Unbewußtes Gedächtnis
Seit Jahren und lange vor E. v. Hartmann ist gesagt worden, daß das Gedächtnis von unbewußten Vorstellungen geleitet werde. Die einfache Tatsache, daß der Schläfer von selbst in der Stunde aufwacht, zu der er aufstehen wollte. mußte auf die Beobachtung eines Vorganges führen, welcher übrigens nicht die Ausnahme, sondern nur die Regel ist.
Hier, wo das Bewußtsein nur ein flausenhafter anderer Ausdruck für Gedächtnis ist, braucht das "Unbewußte" gar nicht besonders genannt zu werden. Was augenblicklich nicht im Blickfeld des Gedächtnisses ist, ist eben zur selben Zeit nicht im Bewußtsein; also von allen unseren unzähligen Vorstellungen ist immer nur eine oder eine Gruppe bewußt, alle anderen schweben im "Unbewußten"; was aber ebensowenig merkwürdig ist, als daß ein Esser immer nur einen Bissen auf einmal im Munde hat. Ein zweiter Bissen ist bereits im Magen, ein dritter auf der Gabel, ein vierter wird beliebäugelt und die Hauptmasse liegt in der Schüssel.
Viel merkwürdiger ist es aber, und doch auch eine ganz alltägliche Tatsache, daß unsere Gabel des Gedächtnisses auf eine bestimmte Zeit, wie durch ein Uhrwerk, eingestellt werden kann. Die Beispiele lassen sich hundertfältig aufzählen.
Ich schließe ein Buch und merke mir die Seitenzahl, da ich kein Eselsohr machen will; bis zum nächsten öffnen des Buches, also ein paar Stunden oder Tage, merke ich mir die Ziffer durch alle Ablenkungen des Lebens hindurch; habe ich aber die Seite wieder aufgeschlagen, ist die Zifier bald für immer vergessen.
Ich gehe baden und merke mir ganz ohne Anstrengung die Nummer meiner Kabine; ich finde sie gedankenlos wieder und habe sofort die Nummer vergessen, nachdem das Gedächtnis seinen Dienst getan hat.
Ich bin auf der Straßenbahn abonniert und weiß meine Nummer, eine vier- oder fünfstellige Zahl. Im nächsten Vierteljahr erhalte ich meine neue Nummer; nach kurzer Zeit ist die alte vergessen, die ich ein Vierteljahr mechanisch eingeübt hatte.
Dahin gehört auch der häufige Fall, daß ein Kind für eine Schulprüfung sehr rasch ein Gedicht auswendig lernt, die Sache auch zur Stunde gut aufzusagen weiß, sie aber nachher sofort wieder vergißt.
Wollte ich nicht ganz ehrlich sein, so würde ich zur Erklärung von der hygienischen Notwendigeit des Vergessens und von der Macht des Bedürfnisses über die Seele reden. Davon später. Die Frage liegt hier etwas anders: Da es außer dem Gedächtnisse keine Seele, kein Bewußtsein gibt, da das Gedächtnis auch nichts ist als ein Wortzeichen eben für die Fülle von Wortzeichen, so möchten wir wissen, wer oder was unser Gedächtnis in solchen Fällen so lange und nur gerade so lange in Spannung hält, als wir es brauchen.
Vor allem ist da auf kleine Selbsttäuschungen aufmerksam zu machen. Erstens geschieht das Merken für kurze Zeit nicht so plötzlich, wie es scheint. Wie der Knabe vor der Prüfung sein Gedicht (oder der Schauspieler seine allzu rasch gelernte Rolle) immer wieder halb bewußt wiederholt. so mögen wir auch — je nach der Wichtigkeit der Sache — die Nummern oder Ziffern öfter wiederholen und so gewissermaßen nicht auswendig lernen, sondern uns gegenwärtig halten. So daß sie eben nicht mehr gemerkt wird, wenn das Unbewußt-gegenwärtig-halten aufhört. Ich habe mich öfter darauf ertappt, solche erledigte Zifferworte noch festgehalten zu haben, aus Zerstreutheit. Bemerkt man es, so wirft man das Wort aus seinem Gedächtnisse (es sind außer Ziffern sehr häufig Namen, Straßennummern, die Adressen von Bekannten), wie man ein benutztes Pferdebahnbillett fortwirft. Oder noch besser: wie man in der Theatergarderobe die Nummer gegen seinen Überrock austauscht.
Zweitens aber glauben wir das Wort nach der Benutzungsfrist sofort zu vergessen, weil wir niemals mehr darauf zurückkommen, weil wir aufhören, es täglich oder stündlich einzuüben. Mit der Zeit entschwindet es auch für immer. Ich weiß heute nicht einmal mehr, welche Zimmernummer ich vor Jahren in Fonterossa hatte. Aber wenn ein Zufall uns z. B. zum Umkehren in die Badekabine zwingen würde, so fänden wir die Nummer wohl nach einiger Zeit im Gedächtnisse vor. Ich ließ einmal eine Droschke am Bahnhof warten; halb bewußt merkte ich mir (für wenige Minuten) die (vierstellige) Nummer. Einige Stunden darauf hieß es: die Droschke wiederfinden. Es war etwas darin vergessen worden. Ich hielt es zuerst für unmöglich, mich auf die Ziffer zu besinnen, endlich aber gelang es doch.
Zieht man also diese Selbsttäuschungen ab, so bleibt keine andere Schwierigkeit übrig als die alles Lebens: wie ist es möglich, daß ein Organismus existiert, daß so ein Automat sich selbst bildet und gewöhnlich seinem Nutzen gemäß arbeitet? Wie der Magen und das Herz und die Galle, so arbeitet auch das Gehirn "zweckmäßig" für den Nutzen des Ganzen. Das ist das Geheimnis des Bewußtseins und wir erschweren es uns dadurch, daß wir in der Sucht nach Personifikationen das Produkt des Gehirnes mit dem Götternamen Gedächtnis belegt haben, daß wir für die Einheit und den Zusammenhang der Vorstellungen den anderen Götternamen Seele haben, und nun — anstatt uns über das Phänomen des Lebens ein für allemal satt zu wundern — über jede Verwandtschaft zwischen Seele und Gedächtnis aufs neue in Verwunderung geraten. Nicht daß "Hand" auf französisch "main" heißt, ist merkwürdig, sondern die wirkliche Hand ist wunderbar.
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