Gedächtnis und Bewußtsein
Emanzipieren wir uns also für einen Augenblick von unserem Sprachgebrauch, auch dem sogenannten wissenschaftlichen Sprachgebrauch, wie man sich jedesmal vom Sprachgebrauche der Gegenwart emanzipieren muß, wenn man auch nur um Haaresbreite über das Begreifen der Gegenwart hinausgelangen will. Wir haben dann meines Erachtens die Stellung entdeckt, welche die Sprache als Mittelglied zwischen dem Gedächtnis und dem Bewußtsein einnimmt. Die beiden Abstraktionen Gedächtnis und Bewußtsein bezeichnen für unseren kritischen Standpunkt ein und dieselbe Tatsache; Erinnerungen sind nur Tatsachen des Bewußtseins, Bewußt-seinszustände sind nur Tatsachen des Gedächtnisses. Was wir als ein Ich kennen, dürfen wir mit gleichem Rechte die Kontinuität des Gedächtnisses, wie die Kontinuität des Bewußtseins nennen. Aber je nachdem wir unsere Aufmerksamkeit mehr auf das Zurückerinnern oder mehr auf den augenblicklichen Bewußtseinsinhalt lenken, erscheint uns bald das Gedächtnis, bald das Bewußtsein als der höhere Begriff, der den anderen mit umfaßt. Bald ist das Gedächtnis der höhere Begriff, der einerseits das gesamte bewußte Denken, anderseits alles unbewußte Seelenleben mit seinen Instinkten, und automatischen Gewohnheiten bezeichnet; bald ist das Bewußtsein der höhere Begriff, der einerseits alles noch irgend bewußte Gedächtniswerk umfaßt, anderseits alle die täglich neuen Erfahrungen, welche noch nicht in das Gedächtnis eingetreten sind. Wobei nicht zu übersehen ist, daß nur derjenige Inhalt unseres Bewußtseins, der vom Gedächtnisse apperzipiert wird, für unser geistiges Leben Bedeutung hat. Es scheint mir nun gewiß zu sein, daß diese beiden schwebenden Begriffe in der Sprache allein ihren Halt haben. Alles ganz oder halb bewußte Gedächtnis des Menschengeschlechts bis herab zum letzen Individuum ist in der Individualsprache jedes einzelnen Menschen niedergelegt, und zum Bewußtsein kommt jedem Einzelmenschen, in den hellen Blickpunkt des Bewußtseins tritt nur, was sich mit Worten ausdrücken läßt. Und in der menschlichen Sprache liegt zugleich das ewige Bestreben, Gedächtnis und Bewußtsein zu versöhnen. Nämlich so: wenn man auf der höchsten Stufe des uns bis jetzt möglichen Vorstellens unterscheiden will zwischen Gedächtnis und Bewußtsein, so muß man sagen, daß das Bewußtsein die martervollsten und übermenschlichsten Anstrengungen macht, sich von der Herrschaft der Instinkte zu befreien und jedem neuen Eindrucke gegenüber frei, d. h. von der Entwicklungsgeschichte unabhängig die Überlegenheit des Individuums zu behaupten, das Ich der zwingenden Umwelt frei gegenüberzusetzen; daß das Gedächtnis die unabweisbare Tendenz hat, durch Einübung der Aktionen, in welchen alle Erinnerungen bestehen, automatisch, d. h. instinktiv zu werden. Gedächtnis und Bewußtsein aber müssen sich an die Sprache klammern. Die Sprache nun ist der instinktive Teil unseres Denkens oder Gedächtnisses und der unbewußte instinktive Teil des Bewußtseins. Das Denken muß entarten, muß sich vom jeweiligen Sprachgebrauch emanzipieren, wenn es als stolzes Selbstbewußtsein über das Gedächtnis hinausgelangen will.