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Hörbare Sprache

Ich knüpfe daran einen vorläufig ganz wertlosen Einfall, eine Begriffsspielerei, wenn man will, oder eine Hypothese, wenn man anders will. Man hat gegenüber dem Gesichtssinne, der nicht nur Farben und Formen liefert, sondern zugleich auch nach allen Richtungen im Räume orientiert, also dem Raumsinne gegenüber, das Gehör den Zeitsinn genannt, weil nichts so geeignet ist, uns die Zeit ohne Werkzeuge messen zu lassen, wie die Vergleichung rhythmisch wiederkehrender Töne. Aber diese Orientierung in der Zeit durch das Gehör ist nur auf eine Gegenwart, auf eine dauernde Gegenwart beschränkt; das Gedächtnis spielt ein wenig mit, aber was wir eigentlich hören, ist nicht Vergangenheit oder Zukunft, sondern die gewissermaßen gegenwärtige, rhythmisch vorüberrauschende Zeit selbst. Da scheint es mir denn sehr bemerkenswert, daß die Orientierung in der eigentlichen Vergangenheit und Zukunft erst durch Begriffe oder Worte erfolgt und daß diese Worte hörbare Zeichen sind. Es hätte vielleicht auch anders kommen können; die Sprache oder das Gesamtgedächtnis unserer Zufallssinne hätte vielleicht auch an andere als hörbare Zeichen geknüpft sein können. Aber es gehört zu den vielen schon beobachteten Zügen unserer Sprache nun auch der, daß sie durch ihre Hörbarkeit die Orientierung in der Zeit erleichtern mag und so besser als jede andere Sprache dem einzigen Nutzen dienen kann, den uns das Denken gewährt: Verstehen der Vergangenheit und Erwarten der Zukunft. Wie dem auch sei, das Zeitmoment wird einerseits sehr leicht zu einem Nebenobjekt der Einzelerinnerung und wird anderseits im bewußten Denken ein Ergebnis aus Worten, in denen sich die Erinnerungen an sich zeitlos als Begriffe gesammelt haben.

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