geübter Erinnerung. Diese beiden Erinnerungsarten, die Erinnerung der Gattung oder der Instinkt, und die Erinnerung der Übung oder die Fertigkeit, sind nicht bewußte Erinnerungen, mögen sie nun vom Rückenmark oder von einer Gehirnprovinz ressortieren.

Das bewußte Denken, soweit es eines gibt, hat nun die Eigentümlichkeit, daß das Gehirn sich an sein Erinnern erinnert. Die Muskeln und Nerven, die das Atmen und das Klavierspielen machen, sind offenbar autonom. Sie wechseln mit der Zentrale keine Schriftstücke. Wie sie das anfangen, um dennoch nicht anarchisch zu werden, und wie sie in ihrer engeren Verwaltung ohne Sprache fertig werden, das ist ihre Sache. Das Wesen der Zentrale liegt darin, daß sie von allen Vorgängen der Dezentralisation dennoch Kenntnis hat, und ihrer eigenen Denktätigkeit zuschauen, sich selbst über die Achsel schauen kann, wozu oder wovon der Kopf bedenklich verdreht werden muß.

Bewußtes Denken ist also wahrnehmbare Erinnerung. Das Unfaßbare dieses Vorgangs wird vielleicht heller, wenn wir beachten, daß auch beim Sehen eine Bewegung vorausgeht, die doch eigentlich das Sehen voraussetzt. Wir bewegen unsere Augäpfel so lange hin und her, bis das Bild des Gegenstandes, den wir zu unserem Vorteil prüfen wollen, auf die Netzhautstelle des deutlichsten Sehens fällt. Wir fangen also die Beute in der Sehgrube ein, und wir lassen sie wieder laufen, wenn sie uns nicht wertvoll scheint. Dem deutlichen Sehen geht ein nebelhaftes Bemerken voraus. Was demnach unsere Augäpfel in Bewegung setzt, kann also noch gar nicht eine der Nebenmaschinen des Sehzentrums sein, sondern unser Interesse, welches das Instrument regiert. So mag es auch unser Interesse sein, der Hund Vorteil, welcher unser Gehirn bei seiner Erinnerungsjagd bewacht und den Schein erweckt, als könnten wir uns selbst über die Achsel schauen. Der Wachtdienst unseres hungrigen Interesses mag auch das tiefste Rätsel des Denkens, wenn nicht erklären, so doch zu Wort bringen, was ja bei Rätseln für uns Kinder genügt.

Es ist seit mehr als hundert Jahren für die Schüler der älteren Engländer und Kants ausgemacht, daß es keine Brücke gibt von unserem Denken zur Wirklichkeit, vom Subjekt zum Objekt, vom Ich zur Welt. Was immer wir von der Wirklichkeit wissen, die Bewegung der Sterne und das Gewicht eines Mehlsacks, die Geschichte Persiens und die Nässe dieses Wassertropfens, alles wissen wir gleich indirekt durch unser Sprechen oder Denken, also nur subjektiv. Ob dieser Wassertropfen oder dieser Mehlsack in der Welt an sich, d. h. außerhalb unseres Kopfes mit unseren Vorstellungen identisch oder irgendwie ähnlich sei, das zu wissen haben wir niemals ein anderes Mittel als unser Denken. Denn selbst den verhältnismäßig unmittelbarsten Eindruck lernen wir erst als Nervenerregung kennen. So mußte die Metaphysik einmal zu der verzweifelten Anschauung Berkeleys kommen, welcher in all seiner Gottgläubigkeit an die Existenz der Welt nicht mehr glaubte. Das Denken konnte ihn nicht belehren, denn es liefert keine Kontrolle der Wirklichkeit. Wohl aber besitzen wir eine solche in unserem hungrigen Interesse. Wenn wir das Bild einer Sache wahrnehmen und dieses Bild auf dem Umwege des Wortdenkens unseren Willen beeinflußt, so daß unser Wille tätig nach diesem Ding reflektiert und der Wille danach befriedigt ist, so wird wohl das Ding irgendwie wirklich gewesen sein. Deutsch gesprochen: Wenn wir ein Brot sehen, danach langen, es fressen und dadurch unseren Hunger stillen, so wird es wohl Nahrung gewesen sein. Die Befriedigung unseres Interesses garantiert für die Wirklichkeit. Und der Fabelhund, der das wirkliche Stück Fleisch fallen ließ, um nach dem Spiegelbilde zu schnappen, war nicht der gesunde Hund des wachthabenden Interesses, sondern ein idealistischer Hundephilosoph.

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